Vertaalproject van de 342 aforismen/gedachten
(verdeeld over vier boeken) van de eerste editie, 1882. Het vijfde
boek en de liederen van Prins Vogelvrij heb ik
weggelaten (want pas in 1887 toegevoegd bij een heruitgave): Hoe, wat,
waarom, kunt u lezen in deze korte toelichting .
Ook zult u tevergeefs zoeken naar een vertaling van de 'Reimen '
en 'Lieder ' waarmee het boek opent. Gedichten vertalen kan
ik niet.
Gebruiksaanwijzing: Alle gedachten (aforismen) zijn
door Nietzsche genummerd en van een titel voorzien. Via de
onderstaande inhoudsopgave kunt u die vinden. Is de titel ook in het Nederlands
vermeld, dan is er een vertaling toegevoegd.
Shortcut: vertaald zijn: 1 , 25 , 37 , 41 , 63 , 68 , 78 , 108 , 112 , 125 , 126 ,
137 , 140 , 141 ,
142 , 151 ,173 ,
276 , 277 , 278 ,
279 , 280 , 281 ,
282 , 297 , 298 ,
299 , 300 , 310 ,
312 , 315 , 316 ,
319 , 321 , 324 ,
327 , 342
Inhoudsopgave
(click to expand)
Erstes Buch §
Zweites Buch §
Drittes Buch §
Viertes Buch. Sanctus Januarius §
1.
Die Lehrer vom Zwecke des Daseins —
Ich mag nun mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen sehen,
ich finde sie immer bei Einer Aufgabe, Alle und jeden Einzelnen in
Sonderheit: Das zu thun, was der Erhaltung der menschlichen
Gattung frommt. Und zwar wahrlich nicht aus einem Gefühl der Liebe
für diese Gattung, sondern einfach, weil Nichts in ihnen älter,
stärker, unerbittlicher, unüberwindlicher ist, als jener Instinct,
— weil dieser Instinct eben das
Wesen unserer Art und Heerde ist. Ob man schon
schnell genug mit der üblichen Kurzsichtigkeit auf fünf Schritt
hin seine Nächsten säuberlich in nützliche und schädliche, gute
und böse Menschen auseinander zu thun pflegt, bei einer Abrechnung
im Grossen, bei einem längeren Nachdenken über das Ganze wird man
gegen dieses Säubern und Auseinanderthun misstrauisch und lässt es
endlich sein. Auch der schädlichste Mensch ist vielleicht immer
noch der allernützlichste, in Hinsicht auf die Erhaltung der Art;
denn er unterhält bei sich oder, durch seine Wirkung, bei Anderen
Triebe, ohne we lche die Menschheit längst erschlafft oder
verfault wäre. Der Hass, die Schadenfreude, die Raub- und
Herrschsucht und was Alles sonst böse genannt wird: es gehört zu der
erstaunlichen Oekonomie der Arterhaltung, freilich zu einer
kostspieligen, verschwenderischen und im Ganzen höchst thörichten
Oekonomie: — welche aber bewiesener Maassen unser Geschlecht bisher
erhalten hat. Ich weiss nicht mehr, ob du, mein lieber Mitmensch und
Nächster, überhaupt zu Ungunsten der Art, also „unvernünftig“ und
„schlecht“ leben kannst; Das, was der Art hätte schaden können, ist
vielleicht seit vielen Jahrtausenden schon ausgestorben und gehört
jetzt zu den Dingen, die selbst bei Gott nicht mehr möglich sind.
Hänge deinen besten oder deinen schlechtesten Begierden nach
und vor Allem: geh’ zu Grunde! — in Beidem bist du wahrscheinlich
immer noch irgendwie der Förderer und Wohlthäter der Menschheit
und darfst dir daraufhin deine Lobredner halten — und ebenso deine
Spötter! Aber du wirst nie den finden, der dich, den Einzelnen,
auch in deinem Besten ganz zu verspotten verstünde, der deine
grenzenlose Fliegen- und Frosch-Armseligkeit dir so genügend, wie
es sich mit der Wahrheit vertrüge, zu Gemüthe führen könnte! Ueber
sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus
der ganzen Wahrheit heraus zu lachen, — dazu hatten
bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten
viel zu wenig Genie! Es giebt vielleicht auch für das Lachen noch
eine Zukunft! Dann, wenn der Satz „die Art ist Alles, Einer ist
immer Keiner“ — sich der Menschheit einverleibt hat und Jedem
jederzeit der Zugang zu dieser letzten Befreiung und
Unverantwortlichkeit offen steht. Vielleicht wird sich dann das
Lachen mit der Weisheit verbündet haben, vielleicht giebt es dann
nur noch „fröhliche Wissenschaft“. Einstweilen ist es noch ganz
anders, einstweilen ist die Komödie des Daseins sich selber noch
nicht „bewusst geworden“, einstweilen ist es immer noch die Zeit
der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen. Was bedeutet
das immer neue Erscheinen jener Stifter der Moralen und
Religionen, jener Urheber des Kampfes um sittliche Schätzungen,
jener Lehrer der Gewissensbisse und der Religionskriege? Was
bedeuten diese Helden auf dieser Bühne? Denn es waren bisher die
Helden derselben, und alles Uebrige, zeitweilig allein Sichtbare
und Allzunahe, hat immer nur zur Vorbereitung dieser Helden
gedient, sei es als Maschinerie und Coulisse oder in der Rolle von
Vertrauten und Kammerdienern. (Die Poeten zum Beispiel waren immer
die Kammerdiener irgend einer Moral.) — Es versteht sich von
selber, dass auch diese Tragöden im Interesse der Art arbeiten, wenn sie auch glauben
mögen, im Interesse Gottes und als Sendlinge Gottes zu arbeiten.
Auch sie fördern das Leben der Gattung, indem
sie den Glauben an das Leben fördern . „Es ist werth
zu leben — so ruft ein Jeder von ihnen — es hat Etwas auf sich mit
diesem Leben, das Leben hat Etwas hinter sich, unter sich, nehmt
euch in Acht!“ Jener Trieb, welcher in den höchsten und gemeinsten
Menschen gleichmässig waltet, der Trieb der Arterhaltung, bricht
von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geistes hervor;
er hat dann ein glänzendes Gefolge von Gründen um sich und will
mit aller Gewalt vergessen machen, dass er im Grunde Trieb,
Instinct, Thorheit, Grundlosigkeit ist. Das Leben soll geliebt werden, denn !
Der Mensch soll sich
und seinen Nächsten fördern, denn !
Und wie alle diese Soll’s und Denn’s heissen und in Zukunft noch
heissen mögen! Damit Das, was nothwendig und immer, von sich aus
und ohne allen Zweck geschieht, von jetzt an auf einen Zweck hin
gethan erscheine und dem Menschen als Vernunft und letztes Gebot
einleuchte, — dazu tritt der ethische Lehrer auf, als der Lehrer
vom Zweck des Daseins; dazu erfindet er ein zweites und anderes
Dasein und hebt mittelst seiner neuen Mechanik dieses alte gemeine
Dasein aus seinen alten gemeinen Angeln. Ja! er will durchaus
nicht, dass wir über das Dasein lachen ,
noch auch über uns, — noch auch über ihn; für ihn ist Einer immer
Einer, etwas Erstes und Letztes und Ungeheures, für ihn giebt es
keine Art, keine Summen, keine Nullen. Wie thöricht und
schwärmerisch auch seine Erfindungen und Schätzungen sein mögen,
wie sehr er den Gang der Natur verkennt und ihre Bedingungen
verleugnet: — und alle Ethiken waren zeither bis zu dem Grade
thöricht und widernatürlich, dass an jeder von ihnen die
Menschheit zu Grunde gegangen sein würde, falls sie sich der
Menschheit bemächtigt hätte — immerhin! jedesmal wenn „der Held“
auf die Bühne trat, wurde etwas Neues erreicht, das schauerliche
Gegenstück des Lachens, jene tiefe Erschütterung vieler Einzelner
bei dem Gedanken: „ja, es ist werth zu leben! ja, ich bin werth zu
leben!“ — das Leben und ich und du und wir Alle einander wurden
uns wieder einmal für einige Zeit interessant .
— Es ist nicht zu leugnen, dass auf
die Dauer über jeden Einzelnen dieser grossen
Zwecklehrer bisher das Lachen und die Vernunft und die Natur Herr
geworden ist: die kurze Tragödie gieng schliesslich immer in die
ewige Komödie des Daseins über und zurück, und die „Wellen
unzähligen Gelächters“ — mit Aeschylus zu reden — müssen zuletzt
auch über den grössten dieser Tragöden noch hinwegschlagen. Aber
bei alle diesem corrigirenden Lachen ist im Ganzen doch durch
diess immer neue Erscheinen jener Lehrer vom Zweck des Daseins die
menschliche Natur verändert worden, — sie hat jetzt ein Bedürfniss
mehr, eben das Bedürfniss nach dem immer neuen Erscheinen solcher
Lehrer und Lehren vom „Zweck“. Der Mensch ist allmählich zu einem
phantastischen Thiere geworden, welches eine Existenz-Bedingung
mehr, als jedes andere Thier, zu erfüllen hat: der Mensch
muss von Zeit zu Zeit glauben, zu
wissen, warum er
existirt, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches
Zutrauen zu dem Leben! Ohne Glauben an die Vernunft
im Leben ! Und immer wieder wird von Zeit zu Zeit das
menschliche Geschlecht decretiren: „es giebt Etwas, über das
absolut nicht mehr gelacht werden darf!“ Und der vorsichtigste
Menschenfreund wird hinzufügen: „nicht nur das Lachen und die
fröhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner
erhabenen Unvernunft gehört unter die Mittel und Nothwendigkeiten
der Arterhaltung!“ — Und folglich! Folglich! Folglich! Oh versteht
ihr mich, meine Brüder? Versteht ihr dieses neue Gesetz der Ebbe
und Fluth? Auch wir haben unsere Zeit!
Zij die leren dat het bestaan een doel, een
zin heeft (fragmentarische vertaling)
Of ik nu met goedgunstige of boosaardige blik naar de mensen kijk —
ze zijn altijd, allemaal en zonder uitzondering, één en dezelfde
taak aan het uitvoeren, nl: Dat doen wat het voortbestaan van de
menselijke soort dient. En dat niet uit liefde voor deze soort, maar
eenvoudigweg omdat niets in hen ouder, sterker, onverbiddelijker is
dan dat instinct — dat instinct dat juist het wezen van
onze soort, onze kudde uitmaakt. Wat de soort had kunnen schaden, is
wellicht sinds vele millennia al uitgestorven — behoort tot de
dingen die zelfs voor God niet meer mogelijk zijn. [...]
Om/met zichzelf lachen, dat zou men moeten doen om zich uit de
volle waarheid te lachen! — Maar ja, tot op heden hebben
daartoe zelfs de besten niet genoeg waarheidszin gehad, en de
begaafdsten veel te weinig genie. Voor het lachen is vast nog een
mooie toekomst weggelegd, maar dan moet de stelling “de soort is
alles, de enkeling niets” de mensen zo eigen zijn geworden, dat
iedereen altijd kan grijpen naar deze ultieme daad van bevrijdende
onverantwoordelijkheid. Dan zal het lachen zich wellicht met de
wijsheid hebben verbonden. Dan zal er enkel nog 'vrolijke
wetenschap' zijn. Ondertussen is het nog anders. Dat het bestaan een
komedie is, daarvan is ze zichzelf nog niet bewust — het is nog
altijd het tijdperk van de tragedie, de tijd van moraal en religie.
Wat wil dat toch beduiden, dat er steeds weer nieuwe stichters van
moraal en geloof opduiken, uitvinders van gewetenswroeging en
heilige oorlogen? Wat betekenen die helden op dit toneel? Want tot
nu toe waren zij de helden ervan; al het overige — wat soms
zichtbaar was, of te dicht op de voorgrond stond — heeft altijd
alleen maar gediend om op de verschijning van deze helden voor te
bereiden, hetzij als machinerie en coulisse (techn.term.
voor 'toneelmechaniek en decorstukken'), hetzij in de rol van
vertrouwelingen en kamerdienaren. (De dichters zijn bijvoorbeeld
altijd de kamerdienaren van een of andere moraal geweest.) Het
spreekt voor zich dat ook deze treurspelacteurs in het belang van de
soort actief zijn — ook al geloven ze zelf graag dat ze
handelen in het belang van God, als zijn gezanten. Ook zij
bevorderen het leven van de soort, doordat zij het geloof in
het leven bevorderen . “Het is de moeite waard om te leven!” —
zo roept ieder van hen — “Het leven heeft betekenis, er steekt iets
in dit leven! Er zit iets achter, onder dit leven — neem u in acht!”
[...]
Opdat wat noodzakelijk en eeuwig, uit zichzelf en zonder doel
geschiedt, voortaan zou lijken te geschieden met een doel, en de
mens het als redelijlk en als hoogste gebod zou verstaan — daarvoor
komt nu de ethische leermeester op het toneel, de leermeester van de
zin van het bestaan. Hiervoor verzint hij een tweede, ander bestaan,
en tilt met zijn nieuwe mechaniek het oude, gewone leven uit zijn
gewone hengsels. Ja — hij wil volstrekt niet dat wij lachen
om het bestaan, netzomin als om onszelf, of om hem. [...] En telkens
als “de held” het toneel betrad, werd er iets nieuws bereikt — het
huiveringwekkende tegendeel van lachen: een diepe ontroering van
vele enkelingen bij die ene gedachte: “Ja, het is de moeite waard te
leven! Ja, ík ben het waard te leven!” — het leven en ik en jij en
wij allen tesamen werden weer enige tijd interessant, voor
onszelf. Het valt niet te ontkennen: op den duur is over
elk deze grote doel-leermeesters het lachen, de rede en de natuur
heer en meester geworden. De korte tragedie ging uiteindelijk altijd
over in de eeuwige komedie van het bestaan em viel daarin terug, en
“ontelbare lach-golven” — om met Aischylos te spreken — zullen
uiteindelij ook over de grootste van deze treurspelacteurs heenslaan.
Maar ondanks al dat corrigerende lachen is de menselijke natuur wél
veranderd: zij heeft er een behoefte bij gekregen — de behoefte aan
het steeds opnieuw verschijnen van zulke leermeesters van het “doel”
en de bijbehorende theorieën. De mens is gaandeweg een fantastisch
dier geworden, dat een bestaansvoorwaarde meer heeft dan elk ander
dier : de mens moet van tijd tot tijd geloven dat hij weet waarom
hij bestaat. Zijn soort kan niet gedijen zonder een periodiek
vertrouwen in het leven — zonder geloof aan de redelijkheid
van het leven ('Vernunft im Leben'). En telkens opnieuw zal
het menselijk geslacht besluiten: “Er is iets waarmee absoluut niet
meer gelachen mag worden!” En de voorzichtigste mensenvriend mens
zal toevoegen: “Niet alleen het lachen en de vrolijke wijsheid, maar
ook het tragische — met al zijn verheven onredelijkheid — behoort
tot de middelen en de noodzakelijkheden van het behoud van de
soort.”
En dus — dus — dus!
Begrijpt gij mij, mijn broeders?
Begrijpt gij deze nieuwe wet van eb en vloed?
Ook voor ons is er een tijd!
2.
Das intellectuale Gewissen. — Ich
mache immer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich ebenso
immer von Neuem gegen sie, ich will es nicht glauben, ob ich es
gleich mit Händen greife: den
Allermeisten fehlt das intellectuale Gewissen ; ja es
wollte mir oft scheinen, als ob man mit der Forderung eines
solchen in den volkreichsten Städten einsam wie in der Wüste sei.
Es sieht dich Jeder mit fremden Augen an und handhabt seine Wage
weiter, diess gut, jenes böse nennend; es macht Niemandem eine
Schamröthe, wenn du merken lässest, dass diese Gewichte nicht
vollwichtig sind, — es macht auch keine Empörung gegen dich:
vielleicht lacht man über deinen Zweifel. Ich will sagen:
die Allermeisten finden es nicht
verächtlich, diess oder jenes zu glauben und darnach zu leben,
ohne sich vorher der letzten und
sichersten Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne
sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben, —
die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu
diesen „Allermeisten“. Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit
und Genie, wenn der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im
Glauben und Urtheilen bei sich duldet, wenn das
Verlangen nach Gewissheit ihm nicht als die innerste
Begierde und tiefste Noth gilt, — als Das, was die höheren
Menschen von den niederen scheidet! Ich fand bei gewissen Frommen
einen Hass gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür: so
verrieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale
Gewissen! Aber inmitten dieser rerum concordia discors und der
ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins
stehen und nicht fragen ,
nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den
Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen —
das ist es, was ich als verächtlich
empfinde, und diese Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei
Jedermann suche: — irgend eine Narrheit überredet mich immer
wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. Es ist
meine Art von Ungerechtigkeit.
3.
Edel und Gemein. — Den gemeinen
Naturen erscheinen alle edlen, grossmüthigen Gefühle als
unzweckmässig und desshalb zu allererst als unglaubwürdig: sie
zwinkern mit den Augen, wenn sie von dergleichen hören, und
scheinen sagen zu wollen „es wird wohl irgend ein guter Vortheil
dabei sein, man kann nicht durch alle Wände sehen“: — sie sind
argwöhnisch gegen den Edlen, als ob er den Vortheil auf
Schleichwegen suche. Werden sie von der Abwesenheit selbstischer
Absichten und Gewinnste allzu deutlich überzeugt, so gilt ihnen
der Edle als eine Art von Narren: sie verachten ihn in seiner
Freude und lachen über den Glanz seiner Augen. „Wie kann man sich
darüber freuen im Nachtheil zu sein, wie kann man mit offnen Augen
in Nachtheil gerathen wollen! Es muss eine Krankheit der Vernunft
mit der edlen Affection verbunden sein“ — so denken sie und
blicken geringschätzig dabei: wie sie die Freude geringschätzen,
welche der Irrsinnige von seiner fixen Idee her hat. Die gemeine
Natur ist dadurch ausgezeichnet, dass sie ihren Vortheil
unverrückt im Auge behält und dass diess Denken an Zweck und
Vortheil selbst stärker, als die stärksten Triebe in ihr ist: sich
durch jene Triebe nicht zu unzweckmässigen Handlungen verleiten
lassen — das ist ihre Weisheit und ihr Selbstgefühl. Im Vergleich
mit ihr ist die höhere Natur die unvernünftigere :
— denn der Edle, Grossmüthige, Aufopfernde unterliegt in der That
seinen Trieben, und in seinen besten Augenblicken pausirt seine Vernunft. Ein Thier, das
mit Lebensgefahr seine Jungen beschützt oder in der Zeit der
Brunst dem Weibchen auch in den Tod folgt, denkt nicht an die
Gefahr und den Tod, seine Vernunft pausirt ebenfalls, weil die
Lust an seiner Brut oder an dem Weibchen und die Furcht, dieser
Lust beraubt zu werden es ganz beherrschen; es wird dümmer, als es
sonst ist, gleich dem Edlen und Grossmüthigen. Dieser besitzt
einige Lust- und Unlust-Gefühle in solcher Stärke, dass der
Intellect dagegen schweigen oder sich zu ihrem Dienste hergeben
muss: es tritt dann bei ihnen das Herz in den Kopf und man spricht
nunmehr von „Leidenschaft“. (Hier und da kommt auch wohl der
Gegensatz dazu und gleichsam die „Umkehrung der Leidenschaft“ vor,
zum Beispiel bei Fontenelle, dem Jemand einmal die Hand auf das
Herz legte, mit den Worten: „Was Sie da haben, mein Theuerster,
ist auch Gehirn“.) Die Unvernunft oder Quervernunft der
Leidenschaft ist es, die der Gemeine am Edlen verachtet, zumal
wenn diese sich auf Objecte richtet, deren Werth ihm ganz
phantastisch und willkürlich zu sein scheint. Er ärgert sich über
Den, welcher der Leidenschaft des Bauches unterliegt, aber er
begreift doch den Reiz, welcher hier den Tyrannen macht; aber er
begreift es nicht, wie man zum Beispiel einer Leidenschaft der
Erkenntniss zu Liebe seine Gesundheit und Ehre auf’s Spiel setzen
könne. Der Geschmack der höheren Natur richtet sich auf Ausnahmen,
auf Dinge, die gewöhnlich kalt lassen und keine Süssigkeit zu
haben scheinen; die höhere Natur hat ein singuläres Werthmaass.
Dazu ist sie meistens des Glaubens, nicht
ein singuläres Werthmaass in ihrer Idiosynkrasie des Geschmacks zu
haben, sie setzt vielmehr ihre Werthe und Unwerthe als die
überhaupt gültigen Werthe und Unwerthe an, und geräth damit in’s
Unverständliche und Unpraktische. Es ist sehr selten, dass eine
höhere Natur soviel Vernunft übrig behält, um Alltags-Menschen als
solche zu verstehen und zu behandeln: zu allermeist glaubt sie an
ihre Leidenschaft als an die verborgen gehaltene Leidenschaft
Aller und ist gerade in diesem Glauben voller Gluth und
Beredtsamkeit. Wenn nun solche Ausnahme-Menschen sich selber nicht
als Ausnahmen fühlen, wie sollten sie jemals die gemeinen Naturen
verstehen und die Regel billig abschätzen können! — und so reden
auch sie von der Thorheit, Zweckwidrigkeit und Phantasterei der
Menschheit, voller Verwunderung, wie toll die Welt laufe und warum
sie sich nicht zu dem bekennen wolle, was „ihr Noth thue“. — Diess
ist die ewige Ungerechtigkeit der Edlen.
4.
Das Arterhaltende. — Die stärksten
und bösesten Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten
vorwärts gebracht: sie entzündeten immer wieder die einschlafenden
Leidenschaften — alle geordnete Gesellschaft schläfert die
Leidenschaften ein —, sie weckten immer wieder den Sinn der
Vergleichung, des Widerspruchs, der Lust am Neuen, Gewagten,
Unerprobten, sie zwangen die Menschen, Meinungen gegen Meinungen,
Musterbilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den Waffen, mit
Umsturz der Grenzsteine, durch Verletzung der Pietäten zumeist:
aber auch durch neue Religionen und Moralen! Die selbe „Bosheit“
ist in jedem Lehrer und Prediger des Neuen ,
— welche einen Eroberer verrufen macht, wenn sie auch sich feiner
äussert, nicht sogleich die Muskeln in Bewegung setzt und eben
desshalb auch nicht so verrufen macht! Das Neue ist aber unter
allen Umständen das Böse ,
als Das, was erobern, die alten Grenzsteine und die alten Pietäten
umwerfen will; und nur das Alte ist das Gute! Die guten Menschen
jeder Zeit sind die, welche die alten Gedanken in die Tiefe graben
und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauer des Geistes. Aber
jedes Land wird endlich ausgenützt, und immer wieder muss die
Pflugschar des Bösen kommen. — Es giebt jetzt eine gründliche
Irrlehre der Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert
wird: nach ihr sind die Urtheile „gut“ und „böse“ die Aufsammlung
der Erfahrungen über „zweckmässig“ und „unzweckmässig“; nach ihr
ist das Gut-Genannte das Arterhaltende, das Bös-Genannte aber das
der Art Schädliche. In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in eben
so hohem Grade zweckmässig, arterhaltend und unentbehrlich wie die
guten: — nur ist ihre Function eine verschiedene.
5.
Unbedingte Pflichten. — Alle
Menschen, welche fühlen, dass sie die stärksten Worte und Klänge,
die beredtesten Gebärden und Stellungen nöthig haben, um
überhaupt zu wirken,
Revolutions-Politiker, Socialisten, Bussprediger mit und ohne
Christenthum, bei denen allen es keine halben Erfolge geben darf:
alle diese reden von „Pflichten“, und zwar immer von Pflichten mit
dem Charakter des Unbedingten — ohne solche hätten sie kein Recht
zu ihrem grossen Pathos: das wissen sie recht wohl! So greifen sie
nach Philosophieen der Moral, welche irgend einen kategorischen
Imperativ predigen, oder sie nehmen ein gutes Stück Religion in
sich hinein, wie diess zum Beispiel Mazzini gethan hat. Weil sie
wollen, dass ihnen unbedingt vertraut werde, haben sie zuerst
nöthig, dass sie sich selber unbedingt vertrauen, auf Grund irgend
eines letzten indiscutabeln und an sich erhabenen Gebotes, als
dessen Diener und Werkzeuge sie sich fühlen und ausgeben möchten.
Hier haben wir die natürlichsten und meistens sehr einflussreichen
Gegner der moralischen Aufklärung und Skepsis: aber sie sind
selten. Dagegen giebt es eine sehr umfängliche Classe dieser
Gegner überall dort, wo das Interesse die Unterwerfung lehrt,
während Ruf und Ehre die Unterwerfung zu verbieten scheinen. Wer
sich entwürdigt fühlt bei dem Gedanken, das Werkzeug
eines Fürsten oder einer Partei und Secte oder gar einer Geldmacht
zu sein, zum Beispiel als Abkömmling einer alten, stolzen Familie,
aber eben diess Werkzeug sein will oder sein muss, vor sich und
vor der Oeffentlichkeit, der hat pathetische Principien nöthig,
die man jederzeit in den Mund nehmen kann: — Principien eines
unbedingten Sollens, welchen man sich ohne Beschämung unterwerfen
und unterworfen zeigen darf. Alle feinere Servilität hält am
kategorischen Imperativ fest und ist der Todfeind Derer, welche
der Pflicht den unbedingten Charakter nehmen wollen: so fordert es
von ihnen der Anstand, und nicht nur der Anstand.
6.
Verlust an Würde. — Das Nachdenken
ist um all seine Würde der Form gekommen, man hat das Ceremoniell
und die feierliche Gebärde des Nachdenkens zum Gespött gemacht und
würde einen weisen Mann alten Stils nicht mehr aushalten. Wir
denken zu rasch, und unterwegs, und mitten im Gehen, mitten in
Geschäften aller Art, selbst wenn wir an das Ernsthafteste denken;
wir brauchen wenig Vorbereitung, selbst wenig Stille: — es ist,
als ob wir eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe
herumtrügen, welche selbst unter den ungünstigsten Umständen noch
arbeitet. Ehemals sah man es Jedem an, dass er einmal denken
wollte — es war wohl die Ausnahme! —, dass er jetzt weiser werden
wollte und sich auf einen Gedanken gefasst machte: man zog ein
Gesicht dazu, wie zu einem Gebet, und hielt den Schritt an; ja man
stand stundenlang auf der Strasse still, wenn der Gedanke „kam“ —
auf einem oder auf zwei Beinen. So war es „der Sache würdig“!
7.
Etwas für Arbeitsame. — Wer jetzt
aus den moralischen Dingen ein Studium machen will, eröffnet sich
ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen müssen
einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, Völker, grosse und
kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft und alle ihre
Werthschätzungen und Beleuchtungen der Dinge sollen an’s Licht
hinaus! Bisher hat alles Das, was dem Dasein Farbe gegeben hat,
noch keine Geschichte: oder wo gäbe es eine Geschichte der Liebe,
der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietät, der
Grausamkeit? Selbst eine vergleichende Geschichte des Rechtes,
oder auch nur der Strafe, fehlt bisher vollständig. Hat man schon
die verschiedene Eintheilung des Tages, die Folgen einer
regelmässigen Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand
der Forschung gemacht? Kennt man die moralischen Wirkungen der
Nahrungsmittel? Giebt es eine Philosophie der Ernährung? (Der
immer wieder losbrechende Lärm für und wider den Vegetarianismus
beweist schon, dass es noch keine solche Philosophie giebt!) Sind
die Erfahrungen über das Zusammenleben, zum Beispiel die
Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt? Ist die Dialektik der
Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die Sitten der Gelehrten,
der Kaufleute, Künstler, Handwerker, — haben sie schon ihre Denker
gefunden? Es ist so viel daran zu denken! Alles, was bis jetzt die
Menschen als ihre „Existenz-Bedingungen“ betrachtet haben, und
alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben an dieser Betrachtung,
— ist diess schon zu Ende erforscht? Allein die Beobachtung des
verschiedenen Wachsthums, welches die menschlichen Triebe je nach
dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und noch haben
könnten, giebt schon zu viel der Arbeit für den Arbeitsamsten; es
bedarf ganzer Geschlechter und planmässig zusammen arbeitender
Geschlechter von Gelehrten, um hier die Gesichtspuncte und das
Material zu erschöpfen. Das Selbe gilt von der Nachweisung der
Gründe für die Verschiedenheit des moralischen Klimas („ wesshalb leuchtet hier diese Sonne
eines moralischen Grundurtheils und Hauptwerthmessers — und dort
jene?“). Und wieder eine neue Arbeit ist es, welche die
Irrthümlichkeit aller dieser Gründe und das ganze Wesen des
bisherigen moralischen Urtheils feststellt. Gesetzt, alle diese
Arbeiten seien gethan, so träte die heikeligste aller Fragen in
den Vordergrund, ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des
Handelns zu geben ,
nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten
kann — und dann würde ein Experimentiren am Platze sein, an dem
jede Art von Heroismus sich befriedigen könnte, ein Jahrhunderte
langes Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und
Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen
könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyklopen-Bauten noch
nicht gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen.
8.
Unbewusste Tugenden. — Alle
Eigenschaften eines Menschen, deren er sich bewusst ist — und
namentlich, wenn er deren Sichtbarkeit und Evidenz auch für seine
Umgebung voraussetzt — stehen unter ganz anderen Gesetzen der
Entwickelung, als jene Eigenschaften, welche ihm unbekannt oder
schlecht bekannt sind und die sich auch vor dem Auge des feineren
Beobachters durch ihre Feinheit verbergen und wie hinter das
Nichts zu verstecken wissen. So steht es mit den feinen Sculpturen
auf den Schuppen der Reptilien: es würde ein Irrthum sein, in
ihnen einen Schmuck oder eine Waffe zu vermuthen — denn man sieht
sie erst mit dem Mikroskop, also mit einem so künstlich
verschärften Auge, wie es ähnliche Thiere, für welche es etwa
Schmuck oder Waffe zu bedeuten hätte, nicht besitzen! Unsere
sichtbaren moralischen Qualitäten, und namentlich unsere sichtbar
geglaubten gehen ihren
Gang, — und die unsichtbaren ganz gleichnamigen, welche uns in
Hinsicht auf Andere weder Schmuck noch Waffe sind, gehen auch ihren Gang : einen ganz
anderen wahrscheinlich, und mit Linien und Feinheiten und
Sculpturen, welche vielleicht einem Gotte mit einem göttlichen
Mikroskope Vergnügen machen könnten. Wir haben zum Beispiel unsern
Fleiss, unsern Ehrgeiz, unsern Scharfsinn: alle Welt weiss darum
—, und ausserdem haben wir wahrscheinlich noch einmal unseren Fleiss, unseren
Ehrgeiz, unseren
Scharfsinn; aber für diese unsere Reptilien-Schuppen ist das
Mikroskop noch nicht erfunden! — Und hier werden die Freunde der
instinctiven Moralität sagen: „Bravo! Er hält wenigstens
unbewusste Tugenden für möglich, — das genügt uns!“ — Oh ihr
Genügsamen!
9.
Unsere Eruptionen. — Unzähliges,
was sich die Menschheit auf früheren Stufen aneignete, aber so
schwach und embryonisch, dass es Niemand als angeeignet
wahrzunehmen wusste, stösst plötzlich, lange darauf, vielleicht
nach Jahrhunderten, an’s Licht: es ist inzwischen stark und reif
geworden. Manchen Zeitaltern scheint diess oder jenes Talent,
diese oder jene Tugend ganz zu fehlen, wie manchen Menschen: aber
man warte nur bis auf die Enkel und Enkelskinder, wenn man Zeit
hat, zu warten, — sie bringen das Innere ihrer Grossväter an die
Sonne, jenes Innere, von dem die Grossväter selbst noch Nichts
wussten. Oft ist schon der Sohn der Verräther seines Vaters:
dieser versteht sich selber besser, seit er seinen Sohn hat. Wir
haben Alle verborgene Gärten und Pflanzungen in uns; und, mit
einem andern Gleichnisse, wir sind Alle wachsende Vulcane, die
ihre Stunde der Eruption haben werden: — wie nahe aber oder wie
ferne diese ist, das freilich weiss Niemand, selbst der liebe Gott
nicht.
10.
Eine Art von Atavismus. — Die
seltenen Menschen einer Zeit verstehe ich am liebsten als
plötzlich auftauchende Nachschösslinge vergangener Culturen und
deren Kräften: gleichsam als den Atavismus eines Volkes und seiner
Gesittung: — so ist wirklich Etwas noch an ihnen zu verstehen ! Jetzt erscheinen sie fremd,
selten, ausserordentlich: und wer diese Kräfte in sich fühlt, hat
sie gegen eine widerstrebende andere Welt zu pflegen, zu
vertheidigen, zu ehren, gross zu ziehen: und so wird er damit
entweder ein grosser Mensch oder ein verrückter und
absonderlicher, sofern er überhaupt nicht bei Zeiten zu Grunde
geht. Ehedem waren diese selben Eigenschaften gewöhnlich und
galten folglich als gemein: sie zeichneten nicht aus. Vielleicht
wurden sie gefordert, vorausgesetzt; es war unmöglich, mit ihnen
gross zu werden, und schon desshalb, weil die Gefahr fehlte, mit
ihnen auch toll und einsam zu werden. — Die erhaltenden
Geschlechter und Kasten eines Volkes sind es vornehmlich, in denen
solche Nachschläge alter Triebe vorkommen, während keine
Wahrscheinlichkeit für solchen Atavismus ist, wo Rassen,
Gewohnheiten, Werthschätzungen zu rasch wechseln. Das Tempo
bedeutet nämlich unter den Kräften der Entwickelung bei Völkern
ebensoviel wie bei der Musik; für unseren Fall ist durchaus ein
Andante der Entwickelung nothwendig, als das Tempo eines
leidenschaftlichen und langsamen Geistes: — und der Art ist ja der
Geist conservativer Geschlechter.
11.
Das Bewusstsein. — Die Bewusstheit
ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und
folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der
Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, dass ein
Thier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nöthig wäre, „über
das Geschick“, wie Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband
der Instincte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im Ganzen
als Regulator: an ihrem verkehrten Urtheilen und Phantasiren mit
offenen Augen, an ihrer Ungründlichkeit und Leichtgläubigkeit,
kurz eben an ihrer Bewusstheit müsste die Menschheit zu Grunde
gehen: oder vielmehr, ohne jenes gäbe es diese längst nicht mehr!
Bevor eine Function ausgebildet und reif ist, ist sie eine Gefahr
des Organismus: gut, wenn sie so lange tüchtig tyrannisirt wird!
So wird die Bewusstheit tüchtig tyrannisirt — und nicht am
wenigsten von dem Stolze darauf! Man denkt, hier sei der Kern des Menschen; sein Bleibendes,
Ewiges, Letztes, Ursprünglichstes! Man hält die Bewusstheit für
eine feste gegebene Grösse! Leugnet ihr Wachsthum, ihre
Intermittenzen! Nimmt sie als „Einheit des Organismus“! — Diese
lächerliche Ueberschätzung und Verkennung des Bewusstseins hat die
grosse Nützlichkeit zur Folge, dass damit eine allzuschnelle
Ausbildung desselben verhindert
worden ist. Weil die Menschen die Bewusstheit schon zu haben
glaubten, haben sie sich wenig Mühe darum gegeben, sie zu erwerben
— und auch jetzt noch steht es nicht anders! Es ist immer noch
eine ganz neue und eben erst dem menschlichen Auge aufdämmernde,
kaum noch deutlich erkennbare Aufgabe,
das Wissen sich einzuverleiben und instinctiv zu
machen, — eine Aufgabe, welche nur von Denen gesehen wird, die
begriffen haben, dass bisher nur unsere Irrthümer
uns einverleibt waren und dass alle unsere Bewusstheit sich auf
Irrthümer bezieht!
12.
Vom Ziele der Wissenschaft. — Wie?
Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel
Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? Wie, wenn nun Lust
und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, dass, wer
möglichst viel von der einen haben will ,
auch möglichst viel von der andern haben muss ,
— dass, wer das „Himmelhoch-Jauchzen“ lernen will, sich auch für
das „zum-Tode-betrübt“ bereit halten muss? Und so steht es
vielleicht! Die Stoiker glaubten wenigstens, dass es so stehe, und
waren consequent, als sie nach möglichst wenig Lust begehrten, um
möglichst wenig Unlust vom Leben zu haben (wenn man den Spruch im
Munde führte „Der Tugendhafte ist der Glücklichste“, so hatte man
in ihm sowohl ein Aushängeschild der Schule für die grosse Masse,
als auch eine casuistische Feinheit für die Feinen). Auch heute
noch habt ihr die Wahl: entweder möglichst
wenig Unlust , kurz Schmerzlosigkeit — und im Grunde
dürften Socialisten und Politiker aller Parteien ihren Leuten
ehrlicher Weise nicht mehr verheissen — oder möglichst
viel Unlust als Preis für das Wachsthum einer Fülle
von feinen und bisher selten gekosteten Lüsten und Freuden!
Entschliesst ihr euch für das Erstere, wollt ihr also die
Schmerzhaftigkeit der Menschen herabdrücken und vermindern, nun,
so müsst ihr auch ihre Fähigkeit zur
Freude herabdrücken und vermindern. In der That kann
man mit der Wissenschaft
das eine wie das andere Ziel fördern! Vielleicht ist sie jetzt
noch bekannter wegen ihrer Kraft, den Menschen um seine Freuden zu
bringen, und ihn kälter, statuenhafter, stoischer zu machen. Aber
sie könnte auch noch als die grosse
Schmerzbringerin entdeckt werden! — Und dann würde
vielleicht zugleich ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheures
Vermögen, neue Sternenwelten der Freude aufleuchten zu lassen!
13.
Zur Lehre vom Machtgefühl. — Mit
Wohlthun und Wehethun übt man seine Macht an Andern aus — mehr
will man dabei nicht! Mit Wehethun
an Solchen, denen wir unsere Macht erst fühlbar machen müssen;
denn der Schmerz ist ein viel empfindlicheres Mittel dazu als die
Lust: — der Schmerz fragt immer nach der Ursache, während die Lust
geneigt ist, bei sich selber stehen zu bleiben und nicht rückwärts
zu schauen. Mit Wohlthun
und Wohlwollen an Solchen, die irgendwie schon von uns abhängen
(das heisst gewohnt sind, an uns als ihre Ursache zu denken); wir
wollen ihre Macht mehren, weil wir so die unsere mehren, oder wir
wollen ihnen den Vortheil zeigen, den es hat, in unserer Macht zu
stehen, — so werden sie mit ihrer Lage zufriedener und gegen die
Feinde unserer Macht
feindseliger und kampfbereiter sein. Ob wir beim Wohl- oder
Wehethun Opfer bringen, verändert den letzten Werth unserer
Handlungen nicht; selbst wenn wir unser Leben daran setzen, wie
der Märtyrer zu Gunsten seiner Kirche, es ist ein Opfer, gebracht
unserem Verlangen nach
Macht, oder zum Zweck der Erhaltung unseres Machtgefühls. Wer da
empfindet „ich bin im Besitz der Wahrheit“, wie viel Besitzthümer
lässt der nicht fahren, um diese Empfindung zu retten! Was wirft
er nicht Alles über Bord, um sich „oben“ zu erhalten, — das heisst
über den Andern, welche
der „Wahrheit“ ermangeln! Gewiss ist der Zustand, wo wir wehe
thun, selten so angenehm, so ungemischt-angenehm, wie der, in
welchem wir wohl thun, — es ist ein Zeichen, dass uns noch Macht
fehlt, oder verräth den Verdruss über diese Armuth, es bringt neue
Gefahren und Unsicherheiten für unseren vorhandenen Besitz von
Macht mit sich und umwölkt unsern Horizont durch die Aussicht auf
Rache, Hohn, Strafe, Misserfolg. Nur für die reizbarsten und
begehrlichsten Menschen des Machtgefühles mag es lustvoller sein,
dem Widerstrebenden das Siegel der Macht aufzudrücken; für solche,
denen der Anblick des bereits Unterworfenen (als welcher der
Gegenstand des Wohlwollens ist) Last und Langeweile macht. Es
kommt darauf an, wie man gewöhnt ist, sein Leben zu würzen ; es ist eine Sache des
Geschmackes, ob man lieber den langsamen oder den plötzlichen, den
sicheren oder den gefährlichen und verwegenen Machtzuwachs haben
will, — man sucht diese oder jene Würze immer nach seinem
Temperamente. Eine leichte Beute ist stolzen Naturen etwas
Verächtliches, sie empfinden ein Wohlgefühl erst beim Anblick
ungebrochener Menschen, welche ihnen Feind werden könnten, und
ebenso beim Anblick aller schwer zugänglichen Besitzthümer; gegen
den Leidenden sind sie oft hart, denn er ist ihres Strebens und
Stolzes nicht werth, — aber um so verbindlicher zeigen sie sich
gegen die Gleichen , mit
denen ein Kampf und Ringen jedenfalls ehrenvoll wäre, wenn sich einmal eine Gelegenheit dazu
finden sollte. Unter dem Wohlgefühle dieser
Perspective haben sich die Menschen der ritterlichen Kaste gegen
einander an eine ausgesuchte Höflichkeit gewöhnt. — Mitleid ist
das angenehmste Gefühl bei Solchen, welche wenig stolz sind und
keine Aussicht auf grosse Eroberungen haben: für sie ist die
leichte Beute — und das ist jeder Leidende — etwas Entzückendes.
Man rühmt das Mitleid als die Tugend der Freudenmädchen.
14.
Was Alles Liebe genannt wird. —
Habsucht und Liebe: wie verschieden empfinden wir bei jedem dieser
Worte! — und doch könnte es der selbe Trieb sein, zweimal benannt,
das eine Mal verunglimpft vom Standpuncte der bereits Habenden
aus, in denen der Trieb etwas zur Ruhe gekommen ist und die nun
für ihre „Habe“ fürchten; das andere Mal vom Standpuncte der
Unbefriedigten, Durstigen aus, und daher verherrlicht als „gut“.
Unsere Nächstenliebe — ist sie nicht ein Drang nach neuem
Eigenthum ? Und ebenso unsere Liebe
zum Wissen, zur Wahrheit und überhaupt all jener Drang nach
Neuigkeiten? Wir werden des Alten, sicher Besessenen allmählich
überdrüssig und strecken die Hände wieder aus; selbst die schönste
Landschaft, in der wir drei Monate leben, ist unserer Liebe nicht
mehr gewiss, und irgend eine fernere Küste reizt unsere Habsucht
an: der Besitz wird durch das Besitzen zumeist geringer. Unsere
Lust an uns selber will sich so aufrecht erhalten, dass sie immer
wieder etwas Neues in uns selber
verwandelt, — das eben heisst Besitzen. Eines Besitzes überdrüssig
werden, das ist: unserer selber überdrüssig werden. (Man kann auch
am Zuviel leiden, — auch die Begierde, wegzuwerfen, auszutheilen,
kann sich den Ehrennamen „Liebe“ zulegen.) Wenn wir Jemanden
leiden sehen, so benutzen wir gerne die jetzt gebotene
Gelegenheit, Besitz von ihm zu ergreifen; diess thut zum Beispiel
der Wohlthätige und Mitleidige, auch er nennt die in ihm erweckte
Begierde nach neuem Besitz „Liebe“, und hat seine Lust dabei wie
bei einer neuen ihm winkenden Eroberung. Am deutlichsten aber
verräth sich die Liebe der Geschlechter als Drang nach Eigenthum:
der Liebende will den unbedingten Alleinbesitz der von ihm
ersehnten Person, er will eine ebenso unbedingte Macht über ihre
Seele wie ihren Leib, er will allein geliebt sein und als das
Höchste und Begehrenswertheste in der andern Seele wohnen und
herrschen. Erwägt man, dass diess nichts Anderes heisst, als alle
Welt von einem kostbaren Gute, Glücke und Genusse ausschliessen : erwägt man, dass der
Liebende auf die Verarmung und Entbehrung aller anderen
Mitbewerber ausgeht und zum Drachen seines goldenen Hortes werden
möchte, als der rücksichtsloseste und selbstsüchtigste aller
„Eroberer“ und Ausbeuter: erwägt man endlich, dass dem Liebenden
selber die ganze andere Welt gleichgültig, blass, werthlos
erscheint und er jedes Opfer zu bringen, jede Ordnung zu stören,
jedes Interesse hintennach zu setzen bereit ist: so wundert man
sich in der That, dass diese wilde Habsucht und Ungerechtigkeit
der Geschlechtsliebe dermaassen verherrlicht und vergöttlicht
worden ist, wie zu allen Zeiten geschehen, ja, dass man aus dieser
Liebe den Begriff Liebe als den Gegensatz des Egoismus hergenommen
hat, während sie vielleicht gerade der unbefangenste Ausdruck des
Egoismus ist. Hier haben offenbar die Nichtbesitzenden und
Begehrenden den Sprachgebrauch gemacht, — es gab wohl ihrer immer
zu viele. Solche, welchen auf diesem Bereiche viel Besitz und
Sättigung gegönnt war, haben wohl hier und da ein Wort vom
„wüthenden Dämon“ fallen lassen, wie jener liebenswürdigste und
geliebteste aller Athener, Sophokles: aber Eros lachte jederzeit
über solche Lästerer, — es waren immer gerade seine grössten
Lieblinge. — Es giebt wohl hier und da auf Erden eine Art
Fortsetzung der Liebe, bei der jenes habsüchtige Verlangen zweier
Personen nach einander einer neuen Begierde und Habsucht, einem
gemeinsamen höheren Durste nach
einem über ihnen stehenden Ideale gewichen ist: aber wer kennt
diese Liebe? Wer hat sie erlebt? Ihr rechter Name ist Freundschaft .
15.
Aus der Ferne. — Dieser Berg macht
die ganze Gegend, die er beherrscht, auf alle Weise reizend und
bedeutungsvoll: nachdem wir diess uns zum hundertsten Male gesagt
haben, sind wir so unvernünftig und so dankbar gegen ihn gestimmt,
dass wir glauben, er, der Geber dieses Reizes, müsse selber das
Reizvollste der Gegend sein — und so steigen wir auf ihn hinauf
und sind enttäuscht. Plötzlich ist er selber, und die ganze
Landschaft um uns, unter uns wie entzaubert; wir hatten vergessen,
dass manche Grösse, wie manche Güte, nur auf eine gewisse Distanz
hin gesehen werden will, und durchaus von unten, nicht von oben, —
so allein wirkt sie .
Vielleicht kennst du Menschen in deiner Nähe, die sich selber nur
aus einer gewissen Ferne ansehen dürfen, um sich überhaupt
erträglich oder anziehend und kraftgebend zu finden; die
Selbsterkenntnis ist ihnen zu widerrathen.
16.
Ueber den Steg. — Im Verkehre mit
Personen, welche gegen ihre Gefühle schamhaft sind, muss man sich
verstellen können; sie empfinden einen plötzlichen Hass gegen Den,
welcher sie auf einem zärtlichen oder schwärmerischen und
hochgehenden Gefühle ertappt, wie als ob er ihre Heimlichkeiten
gesehen habe. Will man ihnen in solchen Augenblicken wohl thun, so
mache man sie lachen oder sage irgend eine kalte scherzhafte
Bosheit: — ihr Gefühl erfriert dabei, und sie sind ihrer wieder
mächtig. Doch ich gebe die Moral vor der Geschichte. — Wir sind
uns Einmal im Leben so nahe gewesen, dass Nichts unsere Freund-
und Bruderschaft mehr zu hemmen schien und nur noch ein kleiner
Steg zwischen uns war. Indem du ihn eben betreten wolltest, fragte
ich dich: „willst du zu mir über den Steg?“ — Aber da wolltest du
nicht mehr; und als ich nochmals bat, schwiegst du. Seitdem sind
Berge und reissende Ströme, und was nur trennt und fremd macht,
zwischen uns geworfen, und wenn wir auch zu einander wollten, wir
könnten es nicht mehr! Gedenkst du aber jetzt jenes kleinen
Steges, so hast du nicht Worte mehr, — nur noch Schluchzen und
Verwunderung.
17.
Seine Armuth motiviren. — Wir
können freilich durch kein Kunststück aus einer armen Tugend eine
reiche, reichfliessende machen, aber wohl können wir ihre Armuth
schön in die Nothwendigkeit umdeuten, sodass ihr Anblick uns nicht
mehr wehe thut, und wir ihrethalben dem Fatum keine vorwurfsvollen
Gesichter machen. So thut der weise Gärtner, der das arme
Wässerchen seines Gartens einer Quellnymphe in den Arm legt und
also die Armuth motivirt: — und wer hätte nicht gleich ihm die
Nymphen nöthig!
18.
Antiker Stolz. — Die antike
Färbung der Vornehmheit fehlt uns, weil unserem Gefühle der antike
Sclave fehlt. Ein Grieche edler Abkunft fand zwischen seiner Höhe
und jener letzten Niedrigkeit solche ungeheure Zwischen-Stufen und
eine solche Ferne, dass er den Sclaven kaum noch deutlich sehen
konnte: selbst Plato hat ihn nicht ganz mehr gesehen. Anders wir,
gewöhnt wie wir sind an die Lehre
von der Gleichheit der Menschen, wenn auch nicht an die Gleichheit
selber. Ein Wesen, das nicht über sich selber verfügen kann und
dem die Musse fehlt, — das gilt unserem Auge noch keineswegs als
etwas Verächtliches; es ist von derlei Sclavenhaftem vielleicht zu
viel an Jedem von uns, nach den Bedingungen unserer
gesellschaftlichen Ordnung und Thätigkeit, welche grundverschieden
von denen der Alten sind. — Der griechische Philosoph gieng durch
das Leben mit dem geheimen Gefühle, dass es viel mehr Sclaven
gebe, als man vermeine — nämlich, dass Jedermann Sclave sei, der
nicht Philosoph sei; sein Stolz schwoll über, wenn er erwog, dass
auch die Mächtigsten der Erde unter diesen seinen Sclaven seien.
Auch dieser Stolz ist uns fremd und unmöglich; nicht einmal im
Gleichniss hat das Wort „Sclave“ für uns seine volle Kraft.
19.
Das Böse. — Prüfet das Leben der
besten und fruchtbarsten Menschen und Völker und fragt euch, ob
ein Baum, der stolz in die Höhe wachsen soll, des schlechten
Wetters und der Stürme entbehren könne: ob Ungunst und Widerstand
von aussen, ob irgend welche Arten von Hass, Eifersucht,
Eigensinn, Misstrauen, Härte, Habgier und Gewaltsamkeit nicht zu
den begünstigenden
Umständen gehören, ohne welche ein grosses Wachsthum selbst in der
Tugend kaum möglich ist? Das Gift, an dem die schwächere Natur zu
Grunde geht, ist für den Starken Stärkung — und er nennt es auch
nicht Gift.
20.
Würde der Thorheit. — Einige
Jahrtausende weiter auf der Bahn des letzten Jahrhunderts! — und
in Allem, was der Mensch thut, wird die höchste Klugheit sichtbar
sein: aber eben damit wird die Klugheit alle ihre Würde verloren
haben. Es ist dann zwar nothwendig, klug zu sein, aber auch so
gewöhnlich und so gemein, dass ein eklerer Geschmack diese
Nothwendigkeit als eine Gemeinheit
empfinden wird. Und ebenso wie eine Tyrannei der Wahrheit und
Wissenschaft im Stande wäre, die Lüge hoch im Preise steigen zu
machen, so könnte eine Tyrannei der Klugheit eine neue Gattung von
Edelsinn hervortreiben. Edel sein — dass hiesse dann vielleicht:
Thorheiten im Kopfe haben.
21.
An die Lehrer der Selbstlosigkeit. —
Man nennt die Tugenden eines Menschen gut ,
nicht in Hinsicht auf die Wirkungen, welche sie für ihn selber
haben, sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche wir von ihnen
für uns und die Gesellschaft voraussetzen: — man ist von jeher im
Lobe der Tugenden sehr wenig „selbstlos“, sehr wenig
„unegoistisch“ gewesen! Sonst nämlich hätte man sehen müssen, dass
die Tugenden (wie Fleiss, Gehorsam, Keuschheit, Pietät,
Gerechtigkeit) ihren Inhabern meistens schädlich
sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich in ihnen
walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht
zu den andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du eine Tugend
hast, eine wirkliche, ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen
nach einer Tugend!) — so bist du ihr Opfer !
Aber der Nachbar lobt eben desshalb deine Tugend! Man lobt den
Fleissigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die
Ursprünglichkeit und Frische seines Geistes mit diesem Fleisse
schädigt; man ehrt und bedauert den Jüngling, welcher sich „zu
Schanden gearbeitet hat“, weil man urtheilt: „Für das ganze Grosse
der Gesellschaft ist auch der Verlust des besten Einzelnen nur ein
kleines Opfer! Schlimm, dass das Opfer Noth thut! Viel schlimmer
freilich, wenn der Einzelne anders denken und seine Erhaltung und
Entwickelung wichtiger nehmen sollte, als seine Arbeit im Dienste
der Gesellschaft!“ Und so bedauert man diesen Jüngling, nicht um
seiner selber willen, sondern weil ein ergebenes und gegen sich
rücksichtsloses Werkzeug
— ein sogenannter „braver Mensch“ — durch diesen Tod der
Gesellschaft verloren gegangen ist. Vielleicht erwägt man noch, ob
es im Interesse der Gesellschaft nützlicher gewesen sein würde,
wenn er minder rücksichtslos gegen sich gearbeitet und sich länger
erhalten hätte, — ja man gesteht sich wohl einen Vortheil davon
zu, schlägt aber jenen anderen Vortheil, dass ein Opfer gebracht und die Gesinnung des
Opferthiers sich wieder einmal augenscheinlich
bestätigt hat, für höher und nachhaltiger an. Es ist also einmal
die Werkzeug-Natur in den Tugenden, die eigentlich gelobt wird,
wenn die Tugenden gelobt werden, und sodann der blinde in jeder
Tugend waltende Trieb, welcher durch den Gesammt-Vortheil des
Individuums sich nicht in Schranken halten lässt, kurz: die
Unvernunft in der Tugend, vermöge deren das Einzelwesen sich zur
Function des Ganzen umwandeln lässt. Das Lob der Tugenden ist das
Lob von etwas Privat-Schädlichem, — das Lob von Trieben, welche
dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur höchsten
Obhut über sich selber nehmen. — Freilich: zur Erziehung und zur
Einverleibung tugendhafter Gewohnheiten kehrt man eine Reihe von
Wirkungen der Tugend heraus, welche Tugend und Privat-Vortheil als
verschwistert erscheinen lassen, — und es giebt in der That eine
solche Geschwisterschaft! Der blindwüthende Fleiss zum Beispiel,
diese typische Tugend eines Werkzeuges, wird dargestellt als der
Weg zu Reichthum und Ehre und als das heilsamste Gift gegen die
Langeweile und die Leidenschaften: aber man verschweigt seine
Gefahr, seine höchste Gefährlichkeit. Die Erziehung verfährt
durchweg so: sie sucht den Einzelnen durch eine Reihe von Reizen
und Vortheilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen,
welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist,
wider seinen letzten Vortheil ,
aber „zum allgemeinen Besten“ in ihm und über ihn herrscht. Wie
oft sehe ich es, dass der blindwüthende Fleiss zwar Reichthümer
und Ehre schafft, aber zugleich den Organen die Feinheit nimmt,
vermöge deren es einen Genuss an Reichthum und Ehren geben könnte,
ebenso, dass jenes Hauptmittel gegen die Langeweile und die
Leidenschaften zugleich die Sinne stumpf und den Geist
widerspänstig gegen neue Reize macht. (Das fleissigste aller
Zeitalter — unser Zeitalter — weiss aus seinem vielen Fleisse und
Gelde Nichts zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer
wieder mehr Fleiss: es gehört eben mehr Genie dazu, auszugeben,
als zu erwerben! — Nun, wir werden unsere „Enkel“ haben!) Gelingt
die Erziehung, so ist jede Tugend des Einzelnen eine öffentliche
Nützlichkeit und ein privater Nachtheil im Sinne des höchsten
privaten Zieles, — wahrscheinlich irgend eine geistig-sinnliche
Verkümmerung oder gar der frühzeitige Untergang: man erwäge der
Reihe nach von diesem Gesichtspuncte aus die Tugend des Gehorsams,
der Keuschheit, der Pietät, der Gerechtigkeit. Das Lob des
Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften — also Desjenigen, der
nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine
Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung
verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos,
vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt, — dieses Lob ist
jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen!
Der „Nächste“ lobt die Selbstlosigkeit, weil er
durch sie Vortheile hat ! Dächte der Nächste selber
„selbstlos“, so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung
zu seinen Gunsten
abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und
vor Allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, dass er
dieselbe nicht gut
nennte! — Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet,
welche gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive
zu dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Principe !
Das, womit sich diese Moral beweisen will, widerlegt sie aus ihrem
Kriterium des Moralischen! Der Satz „du sollst dir selber entsagen
und dich zum Opfer bringen“ dürfte, um seiner eigenen Moral nicht
zuwiderzugehen, nur von einem Wesen decretirt werden, welches
damit selber seinem Vortheil entsagte und vielleicht in der
verlangten Aufopferung der Einzelnen seinen eigenen Untergang
herbeiführte. Sobald aber der Nächste (oder die Gesellschaft) den
Altruismus um des Nutzens willen
anempfiehlt, wird der gerade entgegengesetzte Satz „du sollst den
Vortheil auch auf Unkosten alles Anderen suchen“ zur Anwendung
gebracht, also in Einem Athem ein „Du sollst“ und „Du sollst
nicht“ gepredigt!
22.
L’ordre du jour pour le roi. — Der
Tag beginnt: beginnen wir für diesen Tag die Geschäfte und Feste
unseres allergnädigsten Herrn zu ordnen, der jetzt noch zu ruhen
geruht. Seine Majestät hat heute schlechtes Wetter: wir werden uns
hüten, es schlecht zu nennen; man wird nicht vom Wetter reden, —
aber wir werden die Geschäfte heute etwas feierlicher und die
Feste etwas festlicher nehmen, als sonst nöthig wäre. Seine
Majestät wird vielleicht sogar krank sein: wir werden zum
Frühstück die letzte gute Neuigkeit vom Abend präsentiren, die
Ankunft des Herrn von Montaigne, der so angenehm über seine
Krankheit zu scherzen weiss, — er leidet am Stein. Wir werden
einige Personen empfangen (Personen! — was würde jener alte
aufgeblasene Frosch, der unter ihnen sein wird, sagen, wenn er
diess Wort hörte! „Ich bin keine Person, würde er sagen, sondern
immer die Sache selber“.) — und der Empfang wird länger dauern,
als irgend Jemandem angenehm ist: Grund genug, von jenem Dichter
zu erzählen, der auf seine Thüre schrieb: „wer hier eintritt, wird
mir eine Ehre erweisen; wer es nicht thut — ein Vergnügen.“ —
Diess heisst fürwahr eine Unhöflichkeit auf höfliche Manier sagen!
Und vielleicht hat dieser Dichter für seinen Theil ganz Recht,
unhöflich zu sein: man sagt, dass seine Verse besser seien, als
der Verse-Schmied. Nun, so mag er noch viele machen und sich
selber möglichst der Welt entziehen: und das ist ja der Sinn
seiner artigen Unart! Umgekehrt ist ein Fürst immer mehr werth,
als sein „Vers“, selbst wenn — doch was machen wir? Wir plaudern,
und der ganze Hof meint, wir arbeiteten schon und zerbrächen uns
die Köpfe: man sieht kein Licht früher, als das in unserem Fenster
brennen. — Horch! War das nicht die Glocke? Zum Teufel! Der Tag
und der Tanz beginnt, und wir wissen seine Touren nicht! So müssen
wir improvisiren, — alle Welt improvisirt ihren Tag. Machen wir es
heute einmal wie alle Welt! — Und damit verschwand mein
wunderlicher Morgentraum, wahrscheinlich vor den harten Schlägen
der Thurmuhr, die eben mit all der Wichtigkeit, die ihr eigen ist,
die fünfte Stunde verkündete. Es scheint mir, dass diessmal der
Gott der Träume sich über meine Gewohnheiten lustig machen wollte,
— es ist meine Gewohnheit, den Tag so zu beginnen, dass ich ihn
für mich zurecht lege und
erträglich mache, und es mag sein, dass ich diess öfters zu
förmlich und zu prinzenhaft gethan habe.
23.
Die Anzeichen der Corruption. —
Man beachte an jenen von Zeit zu Zeit nothwendigen Zuständen der
Gesellschaft, welche mit dem Wort „Corruption“ bezeichnet werden,
folgende Anzeichen. Sobald irgend wo die Corruption eintritt,
nimmt ein bunter Aberglaube
überhand und der bisherige Gesammtglaube eines Volkes wird blass
und ohnmächtig dagegen: der Aberglaube ist nämlich die
Freigeisterei zweiten Ranges, — wer sich ihm ergiebt, wählt
gewisse ihm zusagende Formen und Formeln aus und erlaubt sich ein
Recht der Wahl. Der Abergläubische ist, im Vergleich mit dem
Religiösen, immer viel mehr „Person“, als dieser, und eine
abergläubische Gesellschaft wird eine solche sein, in der es schon
viele Individuen und Lust am Individuellen giebt. Von diesem
Standpuncte aus gesehen, erscheint der Aberglaube immer als ein
Fortschritt gegen den Glauben und
als Zeichen dafür, dass der Intellect unabhängiger wird und sein
Recht haben will. Ueber Corruption klagen dann die Verehrer der
alten Religion und Religiosität, — sie haben bisher auch den
Sprachgebrauch bestimmt und dem Aberglauben eine üble Nachrede
selbst bei den freiesten Geistern gemacht. Lernen wir, dass er ein
Symptom der Aufklärung
ist. — Zweitens beschuldigt man eine Gesellschaft, in der die
Corruption Platz greift, der Erschlaffung :
und ersichtlich nimmt in ihr die Schätzung des Krieges und die
Lust am Kriege ab, und die Bequemlichkeiten des Lebens werden
jetzt eben so heiss erstrebt, wie ehedem die kriegerischen und
gymnastischen Ehren. Aber man pflegt zu übersehen, dass jene alte
Volks-Energie und Volks-Leidenschaft, welche durch den Krieg und
die Kampfspiele eine prachtvolle Sichtbarkeit bekam, jetzt sich in
unzählige Privat-Leidenschaften umgesetzt hat und nur weniger
sichtbar geworden ist; ja, wahrscheinlich ist in Zuständen der
„Corruption“ die Macht und Gewalt der jetzt verbrauchten Energie
eines Volkes grösser, als je, und das Individuum giebt so
verschwenderisch davon aus, wie es ehedem nicht konnte, — es war
damals noch nicht reich genug dazu! Und so sind es gerade die
Zeiten der „Erschlaffung“, wo die Tragödie durch die Häuser und
Gassen läuft, wo die grosse Liebe und der grosse Hass geboren
werden, und die Flamme der Erkenntniss lichterloh zum Himmel
aufschlägt. — Drittens pflegt man, gleichsam zur Entschädigung für
den Tadel des Aberglaubens und der Erschlaffung, solchen Zeiten
der Corruption nachzusagen, dass sie milder seien und dass jetzt
die Grausamkeit, gegen die ältere gläubigere und stärkere Zeit
gerechnet, sehr in Abnahme komme. Aber auch dem Lobe kann ich
nicht beipflichten, ebensowenig als jenem Tadel: nur so viel gebe
ich zu, dass jetzt die Grausamkeit sich verfeinert, und dass ihre
älteren Formen von nun an wider den Geschmack gehen; aber die
Verwundung und Folterung durch Wort und Blick erreicht in Zeiten
der Corruption ihre höchste Ausbildung, — jetzt erst wird die
Bosheit geschaffen und die Lust an
der Bosheit. Die Menschen der Corruption sind witzig und
verläumderisch; sie wissen, dass es noch andere Arten des Mordes
giebt, als durch Dolch und Ueberfall, — sie wissen auch, dass
alles Gutgesagte
geglaubt wird. — Viertens: wenn „die Sitten verfallen“, so tauchen
zuerst jene Wesen auf, welche man Tyrannen nennt: es sind die
Vorläufer und gleichsam die frühreifen Erstlinge
der Individuen . Noch eine kleine Weile: und diese
Frucht der Früchte hängt reif und gelb am Baume eines Volkes, —
und nur um dieser Früchte willen gab es diesen Baum! Ist der
Verfall auf seine Höhe gekommen und der Kampf aller Art Tyrannen
ebenfalls, so kommt dann immer der Cäsar, der Schluss-Tyrann, der
dem ermüdeten Ringen um Alleinherrschaft ein Ende macht, indem er
die Müdigkeit für sich arbeiten lässt. Zu seiner Zeit ist
gewöhnlich das Individuum am reifsten und folglich die „Cultur“ am
höchsten und fruchtbarsten, aber nicht um seinetwillen und nicht
durch ihn: obwohl die höchsten Cultur-Menschen ihrem Cäsar damit
zu schmeicheln lieben, dass sie sich als sein
Werk ausgeben. Die Wahrheit aber ist, dass sie Ruhe von Aussen
nöthig haben, weil sie ihre Unruhe und Arbeit in sich haben. In
diesen Zeiten ist die Bestechlichkeit und der Verrath am grössten:
denn die Liebe zu dem eben erst entdeckten ego ist jetzt viel
mächtiger, als die Liebe zum alten, verbrauchten, todtgeredeten
„Vaterlande“; und das Bedürfniss, sich irgendwie gegen die
furchtbaren Schwankungen des Glückes sicherzustellen, öffnet auch
edlere Hände, sobald ein Mächtiger und Reicher sich bereit zeigt,
Gold in sie zu schütten. Es giebt jetzt so wenig sichere Zukunft:
da lebt man für heute: ein Zustand der Seele, bei dem alle
Verführer ein leichtes Spiel spielen, — man lässt sich nämlich
auch nur „für heute“ verführen und bestechen und behält sich die
Zukunft und die Tugend vor! Die Individuen, diese wahren An- und
Für-sich’s, sorgen, wie bekannt, mehr für den Augenblick, als ihre
Gegensätze, die Heerden-Menschen, weil sie sich selber für ebenso
unberechenbar halten wie die Zukunft; ebenso knüpfen sie sich
gerne an Gewaltmenschen an, weil sie sich Handlungen und Auskünfte
zutrauen, die bei der Menge weder auf Verständniss noch auf Gnade
rechnen können, — aber der Tyrann oder Cäsar versteht das Recht
des Individuums auch in seiner Ausschreitung und hat ein Interesse
daran, einer kühneren Privatmoral das Wort zu reden und selbst die
Hand zu bieten. Denn er denkt von sich und will über sich gedacht
haben, was Napoleon einmal in seiner classischen Art und Weise
ausgesprochen hat: „ich habe das Recht, auf Alles, worüber man
gegen mich Klage führt, durch ein ewiges „Das-bin-ich“ zu
antworten. Ich bin abseits von aller Welt, ich nehme von Niemandem
Bedingungen an. Ich will, dass man sich auch meinen Phantasieen
unterwerfe und es ganz einfach finde, wenn ich mich diesen oder
jenen Zerstreuungen hingebe.“ So sprach Napoleon einmal zu seiner
Gemahlin, als diese Gründe hatte, die eheliche Treue ihres Gatten
in Frage zu ziehen. — Die Zeiten der Corruption sind die, in
welchen die Aepfel vom Baume fallen: ich meine die Individuen, die
Samenträger der Zukunft, die Urheber der geistigen Colonisation
und Neubildung von Staats- und Gesellschaftsverbänden. Corruption
ist nur ein Schimpfwort für die Herbstzeiten
eines Volkes.
24.
Verschiedene Unzufriedenheit. —
Die schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriedenen sind die
Erfindsamen für die Verschönerung und Vertiefung des Lebens; die
starken Unzufriedenen — die Mannspersonen unter ihnen, im Bilde zu
bleiben — für Verbesserung und Sicherung des Lebens. Die Ersteren
zeigen darin ihre Schwäche und Weiberart, dass sie sich gerne
zeitweilig täuschen lassen und wohl schon mit ein Wenig Rausch und
Schwärmerei einmal fürlieb nehmen, aber im Ganzen nie zu
befriedigen sind und an der Unheilbarkeit ihrer Unzufriedenheit
leiden; überdiess sind sie die Förderer aller Derer, welche
opiatische und narkotische Tröstungen zu schaffen wissen, und eben
darum Jenen gram, die den Arzt höher als den Priester schätzen, —
dadurch unterhalten sie die Fortdauer
der wirklichen Nothstände! Hätte es nicht seit den Zeiten des
Mittelalters eine Ueberzahl von Unzufriedenen dieser Art in Europa
gegeben, so würde vielleicht die berühmte europäische Fähigkeit
zur beständigen Verwandelung
gar nicht entstanden sein: denn die Ansprüche der starken
Unzufriedenen sind zu grob und im Grunde zu anspruchslos, um nicht
endlich einmal zur Ruhe gebracht werden zu können. China ist das
Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit im Grossen und die
Fähigkeit der Verwandelung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben
ist; und die Socialisten und Staats-Götzendiener Europa’s könnten
es mit ihren Maassregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens
auch in Europa leicht zu chinesischen Zuständen und einem
chinesischen „Glücke“ bringen, vorausgesetzt, dass sie hier zuerst
jene kränklichere, zartere, weiblichere, einstweilen noch
überreichlich vorhandene Unzufriedenheit und Romantik ausrotten
könnten. Europa ist ein Kranker, der seiner Unheilbarkeit und
ewigen Verwandelung seines Leidens den höchsten Dank schuldig ist;
diese beständigen neuen Lagen, diese ebenso beständigen neuen
Gefahren, Schmerzen und Auskunftsmittel haben zuletzt eine
intellectuale Reizbarkeit erzeugt, welche beinahe so viel, als
Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genie’s ist.
25.
Nicht zur Erkenntniss vorausbestimmt. —
Es giebt eine gar nicht seltene blöde Demüthigkeit, mit der
behaftet man ein für alle Mal nicht zum Jünger der Erkenntniss
taugt. Nämlich: in dem Augenblick, wo ein Mensch dieser Art etwas
Auffälliges wahrnimmt, dreht er sich gleichsam auf dem Fusse um
und sagt sich: „Du hast dich getäuscht! Wo hast du deine Sinne
gehabt! Diess darf nicht die Wahrheit sein!“ — und nun, statt noch
einmal schärfer hinzusehen und hinzuhören, läuft er wie
eingeschüchtert dem auffälligen Dinge aus dem Wege und sucht es
sich so schnell wie möglich aus dem Kopfe zu schlagen. Sein
innerlicher Kanon nämlich lautet: „Ich will Nichts sehen, was der
üblichen Meinung über die Dinge widerspricht! Bin ich dazu gemacht, neue Wahrheiten zu
entdecken? Es giebt schon der alten zu viele.“
Niet tot kennis (inzicht) voorbestemd. —
Er bestaat een - niet eens zeldzame - domme nederigheid. Als men
daarmee behept is dan is men voor eens en altijd ongeschikt om een
leerling van de Kennis te worden. Namelijk: Precies op het ogenblik
dat dit soort mens iets opvallends waarneemt, draait hij zich als
het ware op zijn voeten om, en zegt tegen zichzelf: “Je hebt je
vergist! Waar zat je met je zintuigen/hoofd (Sinne is
meerduidig)! Dit kan de waarheid niet zijn!” — en nu, in plaats van
nog eens scherper toe te zien en beter te luisteren, loopt hij, als
geïntimideerd, weg van wat hem opgevallen was, en probeert het zo
snel mogelijk uit zijn hoofd te zetten. Zijn innerlijke canon luidt
namelijk: “Ik wil niets zien dat in strijd is met de gangbare
opvatting over de dingen! Ben ik gemaakt om nieuwe
waarheden te ontdekken? Er zijn al te veel oude.”
26.
Was heisst Leben? — Leben — das
heisst: fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will;
Leben — das heisst: grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was
schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben — das
heisst also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein?
Immerfort Mörder sein? — Und doch hat der alte Moses gesagt: „Du
sollst nicht tödten!“
27.
Der Entsagende. — Was thut der
Entsagende? Er strebt nach einer höheren Welt, er will weiter und
ferner und höher fliegen, als alle Menschen der Bejahung, —
er wirft Vieles weg , was seinen
Flug beschweren würde, und Manches darunter, was ihm nicht
unwerth, nicht unliebsam ist: er opfert es seiner Begierde zur
Höhe. Dieses Opfern, dieses Wegwerfen ist nun gerade Das, was
allein sichtbar an ihm wird: darnach giebt man ihm den Namen des
Entsagenden, und als dieser steht er vor uns, eingehüllt in seine
Kapuze und wie die Seele eines härenen Hemdes. Mit diesem Effecte,
den er auf uns macht, ist er aber wohl zufrieden: er will vor uns
seine Begierde, seinen Stolz, seine Absicht, über
uns hinauszufliegen, verborgen halten. — Ja! Er ist klüger, als
wir dachten, und so höflich gegen uns — dieser Bejahende! Denn das
ist er gleich uns, auch indem er entsagt.
28.
Mit seinem Besten schaden. —
Unsere Stärken treiben uns mitunter so weit vor, dass wir unsere
Schwächen nicht mehr aushalten können und an ihnen zu Grunde
gehen: wir sehen auch wohl diesen Ausgang voraus und wollen es
trotzdem nicht anders. Da werden wir hart gegen Das an uns, was
geschont sein will, und unsere Grösse ist auch unsere
Unbarmherzigkeit. — Ein solches Erlebniss, das wir zuletzt mit dem
Leben bezahlen müssen, ist ein Gleichniss für das gesammte Wirken
grosser Menschen auf Andere und auf ihre Zeit: — gerade mit ihrem
Besten, mit dem, was nur sie können, richten sie viele Schwache,
Unsichere, Werdende, Wollende zu Grunde, und sind hierdurch
schädlich. Ja es kann der Fall vorkommen, dass sie, im Ganzen
gerechnet, nur schaden, weil ihr Bestes allein von Solchen
angenommen und gleichsam aufgetrunken wird, welche an ihm, wie an
einem zu starken Getränke, ihren Verstand und ihre Selbstsucht
verlieren: sie werden so berauscht, dass sie ihre Glieder auf
allen den Irrwegen brechen müssen, wohin sie der Rausch treibt.
29.
Die Hinzu-Lügner. — Als man in
Frankreich die Einheiten des Aristoteles zu bekämpfen und folglich
auch zu vertheidigen anfieng, da war es wieder einmal zu sehen,
was so oft zu sehen ist, aber so ungern gesehen wird: — man log sich Gründe vor , um
derenthalben jene Gesetze bestehen sollten, blos um sich nicht
einzugestehen, dass man sich an die Herrschaft dieser Gesetze
gewöhnt habe und es nicht mehr
anders haben wolle. Und so macht man es innerhalb jeder
herrschenden Moral und Religion und hat es von jeher gemacht: die
Gründe und die Absichten hinter der Gewohnheit werden immer zu ihr
erst hinzugelogen, wenn Einige anfangen, die Gewohnheit zu
bestreiten und nach Gründen und Absichten zu fragen .
Hier steckt die grosse Unehrlichkeit der Conservativen aller
Zeiten: — es sind die Hinzu-Lügner.
30.
Komödienspiel der Berühmten. —
Berühmte Männer, welche ihren Ruhm nöthig
haben , wie zum Beispiel alle Politiker, wählen ihre
Verbündeten und Freunde nie mehr ohne Hintergedanken: von diesem
wollen sie ein Stück Glanz und Abglanz seiner Tugend, von jenem
das Furchteinflössende gewisser bedenklicher Eigenschaften, die
Jedermann an ihm kennt, einem andern stehlen sie den Ruf seines
Müssigganges, seines In-der-Sonne-liegens, weil es ihren eigenen
Zwecken frommt, zeitweilig für unachtsam und träge zu gelten: — es
verdeckt, dass sie auf der Lauer liegen; bald brauchen sie den
Phantasten, bald den Kenner, bald den Grübler, bald den Pedanten
in ihrer Nähe und gleichsam als ihr gegenwärtiges Selbst, aber
eben so bald brauchen sie dieselben nicht mehr! Und so sterben
fortwährend ihre Umgebungen und Aussenseiten ab, während Alles
sich in diese Umgebung zu drängen scheint und zu ihrem „Charakter“
werden will: darin gleichen sie den grossen Städten. Ihr Ruf ist
fortwährend im Wandel wie ihr Charakter, denn ihre wechselnden
Mittel verlangen diesen Wechsel, und schieben bald diese, bald
jene wirkliche oder erdichtete Eigenschaft hervor und auf die
Bühne hinaus : ihre
Freunde und Verbündeten gehören, wie gesagt, zu diesen
Bühnen-Eigenschaften. Dagegen muss Das, was sie wollen, um so mehr
fest und ehern und weithin glänzend stehen bleiben, — und auch
diess hat bisweilen seine Komödie und sein Bühnenspiel nöthig.
31.
Handel und Adel. — Kaufen und
verkaufen gilt jetzt als gemein, wie die Kunst des Lesens und
Schreibens; Jeder ist jetzt darin eingeübt, selbst wenn er kein
Handelsmann ist, und übt sich noch an jedem Tage in dieser
Technik: ganz wie ehemals, im Zeitalter der wilderen Menschheit,
Jedermann Jäger war und sich Tag für Tag in der Technik der Jagd
übte. Damals war die Jagd gemein: aber wie diese endlich ein
Privilegium der Mächtigen und Vornehmen wurde und damit den
Charakter der Alltäglichkeit und Gemeinheit verlor — dadurch, dass
sie aufhörte nothwendig zu sein und eine Sache der Laune und des
Luxus wurde: — so könnte es irgendwann einmal mit dem Kaufen und
Verkaufen werden. Es sind Zustände der Gesellschaft denkbar, wo
nicht verkauft und gekauft wird und wo die Nothwendigkeit dieser
Technik allmählich ganz verloren geht: vielleicht, dass dann
Einzelne, welche dem Gesetze des allgemeinen Zustandes weniger
unterworfen sind, sich dann das Kaufen und Verkaufen wie einen
Luxus der Empfindung erlauben. Dann
erst bekäme der Handel Vornehmheit, und die Adeligen würden sich
dann vielleicht ebenso gern mit dem Handel abgeben, wie bisher mit
dem Kriege und der Politik: während umgekehrt die Schätzung der
Politik sich dann völlig geändert haben könnte. Schon jetzt hört
sie auf, das Handwerk des Edelmannes zu sein: und es wäre möglich,
dass man sie eines Tages so gemein fände, um sie, gleich aller
Partei- und Tageslitteratur, unter die Rubrik „Prostitution des
Geistes“ zu bringen.
32.
Unerwünschte Jünger. — Was soll
ich mit diesen beiden Jünglingen machen! rief mit Unmuth ein
Philosoph, welcher die Jugend „verdarb“, wie Sokrates sie einst
verdorben hat, — es sind mir unwillkommene Schüler. Der da kann
nicht Nein sagen und Jener sagt zu Allem: „Halb und halb.“
Gesetzt, sie ergriffen meine Lehre, so würde der Erstere zu viel
leiden , denn meine Denkweise
erfordert eine kriegerische Seele, ein Wehethun-Wollen, eine Lust
am Neinsagen, eine harte Haut, — er würde an offenen und inneren
Wunden dahin siechen. Und der Andere wird sich aus jeder Sache,
die er vertritt, eine Mittelmässigkeit zurecht machen und sie
dergestalt zur Mittelmässigkeit machen, — einen solchen Jünger
wünsche ich meinem Feinde.
33.
Ausserhalb des Hörsaales. — „Um
Ihnen zu beweisen, dass der Mensch im Grunde zu den gutartigen
Thieren gehört, würde ich Sie daran erinnern, wie leichtgläubig er
so lange gewesen ist. Jetzt erst ist er, ganz spät und nach
ungeheurer Selbstüberwindung, ein misstrauisches
Thier geworden, — ja! der Mensch ist jetzt böser als je.“ — Ich
verstehe diess nicht: warum sollte der Mensch jetzt misstrauischer
und böser sein? — „Weil er jetzt eine Wissenschaft hat, — nöthig
hat!“ —
34.
Historia abscondita. — Jeder
grosse Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um
seinetwillen wieder auf die Wage gestellt, und tausend Geheimnisse
der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln — hinein in
seine Sonne. Es ist gar nicht
abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die
Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es
bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!
35.
Ketzerei und Hexerei. — Anders
denken, als Sitte ist — das ist lange nicht so sehr die Wirkung
eines besseren Intellectes, als die Wirkung starker, böser
Neigungen, loslösender, isolirender, trotziger, schadenfroher,
hämischer Neigungen. Die Ketzerei ist das Seitenstück zur Hexerei
und gewiss ebensowenig, als diese, etwas Harmloses oder gar an
sich selber Verehrungswürdiges. Die Ketzer und die Hexen sind zwei
Gattungen böser Menschen: gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auch
als böse fühlen, dass aber ihre unbezwingliche Lust ist, an dem,
was herrscht (Menschen oder Meinungen), sich schädigend
auszulassen. Die Reformation, eine Art Verdoppelung des
mittelalterlichen Geistes, zu einer Zeit, als er bereits das gute
Gewissen nicht mehr bei sich hatte, brachte sie beide in grösster
Fülle hervor.
36.
Letzte Worte. — Man wird sich
erinnern, dass der Kaiser Augustus, jener fürchterliche Mensch,
der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso schweigen
konnte wie irgend ein weiser Sokrates, mit seinem letzten Worte
indiscret gegen sich selber wurde: er liess zum ersten Male seine
Maske fallen, als er zu verstehen gab, dass er eine Maske getragen
und eine Komödie gespielt habe, — er hatte den Vater des
Vaterlandes und die Weisheit auf dem Throne gespielt, gut bis zur
Illusion! Plaudite amici, comoedia finita est! — Der Gedanke des
sterbenden Nero: qualis artifex pereo! war auch der Gedanke des
sterbenden Augustus: Histrionen-Eitelkeit!
Histrionen-Schwatzhaftigkeit! Und recht das Gegenstück zum
sterbenden Sokrates! — Aber Tiberius starb schweigsam, dieser
gequälteste aller Selbstquäler, — der
war ächt und kein Schauspieler! Was mag dem wohl zuletzt durch den
Kopf gegangen sein! Vielleicht diess: „Das Leben — das ist ein
langer Tod. Ich Narr, der ich so Vielen das Leben verkürzte! War
ich dazu gemacht, ein Wohltäter zu
sein? Ich hätte ihnen das ewige Leben geben sollen: so hätte ich
sie ewig sterben sehen
können. Dafür hatte ich
ja so gute Augen: qualis spectator pereo!“ Als er nach einem
langen Todeskampfe doch wieder zu Kräften zu kommen schien, hielt
man es für rathsam, ihn mit Bettkissen zu ersticken, — er starb
eines doppelten Todes.
37.
Aus drei Irrthümern. — Man hat in
den letzten Jahrhunderten die Wissenschaft gefördert, theils weil
man mit ihr und durch sie Gottes Güte und Weisheit am besten zu
verstehen hoffte — das Hauptmotiv in der Seele der grossen
Engländer (wie Newton) —, theils weil man an die absolute
Nützlichkeit der Erkenntniss glaubte, namentlich an den innersten
Verband von Moral, Wissen und Glück — das Hauptmotiv in der Seele
der grossen Franzosen (wie Voltaire) —, theils weil man in der
Wissenschaft etwas Selbstloses, Harmloses, Sich-selber-Genügendes,
wahrhaft Unschuldiges zu haben und zu lieben meinte, an dem die
bösen Triebe des Menschen überhaupt nicht betheiligt seien — das
Hauptmotiv in der Seele Spinoza’s, der sich als Erkennender
göttlich fühlte: also aus drei Irrthümern.
Vanuit drie misvattingen . — In de
afgelopen eeuwen heeft men de wetenschap vooruitgeholpen, deels
omdat men hoopte daarmee en daardoor Gods goedheid en wijsheid het
beste te kunnen begrijpen — de belangrijkste drijfveer in de ziel
van de grote Engelsen (zoals Newton) —, deels omdat men geloofde in
het absolute nut van kennis, met name in het innerlijke verband
tussen moraal, kennis en geluk — de belangrijkste drijfveer in de
ziel van de grote Fransen (zoals Voltaire) —, deels omdat men dacht
in de wetenschap iets onbaatzuchtigs, onschuldigs,
zichzelf-geheel-genoegzaams, echt onschuldigs te hebben en te
beminnen, (iets) waaraan de slechte aandriften van de mens helemaal
geen deel hadden — de belangrijkste drijfveer in de ziel van
Spinoza, die zich als kenner (Erkennende) goddelijk
voelde: - ergo: vanuit drie misvattingen.
38.
Die Explosiven. — Erwägt man, wie
explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert
man sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch sich für
diese oder jene Sache entscheiden zu sehen: Das, was sie reizt,
ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam
der Anblick der brennenden Lunte, — nicht die Sache selber. Die
feineren Verführer verstehen sich desshalb darauf, ihnen die
Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer
Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht!
39.
Veränderter Geschmack. — Die
Veränderung des allgemeinen Geschmackes ist wichtiger, als die der
Meinungen; Meinungen mit allen Beweisen, Widerlegungen und der
ganzen intellectuellen Maskerade sind nur Symptome des veränderten
Geschmacks und ganz gewiss gerade Das nicht ,
wofür man sie noch so häufig anspricht, dessen Ursachen. Wie
verändert sich der allgemeine Geschmack? Dadurch, dass Einzelne,
Mächtige, Einflussreiche ohne Schamgefühl ihr
hoc est ridiculum, hoc est absurdum, also das Urtheil ihres
Geschmacks und Ekels, aussprechen und tyrannisch durchsetzen: —
sie legen damit Vielen einen Zwang auf, aus dem allmählich eine
Gewöhnung noch Mehrerer und zuletzt ein Bedürfniss
Aller wird. Dass diese Einzelnen aber anders
empfinden und „schmecken“, das hat gewöhnlich seinen Grund in
einer Absonderlichkeit ihrer Lebensweise, Ernährung, Verdauung,
vielleicht in einem Mehr oder Weniger der anorganischen Salze in
ihrem Blute und Gehirn, kurz in der Physis: sie haben aber den
Muth, sich zu ihrer Physis zu bekennen und deren Forderungen noch
in ihren feinsten Tönen Gehör zu schenken: ihre ästhetischen und
moralischen Urtheile sind solche „feinste Töne“ der Physis.
40.
Vom Mangel der vornehmen Form. —
Soldaten und Führer haben immer noch ein viel höheres Verhalten zu
einander, als Arbeiter und Arbeitgeber. Einstweilen wenigstens
steht alle militärisch begründete Cultur noch hoch über aller
sogenannten industriellen Cultur: letztere in ihrer jetzigen
Gestalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher
gegeben hat. Hier wirkt einfach das Gesetz der Noth: man will
leben und muss sich verkaufen, aber man verachtet Den, der diese
Noth ausnützt und sich den Arbeiter kauft .
Es ist seltsam, dass die Unterwerfung unter mächtige,
furchterregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und
Heerführer, bei Weitem nicht so peinlich empfunden wird, als diese
Unterwerfung unter unbekannte und uninteressante Personen, wie es
alle Grössen der Industrie sind: in dem Arbeitgeber sieht der
Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugenden, auf alle
Noth speculirenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, Sitte
und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabricanten und
Gross-Unternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich
allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren
Rasse , welche erst die Personen
interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des
Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht
keinen Socialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit
zur Sclaverei jeder
Art, vorausgesetzt, dass der Höhere über ihnen sich beständig als
höher, als zum Befehlen geboren
legitimirt — durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt,
dass die Vornehmheit nicht zu improvisiren ist und dass er in ihr
die Frucht langer Zeiten zu ehren hat, — aber die Abwesenheit der
höheren Form und die berüchtigte Fabricanten-Vulgarität mit
rothen, feisten Händen, bringen ihn auf den Gedanken, dass nur
Zufall und Glück hier den Einen über den Andern erhoben habe:
wohlan, so schliesst er bei sich, versuchen wir
einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel! —
und der Socialismus beginnt.
41.
Gegen die Reue. — Der Denker sieht
in seinen eigenen Handlungen Versuche und Fragen, irgend worüber
Aufschluss zu erhalten: Erfolg und Misserfolg sind ihm zu
allererst Antworten .
Sich aber darüber, dass Etwas missräth, ärgern oder gar Reue
empfinden — das überlässt er Denen, welche handeln, weil es ihnen
befohlen wird, und welche Prügel zu erwarten haben, wenn der
gnädige Herr mit dem Erfolg nicht zufrieden ist.
Tegen de spijt . — De denker ziet in
zijn eigen handelingen pogingen en vragen om ergens uitsluitsel over
te krijgen: succes en mislukking zijn voor hem in de allereerst antwoorden .
Maar zich ergeren aan het feit dat iets misgaat, of zelfs spijt
hebben — dat laat hij over aan degenen die handelen omdat het hun
wordt opgedragen en die een pak slaag kunnen verwachten als de
genadige heer niet tevreden is met het resultaat.
42.
Arbeit und Langeweile. — Sich
Arbeit suchen um des Lohnes willen — darin sind sich in den
Ländern der Civilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen
allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; wesshalb
sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt, dass
sie einen reichlichen Gewinn abwirft. Nun giebt es seltenere
Menschen, welche lieber zu Grunde gehen wollen, als ohne
Lust an der Arbeit arbeiten: jene
Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem
reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht
selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung
von Menschen gehören die Künstler und Contemplativen aller Art,
aber auch schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf
Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese
wollen Arbeit und Noth, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die
schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muss. Sonst aber sind sie
von einer entschlossenen Trägheit, sei es selbst, dass Verarmung,
Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens an diese Trägheit
geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr,
als die Arbeit ohne Lust: ja, sie haben viel Langeweile nöthig,
wenn ihnen ihre Arbeit
gelingen soll. Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist
Langeweile jene unangenehme „Windstille“ der Seele, welche der
glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie
ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten :
— das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von
sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen
ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist. Es zeichnet
vielleicht die Asiaten vor den Europäern aus, dass sie einer
längeren, tieferen Ruhe fähig sind, als diese; selbst ihre
Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der
widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols.
43.
Was die Gesetze verrathen. — Man
vergreift sich sehr, wenn man die Strafgesetze eines Volkes
studirt, als ob sie ein Ausdruck seines Charakters wären; die
Gesetze verrathen nicht Das, was ein Volk ist, sondern Das, was
ihm fremd, seltsam, ungeheuerlich, ausländisch erscheint. Die
Gesetze beziehen sich auf die Ausnahmen der Sittlichkeit der
Sitte; und die härtesten Strafen treffen Das, was der Sitte des
Nachbarvolkes gemäss ist. So giebt es bei den Wahabiten nur zwei
Todsünden: einen anderen Gott haben als den Wahabiten-Gott und —
rauchen (es wird bei ihnen bezeichnet als „die schmachvolle Art
des Trinkens“). „Und wie steht es mit Mord und Ehebruch?“ — fragte
erstaunt der Engländer, der diese Dinge erfuhr. „Nun, Gott ist
gnädig und barmherzig!“ — sagte der alte Häuptling. — So gab es
bei den alten Römern die Vorstellung, dass ein Weib sich nur auf
zweierlei Art tödtlich versündigen könne: einmal durch Ehebruch,
sodann — durch Weintrinken. Der alte Cato meinte, man habe das
Küssen unter Verwandten nur desshalb zur Sitte gemacht, um die
Weiber in diesem Puncte unter Controle zu halten; ein Kuss
bedeute: riecht sie nach Wein? Man hat wirklich Frauen, die beim
Weine ertappt wurden, mit dem Tode gestraft: und gewiss nicht nur,
weil die Weiber mitunter unter der Einwirkung des Weines alles
Nein-Sagen verlernen; die Römer fürchteten vor Allem das
orgiastische und dionysische Wesen, von dem die Weiber des
europäischen Südens damals, als der Wein noch neu in Europa war,
von Zeit zu Zeit heimgesucht wurden, als eine ungeheuerliche
Ausländerei, welche den Grund der römischen Empfindung umwarf; es
war ihnen wie ein Verrath an Rom, wie die Einverleibung des
Auslandes.
44.
Die geglaubten Motive. — So
wichtig es sein mag, die Motive zu wissen, nach denen wirklich die
Menschheit bisher gehandelt hat: vielleicht ist der Glaube an diese oder jene Motive, also
Das, was die Menschheit sich selber als die eigentlichen Hebel
ihres Thuns bisher untergeschoben und eingebildet hat, etwas noch
Wesentlicheres für den Erkennenden. Das innere Glück und Elend der
Menschen ist ihnen nämlich je nach ihrem Glauben an diese oder
jene Motive zu Theil geworden, — nicht
aber durch Das, was wirklich Motiv war! Alles diess Letztere hat
ein Interesse zweiten Ranges.
45.
Epikur. — Ja, ich bin stolz
darauf, den Charakter Epikur’s anders zu empfinden, als irgend
Jemand vielleicht, und bei Allem, was ich von ihm höre und lese,
das Glück des Nachmittags des Alterthums zu geniessen: — ich sehe
sein Auge auf ein weites weissliches Meer blicken, über Uferfelsen
hin, auf denen die Sonne liegt, während grosses und kleines
Gethier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie diess Licht
und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend
Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer
des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche
und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht
mehr satt sehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit
der Wollust.
46.
Unser Erstaunen. — Es liegt ein
tiefes und gründliches Glück darin, dass die Wissenschaft Dinge
ermittelt, die Stand halten
und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittelungen abgeben: —
es könnte ja anders sein! Ja, wir sind so sehr von all der
Unsicherheit und Phantasterei unserer Urtheile und von dem ewigen
Wandel aller menschlichen Gesetze und Begriffe überzeugt, dass es
uns eigentlich ein Erstaunen macht, wie
sehr die Ergebnisse der Wissenschaft Stand halten!
Früher wusste man Nichts von dieser Wandelbarkeit alles
Menschlichen, die Sitte der Sittlichkeit hielt den Glauben
aufrecht, dass das ganze innere Leben des Menschen mit ewigen
Klammern an die eherne Nothwendigkeit geheftet sei: vielleicht
empfand man damals eine ähnliche Wollust des Erstaunens, wenn man
sich Märchen und Feengeschichten erzählen liess. Das Wunderbare
that jenen Menschen so wohl, die der Regel und der Ewigkeit
mitunter wohl müde werden mochten. Einmal den Boden verlieren!
Schweben! Irren! Toll sein! — das gehörte zum Paradies und zur
Schwelgerei früherer Zeiten: während unsere Glückseligkeit der des
Schiffbrüchigen gleicht, der an’s Land gestiegen ist und mit
beiden Füssen sich auf die alte feste Erde stellt — staunend, dass
sie nicht schwankt.
47.
Von der Unterdrückung der Leidenschaften. —
Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet,
wie als etwas den „Gemeinen“, den gröberen, bürgerlichen,
bäuerlichen Naturen zu Ueberlassendes, — also nicht die
Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache
und Gebärde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben Das
mit , was man nicht will: die
Unterdrückung der Leidenschaften selber, mindestens ihre
Schwächung und Veränderung: — wie diess zum belehrendsten
Beispiele der Hof Ludwig’s des Vierzehnten und Alles, was von ihm
abhängig war, erlebt hat. Das Zeitalter darauf ,
erzogen in der Unterdrückung des Ausdrucks, hatte die
Leidenschaften selber nicht mehr und ein anmuthiges, flaches,
spielendes Wesen an ihrer Stelle, — ein Zeitalter, das mit der
Unfähigkeit behaftet war, unartig zu sein: sodass selbst eine
Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen Worten angenommen
und zurückgegeben wurde. Vielleicht giebt unsere Gegenwart das
merkwürdigste Gegenstück dazu ab: ich sehe überall, im Leben und
auf dem Theater, und nicht am wenigsten in Allem, was geschrieben
wird, das Wohlbehagen an allen gröberen
Ausbrüchen und Gebärden der Leidenschaft: es wird jetzt eine
gewisse Convention der Leidenschaftlichkeit verlangt, — nur nicht
die Leidenschaft selber! Trotzdem wird man sie
damit zuletzt erreichen, und unsere Nachkommen werden eine
ächte Wildheit haben und nicht nur
eine Wildheit und Ungebärdigkeit der Formen.
48.
Kenntniss der Noth. — Vielleicht
werden die Menschen und Zeiten durch Nichts so sehr von einander
geschieden, als durch den verschiedenen Grad von Kenntniss der
Noth, den sie haben: Noth der Seele wie des Leibes. In Bezug auf
letztere sind wir Jetzigen vielleicht allesammt, trotz unserer
Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel an reicher
Selbst-Erfahrung Stümper und Phantasten zugleich: im Vergleich zu
einem Zeitalter der Furcht — dem längsten aller Zeitalter —, wo
der Einzelne sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte und um
dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein musste. Damals
machte ein Mann seine reiche Schule körperlicher Qualen und
Entbehrungen durch und begriff selbst in einer gewissen
Grausamkeit gegen sich, in einer freiwilligen Uebung des
Schmerzes, ein ihm nothwendiges Mittel seiner Erhaltung; damals
erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fügte
man gern Schmerz zu und sah das Furchtbarste dieser Art über
Andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl, als das der eigenen
Sicherheit. Was die Noth der Seele aber betrifft, so sehe ich mir
jetzt jeden Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder
Beschreibung kennt; ob er diese Kenntniss zu heucheln doch noch
für nöthig hält, etwa als ein Zeichen der feineren Bildung, oder
ob er überhaupt an grosse Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele
nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben ähnlich ergeht, wie
bei Nennung grosser körperlicher Erduldungen: wobei ihm seine
Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint es mir bei den
Meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen Ungeübtheit im
Schmerz beiderlei Gestalt und einer gewissen Seltenheit des
Anblicks eines Leidenden ergiebt sich nun eine wichtige Folge: man
hasst jetzt den Schmerz viel mehr, als frühere Menschen, und redet
ihm viel übler nach als je, ja, man findet schon das Vorhandensein
des Schmerzes als eines Gedankens
kaum erträglich und macht dem gesammten Dasein eine Gewissenssache
und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen pessimistischer
Philosophien ist durchaus nicht das Merkmal grosser, furchtbarer
Nothstände; sondern diese Fragezeichen am Werthe alles Lebens
werden in Zeiten gemacht, wo die Verfeinerung und Erleichterung
des Daseins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche der Seele und
des Leibes als gar zu blutig und bösartig befindet und in der
Armuth an wirklichen Schmerz-Erfahrungen am liebsten schon
quälende allgemeine Vorstellungen
als das Leid höchster Gattung erscheinen lassen möchte. — Es gäbe
schon ein Recept gegen pessimistische Philosophien und die
übergrosse Empfindlichkeit, welche mir die eigentliche „Noth der
Gegenwart“ zu sein scheint: — aber vielleicht klingt diess Recept
schon zu grausam und würde selber unter die Anzeichen gerechnet
werden, auf Grund deren hin man jetzt urtheilt: „Das Dasein ist
etwas Böses“. Nun! Das Recept gegen „die Noth“ lautet: Noth .
49.
Grossmuth und Verwandtes. — Jene
paradoxen Erscheinungen, wie die plötzliche Kälte im Benehmen des
Gemüthsmenschen, wie der Humor des Melancholikers, wie vor Allem
die Grossmuth , als eine
plötzliche Verzichtleistung auf Rache oder Befriedigung des Neides
— treten an Menschen auf, in denen eine mächtige innere
Schleuderkraft ist, an Menschen der plötzlichen Sättigung und des
plötzlichen Ekels. Ihre Befriedigungen sind so schnell und so
stark, dass diesen sofort Ueberdruss und Widerwille und eine
Flucht in den entgegengesetzten Geschmack auf dem Fusse folgt: in
diesem Gegensatze löst sich der Krampf der Empfindung aus, bei
Diesem durch plötzliche Kälte, bei Jenem durch Gelächter, bei
einem Dritten durch Thränen und Selbstaufopferung. Mir erscheint
der Grossmüthige — wenigstens jene Art des Grossmüthigen, die
immer am meisten Eindruck gemacht hat — als ein Mensch des
äussersten Rachedurstes, dem eine Befriedigung sich in der Nähe
zeigt und der sie so reichlich, gründlich und bis zum letzten
Tropfen schon in der Vorstellung
austrinkt, dass ein ungeheurer schneller Ekel dieser schnellen
Ausschweifung folgt, — er erhebt sich nunmehr „über sich“, wie man
sagt, und verzeiht seinem Feinde, ja segnet und ehrt ihn. Mit
dieser Vergewaltigung seiner selber, mit dieser Verhöhnung seines
eben noch so mächtigen Rachetriebes giebt er aber nur dem neuen
Triebe nach, der eben jetzt in ihm mächtig geworden ist (dem
Ekel), und thut diess ebenso ungeduldig und ausschweifend wie er
kurz vorher die Freude an der Rache mit der Phantasie vorwegnahm und gleichsam ausschöpfte.
Es ist in der Grossmuth der selbe Grad von Egoismus wie in der
Rache, aber eine andere Qualität des Egoismus.
50.
Das Argument der Vereinsamung. —
Der Vorwurf des Gewissens ist auch beim Gewissenhaftesten schwach
gegen das Gefühl: „Diess und Jenes ist wider die gute Sitte
deiner Gesellschaft.“ Ein kalter
Blick, ein verzogener Mund von Seiten Derer, unter denen und für
die man erzogen ist, wird auch vom Stärksten noch gefürchtet . Was wird da eigentlich
gefürchtet? Die Vereinsamung! als das Argument, welches auch die
besten Argumente für eine Person oder Sache niederschlägt! — So
redet der Heerden-Instinct aus uns.
51.
Wahrheitssinn. — Ich lobe mir eine
jede Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu antworten: „Versuchen
wir’s!“ Aber ich mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das
Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören. Diess ist die Grenze
meines „Wahrheitssinnes“: denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht
verloren.
52.
Was Andere von uns wissen. — Das,
was wir von uns selber wissen und im Gedächtniss haben, ist für
das Glück unseres Lebens nicht so entscheidend, wie man glaubt.
Eines Tages stürzt Das, was Andere
von uns wissen (oder zu wissen meinen) über uns her — und jetzt
erkennen wir, dass es das Mächtigere ist. Man wird mit seinem
schlechten Gewissen leichter fertig, als mit seinem schlechten
Rufe.
53.
Wo das Gute beginnt. — Wo die
geringe Sehkraft des Auges den bösen Trieb wegen seiner
Verfeinerung nicht mehr als solchen zu sehen vermag, da setzt der
Mensch das Reich des Guten an, und die Empfindung, nunmehr in’s
Reich des Guten übergetreten zu sein, bringt alle die Triebe in
Miterregung, welche durch die bösen Triebe bedroht und
eingeschränkt waren, wie das Gefühl der Sicherheit, des Behagens,
des Wohlwollens. Also: je stumpfer das Auge, desto weiter reicht
das Gute! Daher die ewige Heiterkeit des Volkes und der Kinder!
Daher die Düsterkeit und der dem schlechten Gewissen verwandte
Gram der grossen Denker!
54.
Das Bewusstsein vom Scheine. — Wie
wundervoll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch fühle
ich mich mit meiner Erkenntniss zum gesammten Dasein gestellt! Ich
habe für mich entdeckt ,
dass die alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte Urzeit und
Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir fortdichtet,
fortliebt, forthasst, fortschliesst, — ich bin plötzlich mitten in
diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben
träume und dass ich weiterträumen muss ,
um nicht zu Grunde zu gehen: wie der Nachtwandler weiterträumen
muss, um nicht hinabzustürzen. Was ist mir jetzt „Schein“!
Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens, — was weiss ich
von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben nur die Prädicate
seines Scheines! Wahrlich nicht eine todte Maske, die man einem
unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen könnte! Schein ist
für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in seiner
Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein
und Irrlicht und Geistertanz und nichts Mehr ist, — dass unter
allen diesen Träumenden auch ich, der „Erkennende“, meinen Tanz
tanze, dass der Erkennende ein Mittel ist, den irdischen Tanz in
die Länge zu ziehen und insofern zu den Festordnern des Daseins
gehört, und dass die erhabene Consequenz und Verbundenheit aller
Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und sein wird, die
Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlichkeit aller
dieser Träumenden unter einander und eben damit die
Dauer des Traumes aufrecht zu erhalten .
55.
Der letzte Edelsinn. — Was macht
denn „edel“? Gewiss nicht, dass man Opfer bringt; auch der rasend
Wolllüstige bringt Opfer. Gewiss nicht, dass man überhaupt einer
Leidenschaft folgt; es giebt verächtliche Leidenschaften. Gewiss
nicht, dass man für Andere Etwas thut und ohne Selbstsucht:
vielleicht ist die Consequenz der Selbstsucht gerade bei dem
Edelsten am grössten. — Sondern dass die Leidenschaft, die den
Edeln befällt, eine Sonderheit ist, ohne dass er um diese
Sonderheit weiss: der Gebrauch eines seltenen und singulären
Maassstabes und beinahe eine Verrücktheit: das Gefühl der Hitze in
Dingen, welche sich für alle Anderen kalt anfühlen: ein Errathen
von Werthen, für die die Wage noch nicht erfunden ist: ein
Opferbringen auf Altären, die einem unbekannten Gotte geweiht
sind: eine Tapferkeit ohne den Willen zur Ehre: eine
Selbstgenügsamkeit, welche Ueberfluss hat und an Menschen und
Dinge mittheilt. Bisher war es also das Seltene und die
Unwissenheit um diess Seltensein, was edel machte. Dabei erwäge
man aber, dass durch diese Richtschnur alles Gewöhnte, Nächste und
Unentbehrliche, kurz, das am meisten Arterhaltende, und überhaupt
die Regel in der
bisherigen Menschheit, unbillig beurtheilt und im Ganzen
verleumdet worden ist, zu Gunsten der Ausnahmen. Der Anwalt der
Regel werden — das könnte vielleicht die letzte Form und Feinheit
sein, in welcher der Edelsinn auf Erden sich offenbart.
56.
Die Begierde nach Leiden. — Denke
ich an die Begierde, Etwas zu thun, wie sie die Millionen junger
Europäer fortwährend kitzelt und stachelt, welche alle die
Langeweile und sich selber nicht ertragen können, — so begreife
ich, dass in ihnen eine Begierde, Etwas zu leiden, sein muss, um
aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Thun, zur That
herzunehmen. Noth ist nöthig! Daher das Geschrei der Politiker,
daher die vielen falschen, erdichteten, übertriebenen „Nothstände“
aller möglichen Classen und die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu
glauben. Diese junge Welt verlangt, von
Aussen her solle — nicht etwa das Glück — sondern das
Unglück kommen oder sichtbar werden; und ihre Phantasie ist schon
voraus geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie
nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne. Fühlten diese
Nothsüchtigen in sich die Kraft, von Innen her sich selber
wohlzuthun, sich selber Etwas anzuthun, so würden sie auch
verstehen, von Innen her sich eine eigene, selbsteigene Noth zu
schaffen. Ihre Erfindungen könnten dann feiner sein und ihre
Befriedigungen könnten wie gute Musik klingen: während sie jetzt
die Welt mit ihrem Nothgeschrei und folglich gar zu oft erst mit
dem Nothgefühle
anfüllen! Sie verstehen mit sich Nichts anzufangen — und so malen
sie das Unglück Anderer an die Wand: sie haben immer Andere
nöthig! Und immer wieder andere Andere! — Verzeihung, meine
Freunde, ich habe gewagt, mein Glück
an die Wand zu malen.
57.
An die Realisten. — Ihr nüchternen
Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei
gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath aus eurer
Leere machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so
wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen: vor
euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber
wäret vielleicht der beste Theil davon, — oh ihr geliebten Bilder
von Sais! Aber seid nicht auch ihr in eurem entschleiertsten
Zustande noch höchst leidenschaftliche und dunkle Wesen,
verglichen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten
Künstler allzu ähnlich? — und was ist für einen verliebten
Künstler „Wirklichkeit“! Immer noch tragt ihr die Schätzungen der
Dinge mit euch herum, welche in den Leidenschaften und
Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben! Immer
noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unvertilgbare
Trunkenheit einverleibt! Eure Liebe zur „Wirklichkeit“ zum
Beispiel — oh das ist eine alte uralte „Liebe“! In jeder
Empfindung, in jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten
Liebe: und ebenso hat irgend eine Phantasterei, ein Vorurtheil,
eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch
Alles! daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg! Da jene Wolke!
Was ist denn daran „wirklich“? Zieht einmal das Phantasma und die
ganze menschliche Zuthat
davon ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das
könntet! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule
vergessen könntet, — eure gesammte Menschheit und Thierheit! Es
giebt für uns keine „Wirklichkeit“ — und auch für euch nicht, ihr
Nüchternen —, wir sind einander lange nicht so fremd, als ihr
meint, und vielleicht ist unser guter Wille, über die Trunkenheit
hinauszukommen, ebenso achtbar als euer Glaube, der Trunkenheit
überhaupt unfähig zu
sein.
58.
Nur als Schaffende! — Diess hat
mir die grösste Mühe gemacht und macht mir noch immerfort die
grösste Mühe: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt,
wie die Dinge heissen , als was sie
sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass
und Gewicht eines Dinges — im Ursprunge zuallermeist ein Irrthum
und eine Willkürlichkeit, den Dingen übergeworfen wie ein Kleid
und seinem Wesen und selbst seiner Haut ganz fremd — ist durch den
Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht
dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem
Leibe selber geworden: der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast
immer zum Wesen und wirkt
als Wesen! Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge,
auf diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen,
um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte „ Wirklichkeit “,
zu vernichten ! Nur als
Schaffende können wir vernichten! — Aber vergessen wir auch diess
nicht: es genügt, neue Namen und Schätzungen und
Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue
„Dinge“ zu schaffen.
59.
Wir Künstler! — Wenn wir ein Weib
lieben, so haben wir leicht einen Hass auf die Natur, aller der
widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib ausgesetzt
ist; gerne denken wir überhaupt daran vorbei, aber wenn einmal
unsere Seele diese Dinge streift, so zuckt sie ungeduldig und
blickt, wie gesagt, verächtlich nach der Natur hin: — wir sind
beleidigt, die Natur scheint in unsern Besitz einzugreifen und mit
den ungeweihtesten Händen. Da macht man die Ohren zu gegen alle
Physiologie und decretirt für sich insgeheim „ich will davon, dass
der Mensch noch etwas Anderes ist, ausser Seele
und Form , Nichts hören!“ „Der Mensch unter der Haut“
ist allen Liebenden ein Greuel und Ungedanke, eine Gottes- und
Liebeslästerung. — Nun, so wie jetzt noch der Liebende empfindet,
in Hinsicht der Natur und Natürlichkeit, so empfand ehedem jeder
Verehrer Gottes und seiner „heiligen Allmacht“: bei Allem, was von
der Natur gesagt wurde, durch Astronomen, Geologen, Physiologen,
Aerzte, sah er einen Eingriff in seinen köstlichsten Besitz und
folglich einen Angriff, — und noch dazu eine Schamlosigkeit des
Angreifenden! Das „Naturgesetz “ klang ihm schon wie eine
Verleumdung Gottes; im Grunde hätte er gar zu gerne alle Mechanik
auf moralische Willens- und Willküracte zurückgeführt gesehn: —
aber weil ihm Niemand diesen Dienst erweisen konnte, so verhehlte er sich die Natur und
Mechanik, so gut er konnte und lebte im Traum. Oh diese Menschen
von ehedem haben verstanden zu träumen
und hatten nicht erst nöthig, einzuschlafen! — und auch wir
Menschen von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem
unseren guten Willen zum Wachsein und zum Tage! Es genügt, zu
lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu empfinden, —
sofort kommt der Geist und die
Kraft des Traumes über uns, und wir steigen offenen Auges und kalt
gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf
die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel,
wie geboren zum Klettern — wir Nachtwandler des Tages! Wir
Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit! Wir Mond- und
Gottsüchtigen! Wir todtenstillen unermüdlichen Wanderer, auf
Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen,
als unsere Sicherheiten!
60.
Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne. —
Habe ich noch Ohren? Bin ich nur noch Ohr und Nichts weiter mehr?
Hier stehe ich inmitten des Brandes der Brandung, deren weisse
Flammen bis zu meinem Fusse heraufzüngeln: — von allen Seiten
heult, droht, schreit, schrillt es auf mich zu, während in der
tiefsten Tiefe der alte Erderschütterer seine Arie singt, dumpf
wie ein brüllender Stier: er stampft sich dazu einen solchen
Erderschütterer-Tact, dass selbst diesen verwetterten Felsunholden
hier das Herz darüber im Leibe zittert. Da, plötzlich, wie aus dem
Nichts geboren, erscheint vor dem Thore dieses höllischen
Labyrinthes, nur wenige Klafter weit entfernt, — ein grosses
Segelschiff, schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend. Oh diese
gespenstische Schönheit! Mit welchem Zauber fasst sie mich an!
Wie? Hat alle Ruhe und Schweigsamkeit der Welt sich hier
eingeschifft? Sitzt mein Glück selber an diesem stillen Platze,
mein glücklicheres Ich, mein zweites verewigtes Selbst? Nicht todt
sein und doch auch nicht mehr lebend? Als ein geisterhaftes,
stilles, schauendes, gleitendes, schwebendes Mittelwesen? Dem
Schiffe gleichend, welches mit seinen weissen Segeln wie ein
ungeheurer Schmetterling über das dunkle Meer hinläuft! Ja!
Ueber das Dasein hinlaufen! Das ist
es! Das wäre es! — — Es scheint, der Lärm hier hat mich zum
Phantasten gemacht? Aller grosse Lärm macht, dass wir das Glück in
die Stille und Ferne setzen. Wenn ein Mann inmitten seines Lärmes steht, inmitten seiner
Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille
zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und
Zurückgezogenheit er sich sehnt, — es
sind die Frauen . Fast meint er, dort bei den Frauen
wohne sein besseres Selbst: an diesen stillen Plätzen werde auch
die lauteste Brandung zur Todtenstille und das Leben selber zum
Traume über das Leben. Jedoch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es
giebt auch auf dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und
Lärm und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und
die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der
Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in
distans: dazu gehört aber, zuerst und vor Allem — Distanz !
61.
Zu Ehren der Freundschaft. — Dass
das Gefühl der Freundschaft dem Alterthum als das höchste Gefühl
galt, höher selbst als der gerühmteste Stolz des Selbstgenügsamen
und Weisen, ja gleichsam als dessen einzige und noch heiligere
Geschwisterschaft: diess drückt sehr gut die Geschichte von jenem
macedonischen Könige aus, der einem weltverachtenden Philosophen
Athen’s ein Talent zum Geschenk machte und es von ihm
zurückerhielt. „Wie? sagte der König, hat er denn keinen Freund?“
Damit wollte er sagen: „ich ehre diesen Stolz des Weisen und
Unabhängigen, aber ich würde seine Menschlichkeit noch höher
ehren, wenn der Freund in ihm den Sieg über seinen Stolz
davongetragen hätte. Vor mir hat sich der Philosoph herabgesetzt,
indem er zeigte, dass er eines der beiden höchsten Gefühle nicht
kennt, — und zwar das höhere nicht!“
62.
Liebe. — Die Liebe vergiebt dem
Geliebten sogar die Begierde.
63.
Das Weib in der Musik. — Wie kommt
es, dass warme und regnerische Winde auch die musikalische
Stimmung und die erfinderische Lust der Melodie mit sich führen?
Sind es nicht die selben Winde, welche die Kirchen füllen und den
Frauen verliebte Gedanken geben?
De vrouw in de muziek .
— Hoe komt het dat warme en regenachtige winden ook de muzikale
stemming en de lust om melodieën te verzinnen met zich meebrengen?
Zijn het niet dezelfde winden die de kerken vullen en de vrouwen
verliefde gedachten inblazen?
64.
Skeptiker. — Ich fürchte, dass
altgewordene Frauen im geheimsten Verstecke ihres Herzens
skeptischer sind, als alle Männer: sie glauben an die
Oberflächlichkeit des Daseins als an sein Wesen, und alle Tugend
und Tiefe ist ihnen nur Verhüllung dieser „Wahrheit“, die sehr
wünschenswerthe Verhüllung eines pudendum —, also eine Sache des
Anstandes und der Scham, und nicht mehr!
65.
Hingebung. — Es giebt edle Frauen
mit einer gewissen Armuth des Geistes, welche, um ihre tiefste
Hingebung auszudrücken ,
sich nicht anders zu helfen wissen, als so, dass sie ihre Tugend
und Scham anbieten: es ist ihnen ihr Höchstes. Und oft wird diess
Geschenk angenommen, ohne so tief zu verpflichten, als die
Geberinnen voraussetzen, — eine sehr schwermüthige Geschichte!
66.
Die Stärke der Schwachen. — Alle
Frauen sind fein darin, ihre Schwäche zu übertreiben, ja sie sind
erfinderisch in Schwächen, um ganz und gar als zerbrechliche
Zierathen zu erscheinen, denen selbst ein Stäubchen wehe thut: ihr
Dasein soll dem Manne seine Plumpheit zu Gemüthe führen und in’s
Gewissen schieben. So wehren sie sich gegen die Starken und alles
„Faustrecht“.
67.
Sich selber heucheln. — Sie liebt
ihn nun und blickt seitdem mit so ruhigem Vertrauen vor sich hin
wie eine Kuh: aber wehe! Gerade diess war seine Bezauberung, dass
sie durchaus veränderlich und unfassbar schien! Er hatte eben
schon zu viel beständiges Wetter an sich selber! Sollte sie nicht
gut thun, ihren alten Charakter zu heucheln? Lieblosigkeit zu
heucheln? Räth ihr also nicht — die Liebe? Vivat comoedia!
68.
Wille und Willigkeit. — Man
brachte einen Jüngling zu einem weisen Manne und sagte: „Siehe,
das ist Einer, der durch die Weiber verdorben wird!“ Der weise
Mann schüttelte den Kopf und lächelte. „Die Männer sind es, rief
er, welche die Weiber verderben: und Alles, was die Weiber fehlen,
soll an den Männern gebüsst und gebessert werden, — denn der Mann
macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach
diesem Bilde.“ — „Du bist zu mildherzig gegen die Weiber, sagte
einer der Umstehenden, du kennst sie nicht!“ Der weise Mann
antwortete: „Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit,
— so ist es das Gesetz der Geschlechter, wahrlich! ein hartes
Gesetz für das Weib! Alle Menschen sind unschuldig für ihr Dasein,
die Weiber aber sind unschuldig im zweiten Grade: wer könnte für
sie des Oels und der Milde genug haben.“ — Was Oel! Was Milde!
rief ein Anderer aus der Menge; man muss die Weiber besser
erziehen! — „Man muss die Männer besser erziehen,“ sagte der weise
Mann und winkte dem Jünglinge, dass er ihm folge. — Der Jüngling
aber folgte ihm nicht.
Willen en gewilligheid. — Men bracht
een jongeling naar een wijze man en zei: “Kijk, hier heb je iemand
die door de vrouwen wordt bedorven!” De wijze man schudde zijn hoofd
en glimlachte. “Het zijn de mannen,” riep hij uit, “die de vrouwen
bederven: en alles wat de vrouwen ontbreekt, moet op de mannen
verhaald en verbeterd worden, — want de man vormt zich een beeld van
de vrouw, en de vrouw vormt zich naar dit beeld.” — “Je bent te mild
voor de vrouwen,” zei een van de omstanders, “je kent ze niet!” De
wijze man antwoordde: “De aard van de man is te willen, de aard van
de vrouw is gewilligheid, zo is de wet van de seksen; voorwaar een
harde wet voor de vrouw! Alle mensen zijn onschuldig aan hun
bestaan, maar de vrouwen zijn onschuldig in de tweede graad: wie zou
voor hen genoeg balsem en mildheid kunnen hebben.” “Wat, balsem!
Wat, mildheid!” riep een ander uit de menigte; men moet de vrouwen
beter opvoeden! - “Men moet de mannen beter opvoeden,” zei de wijze
man en wenkte de jongeling om hem te volgen. Maar de jongeling
volgde hem niet.
69.
Fähigkeit zur Rache. — Dass Einer
sich nicht vertheidigen kann und folglich auch nicht will,
gereicht ihm in unsern Augen noch nicht zur Schande: aber wir
schätzen Den gering, der zur Rache weder das Vermögen noch den
guten Willen hat, — gleichgültig ob Mann oder Weib. Würde uns ein
Weib festhalten (oder wie man sagt „fesseln“) können, dem wir
nicht zutrauten, dass es unter Umständen den Dolch (irgend eine
Art von Dolch) gegen
uns gut zu handhaben wüsste? Oder gegen sich: was in einem
bestimmten Falle die empfindlichere Rache wäre (die chinesische
Rache).
70.
Die Herrinnen der Herren. — Eine
tiefe mächtige Altstimme, wie man sie bisweilen im Theater hört,
zieht uns plötzlich den Vorhang vor Möglichkeiten auf, an die wir
für gewöhnlich nicht glauben: wir glauben mit Einem Male daran,
dass es irgendwo in der Welt Frauen mit hohen, heldenhaften,
königlichen Seelen geben könne, fähig und bereit zu grandiosen
Entgegnungen, Entschliessungen und Aufopferungen, fähig und bereit
zur Herrschaft über Männer, weil in ihnen das Beste vom Manne,
über das Geschlecht hinaus, zum leibhaften Ideale geworden ist.
Zwar sollen solche Stimmen nach der Absicht des Theaters gerade
nicht diesen Begriff vom Weibe
geben: gewöhnlich sollen sie den idealen männlichen Liebhaber, zum
Beispiel einen Romeo, darstellen; aber nach meiner Erfahrung zu
urtheilen, verrechnet sich dabei das Theater und der Musiker, der
von einer solchen Stimme solche Wirkungen erwartet, ganz
regelmässig. Man glaubt nicht an diese
Liebhaber: diese Stimmen enthalten immer noch eine Farbe des
Mütterlichen und Hausfrauenhaften, und gerade dann am meisten,
wenn Liebe in ihrem Klange ist.
71.
Von der weiblichen Keuschheit. —
Es ist etwas ganz Erstaunliches und Ungeheures in der Erziehung
der vornehmen Frauen, ja vielleicht giebt es nichts Paradoxeres.
Alle Welt ist darüber einverstanden, sie in eroticis so unwissend
wie möglich zu erziehen und ihnen eine tiefe Scham vor dergleichen
und die äusserste Ungeduld und Flucht beim Andeuten dieser Dinge
in die Seele zu geben. Alle „Ehre“ des Weibes steht im Grunde nur
hier auf dem Spiele: was verziehe man ihnen sonst nicht! Aber
hierin sollen sie unwissend bis in’s Herz hinein bleiben: — sie
sollen weder Augen, noch Ohren, noch Worte, noch Gedanken für
diess ihr „Böses“ haben: ja das Wissen ist hier schon das Böse.
Und nun! Wie mit einem grausigen Blitzschlage in die Wirklichkeit
und das Wissen geschleudert werden, mit der Ehe — und zwar durch
Den, welchen sie am meisten lieben und hochhalten: Liebe und Scham
im Widerspruch ertappen, ja Entzücken, Preisgebung, Pflicht,
Mitleid und Schrecken über die unerwartete Nachbarschaft von Gott
und Thier und was Alles sonst noch! in Einem empfinden müssen! —
Da hat man in der That sich einen Seelen-Knoten geknüpft, der
seines Gleichen sucht! Selbst die mitleidige Neugier des weisesten
Menschenkenners reicht nicht aus, zu errathen, wie sich dieses und
jenes Weib in diese Lösung des Räthsels und in diess Räthsel von
Lösung zu finden weiss, und was für schauerliche, weithin
greifende Verdachte sich dabei in der armen aus den Fugen
gerathenen Seele regen müssen, ja wie die letzte Philosophie und
Skepsis des Weibes an diesem Puncte ihre Anker wirft! — Hinterher
das selbe tiefe Schweigen wie vorher: und oft ein Schweigen vor
sich selber, ein Augen-Zuschliessen vor sich selber. — Die jungen
Frauen bemühen sich sehr darum, oberflächlich und gedankenlos zu
erscheinen; die feinsten unter ihnen erheucheln eine Art
Frechheit. — Die Frauen empfinden leicht ihre Männer als ein
Fragezeichen ihrer Ehre und ihre Kinder als eine Apologie oder
Busse, — sie bedürfen der Kinder und wünschen sie sich, in einem
ganz anderen Sinne als ein Mann sich Kinder wünscht. — Kurz, man
kann nicht mild genug gegen die Frauen sein!
72.
Die Mütter. — Die Thiere denken
anders über die Weiber, als die Menschen; ihnen gilt das Weibchen
als das productive Wesen. Vaterliebe giebt es bei ihnen nicht,
aber so Etwas wie Liebe zu den Kindern einer Geliebten und
Gewöhnung an sie. Die Weibchen haben an den Kindern Befriedigung
ihrer Herrschsucht, ein Eigenthum, eine Beschäftigung, etwas ihnen
ganz Verständliches, mit dem man schwätzen kann: diess Alles
zusammen ist Mutterliebe, — sie ist mit der Liebe des Künstlers zu
seinem Werke zu vergleichen. Die Schwangerschaft hat die Weiber
milder, abwartender, furchtsamer, unterwerfungslustiger gemacht;
und ebenso erzeugt die geistige Schwangerschaft den Charakter der
Contemplativen, welcher dem weiblichen Charakter verwandt ist: —
es sind die männlichen Mütter. — Bei den Thieren gilt das
männliche Geschlecht als das schöne.
73.
Heilige Grausamkeit. — Zu einem
Heiligen trat ein Mann, der ein eben geborenes Kind in den Händen
hielt. „Was soll ich mit dem Kinde machen? fragte er, es ist
elend, missgestaltet und hat nicht genug Leben, um zu sterben.“
„Tödte es, rief der Heilige mit schrecklicher Stimme, tödte es und
halte es dann drei Tage und drei Nächte lang in deinen Armen, auf
dass du dir ein Gedächtniss machest: — so wirst du nie wieder ein
Kind zeugen, wenn es nicht an der Zeit für dich ist, zu zeugen.“ —
Als der Mann diess gehört hatte, gieng er enttäuscht davon; und
Viele tadelten den Heiligen, weil er zu einer Grausamkeit gerathen
hatte, denn er hatte gerathen, das Kind zu tödten. „Aber ist es
nicht grausamer, es leben zu lassen?“ sagte der Heilige.
74.
Die Erfolglosen. — Jenen armen
Frauen fehlt es immer an Erfolg, welche in Gegenwart Dessen, den
sie lieben, unruhig und unsicher werden und zu viel reden: denn
die Männer werden am sichersten durch eine gewisse heimliche und
phlegmatische Zärtlichkeit verführt.
75.
Das dritte Geschlecht. — „Ein
kleiner Mann ist eine Paradoxie, aber doch ein Mann, — aber die
kleinen Weibchen scheinen mir, im Vergleich mit hochwüchsigen
Frauen, von einem anderen Geschlechte zu sein“ — sagte ein alter
Tanzmeister. Ein kleines Weib ist niemals schön — sagte der alte
Aristoteles.
76.
Die grösste Gefahr. — Hätte es
nicht allezeit eine Ueberzahl von Menschen gegeben, welche die
Zucht ihres Kopfes — ihre „Vernünftigkeit“ — als ihren Stolz, ihre
Verpflichtung, ihre Tugend fühlten, welche durch alles Phantasiren
und Ausschweifen des Denkens beleidigt oder beschämt wurden, als
die Freunde „des gesunden Menschenverstandes“: so wäre die
Menschheit längst zu Grunde gegangen! Ueber ihr schwebte und
schwebt fortwährend als ihre grösste Gefahr der ausbrechende
Irrsinn — das heisst eben das
Ausbrechen des Beliebens im Empfinden, Sehen und Hören, der Genuss
in der Zuchtlosigkeit des Kopfes, die Freude am
Menschen-Unverstande. Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der
Gegensatz der Welt des Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und
Allverbindlichkeit eines Glaubens, kurz das Nicht-Beliebige im
Urtheilen. Und die grösste Arbeit der Menschen bisher war die,
über sehr viele Dinge mit einander übereinzustimmen und sich ein
Gesetz der Uebereinstimmung
aufzulegen — gleichgültig, ob diese Dinge wahr oder falsch sind.
Diess ist die Zucht des Kopfes, welche die Menschheit erhalten
hat; — aber die Gegentriebe sind immer noch so mächtig, dass man
im Grunde von der Zukunft der Menschheit mit wenig Vertrauen reden
darf. Fortwährend schiebt und verschiebt sich noch das Bild der
Dinge, und vielleicht von jetzt ab mehr und schneller als je;
fortwährend sträuben sich gerade die ausgesuchtesten Geister gegen
jene Allverbindlichkeit — die Erforscher der Wahrheit
voran! Fortwährend erzeugt jener Glaube als Allerweltsglaube einen
Ekel und eine neue Lüsternheit bei feineren Köpfen: und schon das
langsame Tempo, welches er für alle geistigen Processe verlangt,
jene Nachahmung der Schildkröte, welche hier als die Norm
anerkannt wird, macht Künstler und Dichter zu Ueberläufern: —
diese ungeduldigen Geister sind es, in denen eine förmliche Lust
am Irrsinn ausbricht, weil der Irrsinn ein so fröhliches Tempo
hat! Es bedarf also der tugendhaften Intellecte, — ach! ich will
das unzweideutigste Wort gebrauchen — es bedarf der tugendhaften Dummheit , es bedarf
unerschütterlicher Tactschläger des langsamen
Geistes, damit die Gläubigen des grossen Gesammtglaubens bei
einander bleiben und ihren Tanz weitertanzen: es ist eine
Nothdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert.
Wir Andern sind die Ausnahme und die Gefahr ,
— wir bedürfen ewig der Vertheidigung! — Nun, es lässt sich
wirklich etwas zu Gunsten der Ausnahme sagen, vorausgesetzt,
dass sie nie Regel werden will .
77.
Das Thier mit gutem Gewissen. —
Das Gemeine in Alledem, was im Süden Europa’s gefällt — sei diess
nun die italiänische Oper (zum Beispiel Rossini’s und Bellini’s)
oder der spanische Abenteuer-Roman (uns in der französischen
Verkleidung des Gil Blas am besten zugänglich) — bleibt mir nicht
verborgen, aber es beleidigt mich nicht, ebensowenig als die
Gemeinheit, der man bei einer Wanderung durch Pompeji und im
Grunde selbst beim Lesen jedes antiken Buches begegnet: woher
kommt diess? Ist es, dass hier die Scham fehlt und dass alles
Gemeine so sicher und seiner gewiss auftritt, wie irgend etwas
Edles, Liebliches und Leidenschaftliches in der selben Art Musik
oder Roman? „Das Thier hat sein Recht wie der Mensch: so mag es
frei herumlaufen, und du, mein lieber Mitmensch, bist auch diess
Thier noch, trotz Alledem!“ — das scheint mir die Moral der Sache
und die Eigenheit der südländischen Humanität zu sein. Der
schlechte Geschmack hat sein Recht wie der gute, und sogar ein
Vorrecht vor ihm, falls er das grosse Bedürfniss, die sichere
Befriedigung und gleichsam eine allgemeine Sprache, eine unbedingt
verständliche Larve und Gebärde ist: der gute, gewählte Geschmack
hat dagegen immer etwas Suchendes, Versuchtes, seines
Verständnisses nicht völlig Gewisses, — er ist und war niemals
volksthümlich! Volksthümlich ist und bleibt die Maske !
So mag denn alles diess Maskenhafte in den Melodien und Cadenzen,
in den Sprüngen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern
dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht man von dem, wenn
man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften
nicht versteht! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken
Geistes: — und vielleicht war diess Bad den seltenen und erhabenen
Naturen der alten Welt noch nöthiger, als den gemeinen. — Dagegen
beleidigt mich eine gemeine Wendung in nordischen Werken, zum
Beispiel in deutscher Musik, unsäglich. Hier ist Scham
dabei, der Künstler ist vor sich selber hinabgestiegen und konnte
es nicht einmal verhüten, dabei zu erröthen: wir schämen uns mit
ihm und sind so beleidigt, weil wir ahnen, dass er unseretwegen
glaubte hinabsteigen zu müssen.
78.
Wofür wir dankbar sein sollen. —
Erst die Künstler, und namentlich die des Theaters, haben den
Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit einigem Vergnügen
zu hören und zu sehen, was Jeder selber ist, selber erlebt, selber
will; erst sie haben uns die Schätzung des Helden, der in jedem
von allen diesen Alltagsmenschen verborgen ist, und die Kunst
gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleichsam
vereinfacht und verklärt ansehen könne, — die Kunst, sich vor sich
selber „in Scene zu setzen“. So allein kommen wir über einige
niedrige Details an uns hinweg! Ohne jene Kunst würden wir Nichts
als Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben,
welche das Nächste und Gemeinste als ungeheuer gross und als die
Wirklichkeit an sich erscheinen lässt. — Vielleicht giebt es ein
Verdienst ähnlicher Art an jener Religion, welche die
Sündhaftigkeit jedes einzelnen Menschen mit dem
Vergrösserungsglase ansehen hiess und aus dem Sünder einen
grossen, unsterblichen Verbrecher machte: indem sie ewige
Perspectiven um ihn beschrieb, lehrte sie den Menschen, sich aus
der Ferne und als etwas Vergangenes, Ganzes sehen.
Waarvoor we dankbaar moeten zijn. —
Pas de kunstenaars, en wel met name die van het theater, hebben
mensen ogen en oren gegeven, om met enig geneogen dàt te horen en te
zien, wat elke mens zelf is, zelf beleeft, zelf wil; Zij hebben ons
geleerd de held te waarderen die in al die alledaagse mensen
verborgen zit, en ook de kunst om onszelf als held te zien, door ons
van een afstand en als het ware vereenvoudigd en verheerlijkt waar
te nemen — de kunst om ons voor onszelf ‘in scène te zetten’. Alleen
zo kunnen we enkele banale details die ons aankleven, overstijgen!
Zonder die kunst zouden we niets anders zijn dan voorgrond, en
zouden we volledig in de ban leven van die optische illusie, dat het
meest nabije en gewone ontzettend groot, ja de werkelijkheid zelf,
is. — Misschien heeft ook die religie, die de
zondigheid van elke individuele mens onder het vergrootglas legde,
en de zondaar zo tot een grote, onsterfelijke misdadiger maakte, wel
een soortgelijk verdienste: door eeuwige perspectieven om hem heen
te schetsen, leerde zij de mens zichzelf van een afstand te
bekijken, d.w.z. als iets dat voorbij gaant, als een afgerond
geheel.
79.
Reiz der Unvollkommenheit. — Ich
sehe hier einen Dichter, der, wie so mancher Mensch, durch seine
Unvollkommenheiten einen höheren Reiz ausübt, als durch alles Das,
was sich unter seiner Hand rundet und vollkommen gestaltet, — ja
er hat den Vortheil und den Ruhm vielmehr von seinem letzten
Unvermögen, als von seiner reichen Kraft. Sein Werk spricht es
niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er
gesehen haben möchte : es scheint,
dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie
selber: — aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist
in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso
ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und Heisshungers. Mit ihr
hebt er Den, welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle „Werke“
hinaus und giebt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer
nie sonst steigen: und so, selber zu Dichtern und Sehern geworden,
zollen sie dem Urheber ihres Glückes eine Bewunderung, wie als ob
er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten
geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision
wirklich gesehen und
mitgetheilt hätte. Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich
an’s Ziel gekommen zu sein.
80.
Kunst und Natur. — Die Griechen
(oder wenigstens die Athener) hörten gerne gut reden: ja sie
hatten einen gierigen Hang darnach, der sie mehr als alles Andere
von den Nicht-Griechen unterscheidet. Und so verlangten sie selbst
von der Leidenschaft auf der Bühne, dass sie gut rede, und liessen
die Unnatürlichkeit des dramatischen Verses mit Wonne über sich
ergehen: — in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg! so
stumm und verlegen! Oder wenn sie Worte findet, so verwirrt und
unvernünftig und sich selber zur Scham! Nun haben wir uns Alle,
Dank den Griechen, an diese Unnatur auf der Bühne gewöhnt, wie wir
jene andere Unnatur, die singende
Leidenschaft ertragen und gerne ertragen, Dank den Italiänern. —
Es ist uns ein Bedürfniss geworden, welches wir aus der
Wirklichkeit nicht befriedigen können: Menschen in den schwersten
Lagen gut und ausführlich reden zu hören: es entzückt uns jetzt,
wenn der tragische Held da noch Worte, Gründe, beredte Gebärden
und im Ganzen eine helle Geistigkeit findet, wo das Leben sich den
Abgründen nähert, und der wirkliche Mensch meistens den Kopf und
gewiss die schöne Sprache verliert. Diese Art Abweichung
von der Natur ist vielleicht die angenehmste Mahlzeit
für den Stolz des Menschen; ihretwegen überhaupt liebt er die
Kunst, als den Ausdruck einer hohen, heldenhaften Unnatürlichkeit
und Convention. Man macht mit Recht dem dramatischen Dichter einen
Vorwurf daraus, wenn er nicht Alles in Vernunft und Wort
verwandelt, sondern immer einen Rest Schweigen
in der Hand zurückbehält: — so wie man mit dem Musiker der Oper
unzufrieden ist, der für den höchsten Affect nicht eine Melodie,
sondern nur ein affectvolles „natürliches“ Stammeln und Schreien
zu finden weiss. Hier soll
eben der Natur widersprochen werden! Hier soll
eben der gemeine Reiz der Illusion einem höheren Reize weichen!
Die Griechen gehen auf diesem Wege weit, weit — zum Erschrecken
weit! Wie sie die Bühne so schmal wie möglich bilden und alle
Wirkung durch tiefe Hintergründe sich verbieten, wie sie dem
Schauspieler das Mienenspiel und die leichte Bewegung unmöglich
machen und ihn in einen feierlichen, steifen, maskenhaften Popanz
verwandeln, so haben sie auch der Leidenschaft selber den tiefen
Hintergrund genommen und ihr ein Gesetz der schönen Rede dictirt,
ja sie haben überhaupt Alles gethan, um der elementaren Wirkung
furcht- und mitleiderweckender Bilder entgegenzuwirken: sie wollten eben nicht Furcht und Mitleid ,
— Aristoteles in Ehren und höchsten Ehren! aber er traf sicherlich
nicht den Nagel, geschweige den Kopf des Nagels, als er vom
letzten Zweck der griechischen Tragödie sprach! Man sehe sich doch
die griechischen Dichter der Tragödie darauf hin an, was am Meisten ihren Fleiss, ihre
Erfindsamkeit, ihren Wetteifer erregt hat, — gewiss nicht die
Absicht auf Ueberwältigung der Zuschauer durch Affecte! Der
Athener gieng in’s Theater, um
schöne Reden zu hören ! Und um schöne Reden war es dem
Sophokles zu thun! — man vergebe mir diese Ketzerei! — Sehr
verschieden steht es mit der ernsten
Oper : alle ihre Meister lassen es sich angelegen
sein, zu verhüten, dass man ihre Personen verstehe. Ein
gelegentlich aufgerafftes Wort mag dem unaufmerksamen Zuhörer zu
Hülfe kommen: im Ganzen muss die Situation sich selber erklären, —
es liegt Nichts an den Reden! — so denken sie Alle und so haben
sie Alle mit den Worten ihre Possen getrieben. Vielleicht hat es
ihnen nur an Muth gefehlt, um ihre letzte Geringschätzung des
Wortes ganz auszudrücken: ein wenig Frechheit mehr bei Rossini und
er hätte durchweg la-la-la-la singen lassen — und es wäre Vernunft
dabei gewesen! Es soll den Personen der Oper eben nicht „auf’s
Wort“ geglaubt werden, sondern auf den Ton! Das ist der
Unterschied, das ist die schöne Unnatürlichkeit ,
derentwegen man in die Oper geht! Selbst das recitativo secco will
nicht eigentlich als Wort und Text angehört sein: diese Art von
Halbmusik soll vielmehr dem musicalischen Ohre zunächst eine
kleine Ruhe geben (die Ruhe von der Melodie ,
als dem sublimsten und desshalb auch anstrengendsten Genusse
dieser Kunst) —, aber sehr bald etwas Anderes: nämlich eine
wachsende Ungeduld, ein wachsendes Widerstreben, eine neue
Begierde nach ganzer
Musik, nach Melodie. — Wie verhält es sich, von diesem
Gesichtspuncte aus gesehen, mit der Kunst Richard Wagner’s?
Vielleicht anders? Oft wollte es mir scheinen, als ob man Wort
und Musik seiner Schöpfungen vor
der Aufführung auswendig gelernt haben müßte: denn ohne diess — so
schien es mir — höre
man weder die Worte noch selber die Musik.
81.
Griechischer Geschmack. — „Was ist
Schönes daran? — sagte jener Feldmesser nach einer Aufführung der
Iphigenie — es wird Nichts darin bewiesen!“ Sollten die Griechen
so fern von diesem Geschmacke gewesen sein? Bei Sophokles
wenigstens wird „Alles bewiesen“.
82.
Der esprit ungriechisch. — Die
Griechen sind in allem ihrem Denken unbeschreiblich logisch und
schlicht; sie sind dessen, wenigstens für ihre lange gute Zeit,
nicht überdrüssig geworden, wie die Franzosen es so häufig werden:
welche gar zu gerne einen kleinen Sprung in’s Gegentheil machen
und den Geist der Logik eigentlich nur vertragen, wenn er durch
eine Menge solcher kleiner Sprünge in’s Gegentheil seine
gesellige Artigkeit, seine
gesellige Selbstverleugnung verräth. Logik erscheint ihnen als
nothwendig, wie Brod und Wasser, aber auch gleich diesen als eine
Art Gefangenenkost, sobald sie rein und allein genossen werden
sollen. In der guten Gesellschaft muss man niemals vollständig und
allein Recht haben wollen, wie es alle reine Logik will: daher die
kleine Dosis Unvernunft in allem französischen esprit. — Der
gesellige Sinn der Griechen war bei Weitem weniger entwickelt, als
der der Franzosen es ist und war: daher so wenig esprit bei ihren
geistreichsten Männern, daher so wenig Witz selbst bei ihren
Witzbolden, daher — ach! Man wird mir schon diese meine Sätze
nicht glauben, und wie viele der Art habe ich noch auf der Seele!
— Est res magna tacere — sagt Martial mit allen Geschwätzigen.
83.
Uebersetzungen. — Man kann den
Grad des historischen Sinnes, welchen eine Zeit besitzt, daran
abschätzen, wie diese Zeit Uebersetzungen
macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht.
Die Franzosen Corneille’s, und auch noch die der Revolution,
bemächtigten sich des römischen Alterthums in einer Weise, zu der
wir nicht den Muth mehr hätten — Dank unserem höheren historischen
Sinne. Und das römische Alterthum selbst: wie gewaltsam und naiv
zugleich legte es seine Hand auf alles Gute und Hohe des
griechischen älteren Alterthums! Wie übersetzten sie in die
römische Gegenwart hinein! Wie verwischten sie absichtlich und
unbekümmert den Flügelstaub des Schmetterlings Augenblick! So
übersetzte Horaz hier und da den Alcäus oder den Archilochus, so
Properz den Callimachus und Philetas (Dichter gleichen Ranges mit
Theokrit, wenn wir urtheilen dürfen ):
was lag ihnen daran, dass der eigentliche Schöpfer Diess und Jenes
erlebt und die Zeichen davon in sein Gedicht hineingeschrieben
hatte! — als Dichter waren sie dem antiquarischen Spürgeiste, der
dem historischen Sinne voranläuft, abhold, als Dichter liessen sie
diese ganz persönlichen Dinge und Namen und Alles, was einer
Stadt, einer Küste, einem Jahrhundert als seine Tracht und Maske
zu eigen war, nicht gelten, sondern stellten flugs das
Gegenwärtige und das Römische an seine Stelle. Sie scheinen uns zu
fragen: „Sollen wir das Alte nicht für uns neu machen und
uns in ihm zurechtlegen? Sollen wir
nicht unsere Seele diesem todten Leibe einblasen dürfen? denn todt
ist er nun einmal: wie hässlich ist alles Todte!“ — Sie kannten
den Genuss des historischen Sinnes nicht; das Vergangene und
Fremde war ihnen peinlich, und als Römern ein Anreiz zu einer
römischen Eroberung. In der That, man eroberte damals, wenn man
übersetzte, — nicht nur so, dass man das Historische wegliess:
nein, man fügte die Anspielung auf das Gegenwärtige hinzu, man
strich vor Allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den
eigenen an seine Stelle — nicht im Gefühl des Diebstahls, sondern
mit dem allerbesten Gewissen des imperium Romanum.
84.
Vom Ursprunge der Poesie. — Die
Liebhaber des Phantastischen am Menschen, welche zugleich die
Lehre von der instinctiven Moralität vertreten, schliessen so:
„gesetzt, man habe zu allen Zeiten den Nutzen als die höchste
Gottheit verehrt, woher dann in aller Welt ist die Poesie
gekommen? — diese Rhythmisirung der Rede, welche der Deutlichkeit
der Mittheilung eher entgegenwirkt, als förderlich ist, und die
trotzdem wie ein Hohn auf alle nützliche Zweckmässigkeit überall
auf Erden aufgeschossen ist und noch aufschiesst! Die wildschöne
Unvernünftigkeit der Poesie widerlegt euch, ihr Utilitarier!
Gerade vom Nutzen einmal loskommen
wollen — das hat den Menschen erhoben, das hat ihn zur Moralität
und Kunst inspirirt!“ Nun ich muss hierin einmal den Utilitariern
zu Gefallen reden, — sie haben ja so selten Recht, dass es zum
Erbarmen ist! Man hatte in jenen alten Zeiten, welche die Poesie
in’s Dasein riefen, doch die Nützlichkeit dabei im Auge und eine
sehr grosse Nützlichkeit — damals als man den Rhythmus in die Rede
dringen liess, jene Gewalt die alle Atome des Satzes neu ordnet,
die Worte wählen heisst und den Gedanken neu färbt und dunkler,
fremder, ferner macht: freilich eine abergläubische
Nützlichkeit ! Es sollte vermöge des Rhythmus den
Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt werden,
nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im
Gedächtniss behält, als eine ungebundene Rede; ebenfalls meinte
man durch das rhythmische Tiktak über grössere Fernen hin sich
hörbar zu machen; das rhythmisirte Gebet schien den Göttern näher
an’s Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener
elementaren Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim
Hören der Musik erfährt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt
eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht
nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte
nach, — wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter!
Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu zwingen
und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie
eine magische Schlinge um. Es gab noch eine wunderlichere
Vorstellung: und diese gerade hat vielleicht am mächtigsten zur
Entstehung der Poesie gewirkt. Bei den Phythagoreern erscheint sie
als philosophische Lehre und als Kunstgriff der Erziehung: aber
längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft
zu, die Affecte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia
animi zu mildern — und zwar gerade durch das Rhythmische in der
Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren
gegangen war, musste man tanzen ,
in dem Tacte des Sängers, — das war das Recept dieser Heilkunst.
Mit ihr stillte Terpander einen Aufruhr, besänftigte Empedokles
einen Rasenden, reinigte Damon einen liebessiechen Jüngling; mit
ihr nahm man auch die wildgewordenen rachsüchtigen Götter in Cur.
Zuerst dadurch, dass man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer
Affecte auf’s Höchste trieb, also den Rasenden toll, den
Rachsüchtigen rachetrunken machte: — alle orgiastischen Culte
wollen die ferocia einer Gottheit auf Ein Mal entladen und zur
Orgie machen, damit sie hinterher sich freier und ruhiger fühle
und den Menschen in Ruhe lasse. Melos bedeutet seiner Wurzel nach
ein Besänftigungsmittel, nicht weil es selber sanft ist, sondern
weil seine Nachwirkung sanft macht. — Und nicht nur im
Cultusliede, auch bei dem weltlichen Liede der ältesten Zeiten ist
die Voraussetzung, dass das Rhythmische eine magische Kraft übe,
zum Beispiel beim Wasserschöpfen oder Rudern, das Lied ist eine
Bezauberung der hierbei thätig gedachten Dämonen, es macht sie
willfährig, unfrei und zum Werkzeug des Menschen. Und so oft man
handelt, hat man einen Anlass zu singen, — jede
Handlung ist an die Beihülfe von Geistern geknüpft: Zauberlied und
Besprechung scheinen die Urgestalt der Poesie zu sein. Wenn der
Vers auch beim Orakel verwendet wurde — die Griechen sagten, der
Hexameter sei in Delphi erfunden —, so sollte der Rhythmus auch
hier einen Zwang ausüben. Sich prophezeien lassen — das bedeutet
ursprünglich (nach der mir wahrscheinlichen Ableitung des
griechischen Wortes): sich Etwas bestimmen lassen; man glaubt die
Zukunft erzwingen zu können dadurch, dass man Apollo für sich
gewinnt: er, der nach der ältesten Vorstellung viel mehr, als ein
vorhersehender Gott ist. So wie die Formel ausgesprochen wird,
buchstäblich und rhythmisch genau, so bindet sie die Zukunft: die
Formel aber ist die Erfindung Apollo’s, welcher als Gott der
Rhythmen auch die Göttinnen des Schicksals binden kann. — Im
Ganzen gesehen und gefragt: gab es für die alte abergläubische Art
des Menschen überhaupt etwas Nützlicheres ,
als den Rhythmus? Mit ihm konnte man Alles: eine Arbeit magisch
fördern; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, nahe zu sein,
zuzuhören; die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen; die
eigene Seele von irgend einem Uebermaasse (der Angst, der Manie,
des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene
Seele, sondern die des bösesten Dämons, — ohne den Vers war man
Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott. Ein solches
Grundgefühl lässt sich nicht mehr völlig ausrotten, — und noch
jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen
Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum
Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken
als wahrer empfindet ,
wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa
daher kommt. Ist es nicht eine sehr lustige Sache, dass immer noch
die ernstesten Philosophen, so streng sie es sonst mit aller
Gewissheit nehmen, sich auf Dichtersprüche
berufen, um ihren Gedanken Kraft und Glaubwürdigkeit zu geben? —
und doch ist es für eine Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter
ihr zustimmt, als wenn er ihr widerspricht! Denn wie Homer sagt:
„Viel ja lügen die Sänger!“ —
85.
Das Gute und das Schöne. — Die
Künstler verherrlichen
fortwährend — sie thun nichts Anderes —: und zwar alle jene
Zustände und Dinge, welche in dem Rufe stehen, dass bei ihnen und
in ihnen der Mensch sich einmal gut oder gross, oder trunken, oder
lustig, oder wohl und weise fühlen kann. Diese ausgelesenen
Dinge und Zustände, deren Werth für das menschliche Glück als sicher und abgeschätzt gilt,
sind die Objecte der Künstler: sie liegen immer auf der Lauer,
dergleichen zu entdecken und in’s Gebiet der Kunst
hinüberzuziehen. Ich will sagen: sie sind nicht selber die
Taxatoren des Glückes und des Glücklichen, aber sie drängen sich
immer in die Nähe dieser Taxatoren, mit der grössten Neugierde und
Lust, sich ihre Schätzungen sofort zu Nutze zu machen. So werden
sie, weil sie ausser ihrer Ungeduld auch die grossen Lungen der
Herolde und die Füsse der Läufer haben, immer auch unter den
Ersten sein, die das neue
Gute verherrlichen, und oft als Die erscheinen ,
welche es zuerst gut nennen und als gut taxiren. Diess aber ist,
wie gesagt, ein Irrthum: sie sind nur geschwinder und lauter, als
die wirklichen Taxatoren. — Und wer sind denn diese? — Es sind die
Reichen und die Müssigen.
86.
Vom Theater. — Dieser Tag gab mir
wieder starke und hohe Gefühle, und wenn ich an seinem Abende
Musik und Kunst haben könnte, so weiss ich wohl, welche Musik und
Kunst ich nicht haben
möchte, nämlich alle jene nicht, welche ihre Zuhörer berauschen
und zu einem Augenblicke starken und hohen Gefühls emportreiben möchte, — jene Menschen
des Alltags der Seele, die am Abende nicht Siegern auf
Triumphwägen gleichen, sondern müden Maulthieren, an denen das
Leben die Peitsche etwas zu oft geübt hat. Was würden jene
Menschen überhaupt von „höheren Stimmungen“ wissen, wenn es nicht
rauscherzeugende Mittel und idealische Peitschenschläge gäbe! —
und so haben sie ihre Begeisterer, wie sie ihre Weine haben. Aber
was ist mir ihr Getränk
und ihre Trunkenheit! Was braucht der Begeisterte den Wein!
Vielmehr blickt er mit einer Art von Ekel auf die Mittel und
Mittler hin, welche hier eine Wirkung ohne zureichenden Grund
erzeugen sollen, — eine Nachäffung der hohen Seelenfluth! — Wie?
Man schenkt dem Maulwurf Flügel und stolze Einbildungen, — vor
Schlafengehen, bevor er in seine Höhle kriecht? Man schickt ihn
in’s Theater und setzt ihm grosse Gläser vor seine blinden und
müden Augen? Menschen, deren Leben keine „Handlung“, sondern ein
Geschäft ist, sitzen vor der Bühne und schauen fremdartigen Wesen
zu, denen das Leben mehr ist, als ein Geschäft? „So ist es
anständig“, sagt ihr, „so ist es unterhaltend, so will es die
Bildung!“ — Nun denn! So fehlt mir allzuoft die Bildung: denn
dieser Anblick ist mir allzuoft ekelhaft. Wer an sich der Tragödie
und Komödie genug hat, bleibt wohl am Liebsten fern vom Theater;
oder, zur Ausnahme, der ganze Vorgang — Theater und Publicum und
Dichter eingerechnet — wird ihm zum eigentlichen tragischen und
komischen Schauspiel, sodass das aufgeführte Stück dagegen ihm nur
wenig bedeutet. Wer Etwas wie Faust und Manfred ist, was liegt dem
an den Fausten und Manfreden des Theaters! — während es ihm gewiss
noch zu denken giebt, dass
man überhaupt dergleichen Figuren auf’s Theater bringt. Die
stärksten Gedanken und
Leidenschaften vor Denen, welche des Denkens und der Leidenschaft
nicht fähig sind — aber des Rausches !
Und jene als ein Mittel
zu diesem! Und Theater und Musik das Haschisch-Rauchen und
Betel-Kauen der Europäer! Oh wer erzählt uns die ganze Geschichte
der Narcotica! — Es ist beinahe die Geschichte der „Bildung“, der
sogenannten höheren Bildung!
87.
Von der Eitelkeit der Künstler. —
Ich glaube, dass die Künstler oft nicht wissen, was sie am besten
können, weil sie zu eitel sind und ihren Sinn auf etwas Stolzeres
gerichtet haben, als diese kleinen Pflanzen zu sein scheinen,
welche neu, seltsam und schön, in wirklicher Vollkommenheit auf
ihrem Boden zu wachsen vermögen. Das letzthin Gute ihres eigenen
Gartens und Weinbergs wird von ihnen obenhin abgeschätzt, und ihre
Liebe und ihre Einsicht sind nicht gleichen Ranges. Da ist ein
Musiker, der mehr als irgend ein Musiker darin seine Meisterschaft
hat, die Töne aus dem Reiche leidender, gedrückter, gemarterter
Seelen zu finden und auch noch den stummen Thieren Sprache zu
geben. Niemand kommt ihm gleich in den Farben des späten Herbstes,
dem unbeschreiblich rührenden Glücke eines letzten, allerletzten,
allerkürzesten Geniessens, er kennt einen Klang für jene
heimlich-unheimlichen Mitternächte der Seele, wo Ursache und
Wirkung aus den Fugen gekommen zu sein scheinen und jeden
Augenblick Etwas „aus dem Nichts“ entstehen kann; er schöpft am
glücklichsten von Allen aus dem unteren Grunde des menschlichen
Glückes und gleichsam aus dessen ausgetrunkenem Becher, wo die
herbsten und widrigsten Tropfen zu guter- und böserletzt mit den
süssesten zusammengelaufen sind; er kennt jenes müde Sich-schieben
der Seele, die nicht mehr springen und fliegen, ja nicht mehr
gehen kann; er hat den scheuen Blick des verhehlten Schmerzes, des
Verstehens ohne Trost, des Abschiednehmens ohne Geständniss; ja,
als der Orpheus alles heimlichen Elendes ist er grösser, als
irgend Einer, und Manches ist durch ihn überhaupt der Kunst
hinzugefügt worden, was bisher unausdrückbar und selbst der Kunst
unwürdig erschien, und mit Worten namentlich nur zu verscheuchen,
nicht zu fassen war, — manches ganz Kleine und Mikroskopische der
Seele: ja, es ist der Meister des ganz Kleinen. Aber er will es nicht sein! Sein Charakter liebt vielmehr die grossen
Wände und die verwegene Wandmalerei! Es entgeht ihm, dass sein
Geist einen anderen Geschmack und
Hang hat und am liebsten still in den Winkeln zusammengestürzter
Häuser sitzt: — da, verborgen, sich selber verborgen, malt er
seine eigentlichen Meisterstücke, welche alle sehr kurz sind, oft
nur Einen Tact lang, — da erst wird er ganz gut, gross und
vollkommen, da vielleicht allein. — Aber er weiss es nicht! Er ist
zu eitel dazu, es zu wissen.
88.
Der Ernst um die Wahrheit. — Ernst
um die Wahrheit! Wie Verschiedenes verstehen die Menschen bei
diesen Worten! Eben die selben Ansichten und Arten von Beweis und
Prüfung, welche ein Denker an sich wie eine Leichtfertigkeit
empfindet, der er zu seiner Scham in dieser oder jener Stunde
unterlegen ist, — eben die selben Ansichten können einem Künstler,
der auf sie stösst und mit ihnen zeitweilig lebt, das Bewusstsein
geben, jetzt habe ihn der tiefste Ernst um die Wahrheit erfasst,
und es sei bewunderungswürdig, dass er, obschon Künstler, doch
zugleich die ernsthafteste Begierde nach dem Gegensatze des
Scheinenden zeige. So ist es möglich, dass Einer gerade mit seinem
Pathos von Ernsthaftigkeit verräth, wie oberflächlich und genügsam
sein Geist bisher im Reiche der Erkenntniss gespielt hat. — Und
ist nicht Alles, was wir wichtig
nehmen, unser Verräther? Es zeigt, wo unsere Gewichte liegen und
wofür wir keine Gewichte besitzen.
89.
Jetzt und ehedem. — Was liegt an
aller unsrer Kunst der Kunstwerke, wenn jene höhere Kunst, die
Kunst der Feste, uns abhanden kommt! Ehemals waren alle Kunstwerke
an der grossen Feststrasse der Menschheit aufgestellt, als
Erinnerungszeichen und Denkmäler hoher und seliger Momente. Jetzt
will man mit den Kunstwerken die armen Erschöpften und Kranken von
der grossen Leidensstrasse der Menschheit bei Seite locken, für
ein lüsternes Augenblickchen; man bietet ihnen einen kleinen
Rausch und Wahnsinn an.
90.
Lichter und Schatten. — Die Bücher
und Niederschriften sind bei verschiedenen Denkern Verschiedenes:
der Eine hat im Buche die Lichter zusammengebracht, die er
geschwind aus den Strahlen einer ihm aufleuchtenden Erkenntniss
wegzustehlen und heimzutragen wusste; ein Anderer giebt nur die
Schatten, die Nachbilder in Grau und Schwarz von dem wieder, was
Tags zuvor in seiner Seele sich aufbaute.
91.
Vorsicht. — Alfieri hat, wie
bekannt, sehr viel gelogen, als er den erstaunten Zeitgenossen
seine Lebensgeschichte erzählte. Er log aus jenem Despotismus
gegen sich selber, den er zum Beispiel in der Art bewies, wie er
sich seine eigene Sprache schuf und sich zum Dichter tyrannisirte:
— er hatte endlich eine strenge Form von Erhabenheit gefunden, in
welche er sein Leben und sein Gedächtniss hineinpresste :
es wird viel Qual dabei gewesen sein. — Ich würde auch einer
Lebensgeschichte Platon’s, von ihm selber geschrieben, keinen
Glauben schenken: so wenig, als der Rousseau’s, oder der vita
nuova Dante’s.
92.
Prosa und Poesie. — Man beachte
doch, dass die grossen Meister der Prosa fast immer auch Dichter
gewesen sind, sei es öffentlich, oder auch nur im Geheimen und für
das „Kämmerlein“; und fürwahr, man schreibt nur im
Angesichte der Poesie gute Prosa! Denn diese ist ein
ununterbrochener artiger Krieg mit der Poesie: alle ihre Reize
bestehen darin, dass beständig der Poesie ausgewichen und
widersprochen wird; jedes Abstractum will als Schalkheit gegen
diese und wie mit spöttischer Stimme vorgetragen sein; jede
Trockenheit und Kühle soll die liebliche Göttin in eine liebliche
Verzweifelung bringen; oft giebt es Annäherungen, Versöhnungen des
Augenblickes und dann ein plötzliches Zurückspringen und
Auslachen; oft wird der Vorhang aufgezogen und grelles Licht
hereingelassen, während gerade die Göttin ihre Dämmerungen und
dumpfen Farben geniesst; oft wird ihr das Wort aus dem Munde
genommen und nach einer Melodie abgesungen, bei der sie die feinen
Hände vor die feinen Oehrchen hält — und so giebt es tausend
Vergnügungen des Krieges, die Niederlagen mitgezählt, von denen
die Unpoetischen, die sogenannten Prosa-Menschen, gar Nichts
wissen: — diese schreiben und sprechen denn auch nur schlechte
Prosa! Der Krieg ist der Vater aller
guten Dinge , der Krieg ist auch der Vater der guten
Prosa! — Vier sehr seltsame und wahrhaft dichterische Menschen
waren es in diesem Jahrhundert, welche an die Meisterschaft der
Prosa gereicht haben, für die sonst diess Jahrhundert nicht
gemacht ist — aus Mangel an Poesie, wie angedeutet. Um von Goethe
abzusehen, welchen billigerweise das Jahrhundert in Anspruch
nimmt, das ihn hervorbrachte: so sehe ich nur Giacomo Leopardi,
Prosper Mérimée, Ralph Waldo Emerson und Walter Savage Landor, den
Verfasser der Imaginary Conversations, als würdig an, Meister der
Prosa zu heissen.
93.
Aber warum schreibst denn du? —
A.: Ich gehöre nicht zu Denen, welche mit der nassen Feder in der
Hand denken ; und noch
weniger zu Jenen, die sich gar vor dem offenen Tintenfasse ihren
Leidenschaften überlassen, auf ihrem Stuhle sitzend und auf’s
Papier starrend. Ich ärgere oder schäme mich alles Schreibens;
Schreiben ist für mich eine Nothdurft, — selbst im Gleichniss
davon zu reden, ist mir widerlich. B.: Aber warum schreibst du
dann? A.: Ja, mein Lieber, im Vertrauen gesagt: ich habe bisher
noch kein anderes Mittel gefunden, meine Gedanken los zu werden. B.: Und warum willst du
sie los werden? A.: Warum ich will? Will ich denn? Ich muss. — B.:
Genug! Genug!
94.
Wachsthum nach dem Tode. — Jene
kleinen verwegenen Worte über moralische Dinge, welche Fontenelle
in seinen unsterblichen Todtengesprächen hinwarf, galten seiner
Zeit als Paradoxien und Spiele eines nicht unbedenklichen Witzes;
selbst die höchsten Richter des Geschmackes und des Geistes sahen
nicht mehr darin, — ja, vielleicht Fontenelle selber nicht. Nun
ereignet sich etwas Unglaubliches: diese Gedanken werden
Wahrheiten! Die Wissenschaft beweist sie! Das Spiel wird zum
Ernst! Und wir lesen jene Dialoge mit einer anderen Empfindung,
als Voltaire und Helvetius sie lasen, und heben unwillkürlich
ihren Urheber in eine andere und viel
höhere Rangclasse der Geister, als Jene thaten, — mit
Recht? Mit Unrecht?
95.
Chamfort. — Dass ein solcher
Kenner der Menschen und der Menge, wie Chamfort, eben der Menge
beisprang und nicht in philosophischer Entsagung und Abwehr
seitwärts stehen blieb, das weiss ich mir nicht anders zu
erklären, als so: Ein Instinct war in ihm stärker, als seine
Weisheit, und war nie befriedigt worden, der Hass gegen alle
Noblesse des Geblüts: vielleicht der alte nur zu erklärliche Hass
seiner Mutter, welcher durch die Liebe zur Mutter in ihm heilig
gesprochen war, — ein Instinct der Rache von seinen Knabenjahren
her, der die Stunde erwartete, die Mutter zu rächen. Und nun hatte
ihn das Leben und sein Genie, und ach! am meisten wohl das
väterliche Blut in seinen Adern dazu verführt, eben dieser
Noblesse sich einzureihen und gleichzustellen — viele viele Jahre
lang! Endlich ertrug er aber seinen eigenen Anblick, den Anblick
des „alten Menschen“ unter dem alten Regime nicht mehr; er gerieth
in eine heftige Leidenschaft der Busse, und in
dieser zog er das Gewand des Pöbels an, als
seine Art von härener Kutte! Sein
böses Gewissen war die Versäumniss der Rache. — Gesetzt, Chamfort
wäre damals um einen Grad mehr Philosoph geblieben, so hätte die
Revolution ihren tragischen Witz und ihren schärfsten Stachel
nicht bekommen: sie würde als ein viel dümmeres Ereigniss gelten
und keine solche Verführung der Geister sein. Aber der Hass und
die Rache Chamfort’s erzogen ein ganzes Geschlecht: und die
erlauchtesten Menschen machten diese Schule durch. Man erwäge
doch, dass Mirabeau zu Chamfort wie zu seinem höheren und älteren
Selbst aufsah, von dem er Antriebe, Warnungen und Richtersprüche
erwartete und ertrug, — Mirabeau, der als Mensch zu einem ganz
anderen Range der Grösse gehört, als selbst die Ersten unter den
staatsmännischen Grössen von gestern und heute. — Seltsam, dass
trotz einem solchen Freunde und Fürsprecher — man hat ja die
Briefe Mirabeau’s an Chamfort — dieser witzigste aller Moralisten
den Franzosen fremd geblieben ist, nicht anders, als Stendhal, der
vielleicht unter allen Franzosen dieses
Jahrhunderts die gedankenreichsten Augen und Ohren gehabt hat. Ist
es, dass Letzterer im Grunde zu viel von einem Deutschen und
Engländer an sich hatte, um den Parisern noch erträglich zu sein?
— während Chamfort, ein Mensch, reich an Tiefen und Hintergründen
der Seele, düster, leidend, glühend, — ein Denker, der das Lachen
als das Heilmittel gegen das Leben nöthig fand, und der sich
beinahe verloren gab, an jedem Tage, wo er nicht gelacht hatte, —
vielmehr wie ein Italiäner und Blutsverwandter Dante’s und
Leopardi’s erscheint, als wie ein Franzose! Man kennt die letzten
Worte Chamfort’s: „Ah! mon ami, sagte er zu Sieyès, je m’en vais
enfin de ce monde, où il faut que le coeur se brise ou se bronze
—“. Das sind sicherlich nicht Worte eines sterbenden Franzosen.
96.
Zwei Redner. — Von diesen beiden
Rednern erreicht der eine die ganze Vernunft seiner Sache nur
dann, wenn er sich der Leidenschaft überlässt: erst diese pumpt
genug Blut und Hitze ihm in’s Gehirn, um seine hohe Geistigkeit
zur Offenbarung zu zwingen. Der Andere versucht wohl hier und da
das Selbe: mit Hülfe der Leidenschaft seine Sache volltönend,
heftig und hinreissend vorzubringen, — aber gewöhnlich mit einem
schlechten Erfolge. Er redet dann sehr bald dunkel und verwirrt,
er übertreibt, macht Auslassungen und erregt gegen die Vernunft
seiner Sache Misstrauen: ja, er selber empfindet dabei diess
Misstrauen, und daraus erklären sich plötzliche Sprünge in die
kältesten und abstossendsten Töne, welche in dem Zuhörer einen
Zweifel erregen, ob seine ganze Leidenschaftlichkeit ächt gewesen
sei. Bei ihm überfluthet jedes Mal die Leidenschaft den Geist;
vielleicht, weil sie stärker ist, als bei dem Ersten. Aber er ist
auf der Höhe seiner Kraft, wenn er dem andringenden Sturme seiner
Empfindung widersteht und ihn gleichsam verhöhnt: da erst tritt
sein Geist ganz aus seinem Versteck heraus, ein logischer,
spöttischer, spielender, und doch furchtbarer Geist.
97.
Von der Geschwätzigkeit der Schriftsteller. —
Es giebt eine Geschwätzigkeit des Zornes, — häufig bei Luther,
auch bei Schopenhauer. Eine Geschwätzigkeit aus einem zu grossen
Vorrathe von Begriffsformeln wie bei Kant. Eine Geschwätzigkeit
aus Lust an immer neuen Wendungen der selben Sache: man findet sie
bei Montaigne. Eine Geschwätzigkeit hämischer Naturen: wer
Schriften dieser Zeit liest, wird sich hierbei zweier
Schriftsteller erinnern. Eine Geschwätzigkeit aus Lust an guten
Worten und Sprachformen: nicht selten in der Prosa Goethe’s. Eine
Geschwätzigkeit aus innerem Wohlgefallen an Lärm und Wirrwarr der
Empfindungen: zum Beispiel bei Carlyle.
98.
Zum Ruhme Shakespeare’s. — Das
Schönste, was ich zum Ruhme Shakespeare’s, des
Menschen , zu sagen wüsste, ist diess: er hat an
Brutus geglaubt und kein Stäubchen Misstrauens auf diese Art
Tugend geworfen! Ihm hat er seine beste Tragödie geweiht — sie
wird jetzt immer noch mit einem falschen Namen genannt —, ihm und
dem furchtbarsten Inbegriff hoher Moral. Unabhängigkeit der Seele!
— das gilt es hier! Kein Opfer kann da zu gross sein: seinen
liebsten Freund selbst muss man ihr opfern können, und sei er noch
dazu der herrlichste Mensch, die Zierde der Welt, das Genie ohne
Gleichen, — wenn man nämlich die Freiheit als die Freiheit grosser
Seelen liebt, und durch ihn dieser
Freiheit Gefahr droht: — derart muss Shakespeare gefühlt haben!
Die Höhe, in welche er Cäsar stellt, ist die feinste Ehre, die er
Brutus erweisen konnte: so erst erhebt er dessen inneres Problem
in’s Ungeheure und ebenso die seelische Kraft, welche diesen Knoten zu zerhauen vermochte! —
Und war es wirklich die politische Freiheit, welche diesen Dichter
zum Mitgefühl mit Brutus trieb, — zum Mitschuldigen des Brutus
machte? Oder war die politische Freiheit nur eine Symbolik für
irgend etwas Unaussprechbares? Stehen wir vielleicht vor irgend
einem unbekannt gebliebenen dunklen Ereignisse und Abenteuer aus
des Dichters eigener Seele, von dem er nur durch Zeichen reden
mochte? Was ist alle Hamlet-Melancholie gegen die Melancholie des
Brutus! — und vielleicht kennt Shakespeare auch diese, wie er jene
kannte, aus Erfahrung! Vielleicht hatte auch er seine finstere
Stunde und seinen bösen Engel, gleich Brutus! — Was es aber auch
derart von Aehnlichkeiten und geheimen Bezügen gegeben haben mag:
vor der ganzen Gestalt und Tugend des Brutus warf Shakespeare sich
auf den Boden und fühlte sich unwürdig und ferne: — das Zeugniss
dafür hat er in seine Tragödie hineingeschrieben. Zweimal hat er
in ihr einen Poeten vorgeführt und zweimal eine solche ungeduldige
und allerletzte Verachtung über ihn geschüttet, dass es wie ein
Schrei klingt, — wie der Schrei der Selbstverachtung. Brutus,
selbst Brutus verliert die Geduld, als der Poet auftritt,
eingebildet, pathetisch, zudringlich, wie Poeten zu sein pflegen,
als ein Wesen, welches von Möglichkeiten der Grösse, auch der
sittlichen Grösse, zu strotzen scheint und es doch in der
Philosophie der That und des Lebens selten selbst bis zur gemeinen
Rechtschaffenheit bringt. „Kennt er die Zeit, so
kenn’ ich seine Launen , — fort mit dem
Schellen-Hanswurst!“ — ruft Brutus. Man übersetze sich diess
zurück in die Seele des Poeten, der es dichtete.
99.
Die Anhänger Schopenhauer’s. — Was
man bei der Berührung von Cultur-Völkern und Barbaren zu sehen
bekommt: dass regelmässig die niedrigere Cultur von der höheren
zuerst deren Laster, Schwächen und Ausschweifungen annimmt, von da
aus einen Reiz auf sich ausgeübt fühlt und endlich vermittelst der
angeeigneten Laster und Schwächen Etwas von der werthhaltigen
Kraft der höheren Cultur mit auf sich überströmen lässt: — das
kann man auch in der Nähe und ohne Reisen zu Barbaren-Völkern mit
ansehen, freilich etwas verfeinert und vergeistigt und nicht so
leicht mit Händen zu greifen. Was pflegen doch die Anhänger
Schopenhauer’s in Deutschland von
ihrem Meister zuerst anzunehmen? — als welche, im Vergleich zu
dessen überlegener Cultur, sich barbarenhaft genug vorkommen
müssen, um auch durch ihn zuerst barbarenhaft fascinirt und
verführt zu werden. Ist es sein harter Thatsachen-Sinn, sein guter
Wille zu Helligkeit und Vernunft, der ihn oft so englisch und so
wenig deutsch erscheinen lässt? Oder die Stärke seines
intellectuellen Gewissens, das einen lebenslangen Widerspruch
zwischen Sein und Wollen aushielt
und ihn dazu zwang, sich auch in seinen Schriften beständig und
fast in jedem Puncte zu widersprechen? Oder seine Reinlichkeit in
Dingen der Kirche und des christlichen Gottes? — denn hierin war
er reinlich wie kein deutscher Philosoph bisher, so dass er „als
Voltairianer“ lebte und starb. Oder seine unsterblichen Lehren von
der Intellectualität der Anschauung, von der Apriorität des
Causalitätsgesetzes, von der Werkzeug-Natur des Intellects und der
Unfreiheit des Willens? Nein, diess Alles bezaubert nicht und wird
nicht als bezaubernd gefühlt: aber die mystischen Verlegenheiten
und Ausflüchte Schopenhauer’s, an jenen Stellen, wo der
Thatsachen-Denker sich vom eitlen Triebe, der Enträthseler der
Welt zu sein, verführen und verderben liess, die unbeweisbare
Lehre von Einem Willen
(„alle Ursachen sind nur Gelegenheitsursachen der Erscheinung des
Willens zu dieser Zeit, an diesem Orte“, „der Wille zum Leben ist
in jedem Wesen, auch dem geringsten, ganz und ungetheilt
vorhanden, so vollständig, wie in Allen, die je waren, sind und
sein werden, zusammengenommen“), die Leugnung
des Individuums („alle Löwen sind im Grunde nur Ein
Löwe“, „die Vielheit der Individuen ist ein Schein“; sowie auch
die Entwicklung nur ein
Schein ist: — er nennt den Gedanken de Lamarck’s „einen genialen,
absurden Irrthum“), die Schwärmerei vom Genie
(„in der ästhetischen Anschauung ist das Individuum nicht mehr
Individuum, sondern reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses
Subject der Erkenntniss“; „das Subject, indem es in dem
angeschauten Gegenstande ganz aufgeht, ist dieser Gegenstand
selbst geworden“), der Unsinn vom Mitleide
und der in ihm ermöglichten Durchbrechung des principii
individuationis als der Quelle aller Moralität, hinzugerechnet
solche Behauptungen „das Sterben ist eigentlich der Zweck des
Daseins“, „es lässt sich a priori nicht geradezu die Möglichkeit
ableugnen, dass eine magische Wirkung nicht auch sollte von einem
bereits Gestorbenen ausgehen können“: diese und ähnliche
Ausschweifungen und Laster des
Philosophen werden immer am ersten angenommen und zur Sache des
Glaubens gemacht: — Laster und Ausschweifungen sind nämlich immer
am leichtesten nachzuahmen und wollen keine lange Vorübung. Doch
reden wir von dem berühmtesten der lebenden Schopenhauerianer, von
Richard Wagner. — Ihm ist es ergangen, wie es schon manchem
Künstler ergangen ist: er vergriff sich in der Deutung der
Gestalten, die er schuf, und verkannte die unausgesprochene
Philosophie seiner eigensten Kunst. Richard Wagner hat sich bis in
die Mitte seines Lebens durch Hegel irreführen lassen; er that das
Selbe noch einmal, als er später Schopenhauer’s Lehre aus seinen
Gestalten herauslas und mit „Wille“, „Genie“ und „Mitleid“ sich
selber zu formuliren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben: Nichts
geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauer’s, als das
eigentlich Wagnerische an den Helden Wagner’s: ich meine die
Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse
Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das
Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. „Das Alles riecht eher
noch nach Spinoza als nach mir“ — würde vielleicht Schopenhauer
sagen. So gute Gründe also Wagner hätte, sich gerade nach anderen
Philosophen umzusehen als nach Schopenhauer: die Bezauberung, der
er in Betreff dieses Denkers unterlegen ist, hat ihn nicht nur
gegen alle anderen Philosophen, sondern sogar gegen die
Wissenschaft selber blind gemacht; immer mehr will seine ganze
Kunst sich als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerschen
Philosophie geben und immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den
höheren Ehrgeiz, Seitenstück und Ergänzung der menschlichen
Erkenntniss und Wissenschaft zu werden. Und nicht nur reizt ihn
dazu der ganze geheimnissvolle Prunk dieser Philosophie, welche
auch einen Cagliostro gereizt haben würde: auch die einzelnen
Gebärden und die Affecte der Philosophen waren stets Verführer!
Schopenhauerisch ist zum Beispiel Wagner’s Ereiferung über die
Verderbniss der deutschen Sprache; und wenn man hierin die
Nachahmung gut heissen sollte, so darf doch auch nicht
verschwiegen werden, dass Wagner’s Stil selber nicht wenig an all
den Geschwüren und Geschwülsten krankt, deren Anblick
Schopenhauern so wüthend machte, und dass, in Hinsicht auf die
deutsch schreibenden Wagnerianer, die Wagnerei sich so gefährlich
zu erweisen beginnt, als nur irgend eine Hegelei sich erwiesen
hat. Schopenhauerisch ist Wagner’s Hass gegen die Juden, denen er
selbst in ihrer grössten That nicht gerecht zu werden vermag: die
Juden sind ja die Erfinder des Christenthums. Schopenhauerisch ist
der Versuch Wagner’s, das Christenthum als ein verwehtes Korn des
Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter zeitweiliger
Annäherung an katholisch-christliche Formeln und Empfindungen, ein
buddhistisches Zeitalter vorzubereiten. Schopenhauerisch ist
Wagner’s Predigt zu Gunsten der Barmherzigkeit im Verkehre mit
Thieren; Schopenhauer’s Vorgänger hierin war bekanntlich Voltaire,
der vielleicht auch schon, gleich seinen Nachfolgern, seinen Hass
gegen gewisse Dinge und Menschen als Barmherzigkeit gegen Thiere
zu verkleiden wusste. Wenigstens ist Wagner’s Hass gegen die
Wissenschaft, der aus seiner Predigt spricht, gewiss nicht vom
Geiste der Mildherzigkeit und Güte eingegeben — noch auch, wie es
sich von selber versteht, vom Geiste
überhaupt. — Zuletzt ist wenig an der Philosophie eines Künstlers
gelegen, falls sie eben nur eine nachträgliche Philosophie ist und
seiner Kunst selber keinen Schaden thut. Man kann sich nicht genug
davor hüten, einem Künstler um einer gelegentlichen, vielleicht
sehr unglücklichen und anmaasslichen Maskerade willen gram zu
werden; vergessen wir doch nicht, dass die lieben Künstler sammt
und sonders ein wenig Schauspieler sind und sein müssen und ohne
Schauspielerei es schwerlich auf die Länge aushielten. Bleiben wir
Wagnern in dem treu, was an ihm wahr
und ursprünglich ist, — und namentlich dadurch, dass wir, seine
Jünger, uns selber in dem treu bleiben, was an uns wahr und
ursprünglich ist. Lassen wir ihm seine intellectuellen Launen und
Krämpfe, erwägen wir vielmehr in Billigkeit, welche seltsamen
Nahrungen und Nothdürfte eine Kunst, wie die seine, haben
darf , um leben und wachsen zu
können! Es liegt Nichts daran, dass er als Denker so oft Unrecht
hat; Gerechtigkeit und Geduld sind nicht seine
Sache. Genug, dass sein Leben vor sich selber Recht hat und Recht
behält: — dieses Leben, welches Jedem von uns zuruft: „Sei ein
Mann und folge mir nicht nach, — sondern dir! Sondern dir!“ Auch
unser Leben soll vor uns selber
Recht behalten! Auch wir sollen frei und furchtlos, in
unschuldiger Selbstigkeit aus uns selber wachsen und blühen! Und
so klingen mir, bei der Betrachtung eines solchen Menschen, auch
heute noch, wie ehedem, diese Sätze an’s Ohr: „dass Leidenschaft
besser ist, als Stoicismus und Heuchelei, dass Ehrlich-sein,
selbst im Bösen, besser ist, als sich selber an die Sittlichkeit
des Herkommens verlieren, dass der freie Mensch sowohl gut als
böse sein kann, dass aber der unfreie Mensch eine Schande der
Natur ist, und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Antheil
hat; endlich dass Jeder, der frei
werden will, es durch sich selber werden muss , und
dass Niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schooss
fällt“. (Richard Wagner in Bayreuth S. 94.)
100.
Huldigen lernen. — Auch das
Huldigen müssen die Menschen lernen wie das Verachten. Jeder, der
auf neuen Bahnen geht und Viele auf neue Bahnen geführt hat,
entdeckt mit Staunen, wie ungeschickt und arm diese Vielen im
Ausdruck ihrer Dankbarkeit sind, ja wie selten sich überhaupt auch
nur die Dankbarkeit äussern kann .
Es ist als ob ihr immer, wenn sie einmal reden will, Etwas in die
Kehle komme, sodass sie sich nur räuspert und im Räuspern wieder
verstummt. Die Art, wie ein Denker die Wirkung seiner Gedanken und
ihre umbildende und erschütternde Gewalt zu spüren bekommt, ist
beinahe eine Komödie; mitunter hat es das Ansehen, als ob Die, auf
welche gewirkt worden ist, sich im Grunde dadurch beleidigt
fühlten und ihre, wie sie fürchten, bedrohte Selbständigkeit nur
in allerlei Unarten zu äussern wüssten. Es bedarf ganzer
Geschlechter, um auch nur eine höfliche Convention des Dankes zu
erfinden: und erst sehr spät kommt jener Zeitpunct, wo selbst in
die Dankbarkeit eine Art Geist und Genialität gefahren ist: dann
ist gewöhnlich auch Einer da, welcher der grosse Dank-Empfänger
ist, nicht nur für Das, was er selber Gutes gethan hat, sondern
zumeist für Das, was von seinen Vorgängern als ein Schatz des
Höchsten und Besten allmählich aufgehäuft worden ist.
101.
Voltaire. — Ueberall, wo es einen
Hof gab, hat er das Gesetz des Gut-Sprechens und damit auch das
Gesetz des Stils für alle Schreibenden gegeben. Die höfische
Sprache ist aber die Sprache des Höflings, der
kein Fach hat und der sich selbst in Gesprächen über
wissenschaftliche Dinge alle bequemen technischen Ausdrücke
verbietet, weil sie nach dem Fache schmecken, desshalb ist der
technische Ausdruck und Alles, was den Specialisten verräth, in
den Ländern einer höfischen Cultur ein Flecken
des Stils . Man ist jetzt, wo alle Höfe Caricaturen
von sonst und jetzt geworden sind, erstaunt, selbst Voltaire in
diesem Puncte unsäglich spröde und peinlich zu finden (zum
Beispiel in seinem Urtheil über solche Stilisten, wie Fontenelle
und Montesquieu), — wir sind eben alle vom höfischen Geschmack
emancipirt, während Voltaire dessen Vollender
war!
102.
Ein Wort für die Philologen. —
Dass es Bücher giebt, so werthvolle und königliche, dass ganze
Gelehrten-Geschlechter gut verwendet sind, wenn durch ihre Mühe
diese Bücher rein erhalten und verständlich erhalten werden, —
diesen Glauben immer wieder zu befestigen ist die Philologie da.
Sie setzt voraus, dass es an jenen seltenen Menschen nicht fehlt
(wenn man sie gleich nicht sieht), die so werthvolle Bücher
wirklich zu benutzen wissen: — es werden wohl die sein, welche
selber solche Bücher machen oder machen könnten. Ich wollte sagen,
die Philologie setzt einen vornehmen Glauben voraus, — dass zu
Gunsten einiger Weniger, die immer „kommen werden“ und nicht da
sind, eine sehr grosse Menge von peinlicher, selbst unsauberer
Arbeit voraus abzuthun sei: es ist Alles Arbeit in usum
Delphinorum.
103.
Von der deutschen Musik. — Die
deutsche Musik ist jetzt schon desshalb, mehr als jede andere, die
europäische Musik, weil in ihr allein die Veränderung, welche
Europa durch die Revolution erfuhr, einen Ausdruck bekommen hat:
nur die deutschen Musiker verstehen sich auf den Ausdruck bewegter
Volksmassen, auf jenen ungeheuren künstlichen Lärm, der nicht
einmal sehr laut zu sein braucht, — während zum Beispiel die
italiänische Oper nur Chöre von Bedienten oder Soldaten kennt,
aber kein „Volk“. Es kommt hinzu, dass aus aller deutschen Musik
eine tiefe bürgerliche Eifersucht auf die noblesse herauszuhören
ist, namentlich auf esprit und élégance, als den Ausdruck einer
höfischen, ritterlichen, alten, ihrer selber sicheren
Gesellschaft. Das ist keine Musik, wie die des Goethischen Sängers
vor dem Thore, die auch „im Saale“, und zwar dem Könige
wohlgefällt; da heisst es nicht: „die Ritter schauten muthig drein
und in den Schooss die Schönen“. Schon die Grazie tritt nicht ohne
Anwandelung von Gewissensbissen in der deutschen Musik auf; erst
bei der Anmuth, der ländlichen Schwester der Grazie, fängt der
Deutsche an, sich ganz moralisch zu fühlen — und von da an immer
mehr bis hinauf zu seiner schwärmerischen, gelehrten, oft
bärbeissigen „Erhabenheit“, der Beethoven’schen Erhabenheit. Will
man sich den Menschen zu dieser
Musik denken, nun, so denke man sich eben Beethoven, wie er neben
Goethe, etwa bei jener Begegnung in Teplitz, erscheint: als die
Halbbarbarei neben der Cultur, als Volk neben Adel, als der
gutartige Mensch neben dem guten und mehr noch als „guten“
Menschen, als der Phantast neben dem Künstler, als der
Trostbedürftige neben dem Getrösteten, als der Uebertreiber und
Verdächtiger neben dem Billigen, als der Grillenfänger und
Selbstquäler, als der Närrisch-Verzückte, der Selig-Unglückliche,
der Treuherzig-Maasslose, als der Anmaassliche und Plumpe — und
Alles in Allem als der „ungebändigte Mensch“: so empfand und
bezeichnete ihn Goethe selber, Goethe der Ausnahme-Deutsche, zu
dem eine ebenbürtige Musik noch nicht gefunden ist! — Zuletzt
erwäge man noch, ob nicht jene jetzt immer mehr um sich greifende
Verachtung der Melodie und Verkümmerung des melodischen Sinnes bei
Deutschen als eine demokratische Unart und Nachwirkung der
Revolution zu verstehen ist. Die Melodie hat nämlich eine solche
offene Lust an der Gesetzlichkeit und einen solchen Widerwillen
bei allem Werdenden, Ungeformten, Willkürlichen, dass sie wie ein
Klang aus der alten
Ordnung der europäischen Dinge und wie eine Verführung und
Rückführung zu dieser klingt.
104.
Vom Klange der deutschen Sprache. —
Man weiss, woher das Deutsch stammt, welches seit ein paar
Jahrhunderten das allgemeine Schriftdeutsch ist. Die Deutschen,
mit ihrer Ehrfurcht vor Allem, was vom Hofe
kam, haben sich geflissentlich die Kanzleien zum Muster genommen,
in Allem, was sie zu schreiben
hatten, also namentlich in ihren Briefen, Urkunden, Testamenten
und so weiter. Kanzleimässig schreiben, das war hof- und
regierungsmässig schreiben, — das war etwas Vornehmes, gegen das
Deutsch der Stadt gehalten, in der man gerade lebte. Allmählich
zog man den Schluss und sprach auch so, wie man schrieb, — so
wurde man noch vornehmer, in den Wortformen, in der Wahl der Worte
und Wendungen und zuletzt auch im Klange: man affectirte einen
höfischen Klang, wenn man sprach, und die Affectation wurde
zuletzt Natur. Vielleicht hat sich etwas ganz Gleiches nirgendswo
ereignet: die Uebergewalt des Schreibestils über die Rede und die
Ziererei und Vornehmthuerei eines ganzen Volkes als Grundlage
einer gemeinsamen nicht mehr dialektischen Sprache. Ich glaube,
der Klang der deutschen Sprache war im Mittelalter, und namentlich
nach dem Mittelalter, tief bäuerisch und gemein: er hat sich in
den letzten Jahrhunderten etwas veredelt, hauptsächlich dadurch,
dass man sich genöthigt fand, so viel französische, italiänische
und spanische Klänge nachzuahmen und zwar gerade von Seiten des
deutschen (und österreichischen) Adels, der mit der Muttersprache
sich durchaus nicht begnügen konnte. Aber für Montaigne oder gar
Racine muss trotz dieser Uebung Deutsch unerträglich gemein
geklungen haben: und selbst jetzt klingt es, im Munde der
Reisenden, mitten unter italiänischem Pöbel, noch immer sehr roh,
wälderhaft, heiser, wie aus räucherigen Stuben und unhöflichen
Gegenden stammend. — Nun bemerke ich, dass jetzt wieder unter den
ehemaligen Bewunderern der Kanzleien ein ähnlicher Drang nach
Vornehmheit des Klanges um sich greift, und dass die Deutschen
einem ganz absonderlichen „Klangzauber“ sich zu fügen anfangen,
der auf die Dauer eine wirkliche Gefahr für die deutsche Sprache
werden könnte, — denn abscheulichere Klänge sucht man in Europa
vergebens. Etwas Höhnisches, Kaltes, Gleichgültiges, Nachlässiges
in der Stimme: das klingt jetzt den Deutschen „vornehm“ — und ich
höre den guten Willen zu dieser Vornehmheit in den Stimmen der
jungen Beamten, Lehrer, Frauen, Kaufleute; ja die kleinen Mädchen
machen schon dieses Offizierdeutsch nach. Denn der Offizier, und
zwar der preussische, ist der Erfinder dieser Klänge: dieser selbe
Offizier, der als Militär und Mann des Fachs jenen
bewunderungswürdigen Tact der Bescheidenheit besitzt, an dem die
Deutschen allesammt zu lernen hätten (die deutschen Professoren
und Musicanten eingerechnet!). Aber sobald er spricht und sich
bewegt, ist er die unbescheidenste und geschmackwidrigste Figur im
alten Europa — sich selber unbewusst, ohne allen Zweifel! Und auch
den guten Deutschen unbewusst, die in ihm den Mann der ersten und
vornehmsten Gesellschaft anstaunen und sich gerne „den Ton von ihm
angeben“ lassen. Das thut er denn auch! — und zunächst sind es die
Feldwebel und Unteroffiziere, welche seinen Ton nachahmen und
vergröbern. Man gebe Acht auf die Commandorufe, von denen die
deutschen Städte förmlich umbrüllt werden, jetzt wo man vor allen
Thoren exerciert: welche Anmaassung, welches wüthende
Autoritätsgefühl, welche höhnische Kälte klingt aus diesem Gebrüll
heraus! Sollten die Deutschen wirklich ein musicalisches Volk
sein? — Sicher ist, dass die Deutschen sich jetzt im Klange ihrer
Sprache militarisiren: wahrscheinlich ist, dass sie, eingeübt
militärisch zu sprechen, endlich auch militärisch schreiben
werden. Denn die Gewohnheit an bestimmte Klänge greift tief in den
Charakter: — man hat bald die Worte und Wendungen und schliesslich
auch die Gedanken, welche eben zu diesem Klange passen! Vielleicht
schreibt man jetzt schon offiziermäßig; vielleicht lese ich nur zu
wenig von dem, was man jetzt in Deutschland schreibt. Aber Eines
weiss ich um so sicherer: die öffentlichen deutschen Kundgebungen,
die auch in’s Ausland dringen, sind nicht von der deutschen Musik
inspirirt, sondern von eben jenem neuen Klange einer
geschmackwidrigen Anmaassung. Fast in jeder Rede des ersten
deutschen Staatsmannes und selbst dann, wenn er sich durch sein
kaiserliches Sprachrohr vernehmen lässt, ist ein Accent, den das
Ohr eines Ausländers mit Widerwillen zurückweist: aber die
Deutschen ertragen ihn, — sie ertragen sich selber.
105.
Die Deutschen als Künstler. — Wenn
der Deutsche einmal wirklich in Leidenschaft geräth (und nicht
nur, wie gewöhnlich, in den guten Willen zur Leidenschaft!), so
benimmt er sich dann in derselben, wie er eben muss, und denkt
nicht weiter an sein Benehmen. Die Wahrheit aber ist, dass er sich
dann sehr ungeschickt und hässlich und wie ohne Tact und Melodie
benimmt, sodass die Zuschauer ihre Pein oder ihre Rührung dabei
haben und nicht mehr: — es sei denn ,
dass er sich in das Erhabene und Entzückte hinaufhebt, dessen
manche Passionen fähig sind. Dann wird sogar der Deutsche
schön ! Die Ahnung davon, auf welcher Höhe erst die Schönheit
ihren Zauber selbst über Deutsche ausgiesst, treibt die deutschen
Künstler in die Höhe und Ueberhöhe und in die Ausschweifungen der
Leidenschaft: ein wirkliches tiefes Verlangen also, über die
Hässlichkeit und Ungeschicktheit hinauszukommen, mindestens
hinauszublicken — hin nach einer besseren, leichteren,
südlicheren, sonnenhafteren Welt. Und so sind ihre Krämpfe oftmals
nur Anzeichen dafür, dass sie tanzen
möchten: diese armen Bären, in denen versteckte Nymphen und
Waldgötter ihr Wesen treiben — und mitunter noch höhere
Gottheiten!
106.
Musik als Fürsprecherin. — „Ich
habe Durst nach einem Meister der Tonkunst, sagte ein Neuerer zu
seinem Jünger, dass er mir meine Gedanken ablerne und sie
fürderhin in seiner Sprache rede: so werde ich den Menschen besser
zu Ohr und Herzen dringen. Mit Tönen kann man die Menschen zu
jedem Irrthume und jeder Wahrheit verführen: wer vermöchte einen
Ton zu widerlegen ?“ —
„Also möchtest du für unwiderlegbar gelten?“ sagte sein Jünger.
Der Neuerer erwiderte: „Ich möchte, dass der Keim zum Baume werde.
Damit eine Lehre zum Baume werde, muss sie eine gute Zeit geglaubt
werden: damit sie geglaubt werde, muss sie für unwiderlegbar
gelten. Dem Baume thun Stürme, Zweifel, Gewürm, Bosheit noth,
damit er die Art und Kraft seines Keimes offenbar mache; mag er
brechen, wenn er nicht stark genug ist! Aber ein Keim wird immer
nur vernichtet, — nicht widerlegt!“ — Als er das gesagt hatte,
rief sein Jünger mit Ungestüm: „Aber ich glaube an deine Sache und
halte sie für so stark, dass ich Alles, Alles sagen werde, was ich
noch gegen sie auf dem Herzen habe“. — Der Neuerer lachte bei sich
und drohte ihm mit dem Finger. „Diese Art Jüngerschaft, sagte er
dann, ist die beste, aber sie ist gefährlich und nicht jede Art
Lehre verträgt sie“.
107.
Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst. —
Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus
des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine
Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft
gegeben wird — die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine
Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins —, gar nicht
auszuhalten. Die Redlichkeit
würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat
unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen
ausweichen hilft: die Kunst, als den guten
Willen zum Scheine. Wir verwehren es unserm Auge nicht immer,
auszurunden, zu Ende zu dichten: und dann ist es nicht mehr die
ewige Unvollkommenheit, die wir über den Fluss des Werdens tragen
— dann meinen wir, eine Göttin
zu tragen und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung.
Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich , und durch die Kunst ist uns
Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus
uns selber ein solches Phänomen machen zu können .
Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns
hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her,
über uns lachen oder über uns weinen; wir müssen den
Helden und ebenso den Narren entdecken, der in unsrer
Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen unsrer Thorheit ab
und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und
gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen
und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als
die Schelmenkappe : wir
brauchen sie vor uns selber — wir brauchen alle übermüthige,
schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um
jener Freiheit über den Dingen
nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert. Es
wäre ein Rückfall für
uns, gerade mit unsrer reizbaren Redlichkeit ganz in die Moral zu
gerathen und um der überstrengen Anforderungen willen, die wir
hierin an uns stellen, gar noch selber zu tugendhaften Ungeheuern
und Vogelscheuchen zu werden. Wir sollen auch über
der Moral stehen können :
und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines
Solchen, der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet,
sondern auch über ihr schweben und spielen! Wie könnten wir dazu
der Kunst, wie des Narren entbehren? — Und so lange ihr euch noch
irgendwie vor euch selber schämt ,
gehört ihr noch nicht zu uns!
108.
Neue Kämpfe. — Nachdem Buddha todt
war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer
Höhle, — einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt:
aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch
Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten
zeigt. — Und wir — wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!
Nieuwe gevechten . — Nadat Boeddha was
gestorven, toonde men nog eeuwenlang zijn schaduw in een grot — een
enorme, griezelige schaduw. God is dood: maar zoals de mens nu
eenmaal is, zullen er misschien nog millennia lang grotten zijn waar
zijn schaduw wordt getoond. — En wij — wij moeten ook nog zijn
schaduw overwinnen! [opm. denk ook aan Plato's grot ]
109.
Hüten wir uns! — Hüten wir uns, zu
denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie
sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren? Wie könnte sie
wachsen und sich vermehren? Wir wissen ja ungefähr, was das
Organische ist: und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte,
Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde
wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es
Jene thun, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir.
Hüten wir uns schon davor, zu glauben, dass das All eine Maschine
sei; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit
dem Wort „Maschine“ eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns,
etwas so Formvolles, wie die kyklischen Bewegungen unserer
Nachbar-Sterne überhaupt und überall vorauszusetzen; schon ein
Blick in die Milchstrasse lässt Zweifel auftauchen, ob es dort
nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen giebt,
ebenfalls Sterne mit ewigen geradlinigen Fallbahnen und
dergleichen. Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine
Ausnahme; diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie
bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht: die
Bildung des Organischen. Der Gesammt-Charakter der Welt ist
dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden
Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form,
Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen
Menschlichkeiten heissen. Von unserer Vernunft aus geurtheilt,
sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind
nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig
seine Weise, die nie eine Melodie heissen darf, — und zuletzt ist
selbst das Wort „verunglückter Wurf“ schon eine Vermenschlichung,
die einen Tadel in sich schliesst. Aber wie dürften wir das All
tadeln oder loben! Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft
oder deren Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch
schön, noch edel, und will Nichts von alledem werden, es strebt
durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus
durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urtheile
getroffen! Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt
keine Triebe; es kennt auch keine Gesetze. Hüten wir uns, zu
sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. Es giebt nur
Nothwendigkeiten: da ist Keiner, der befiehlt, Keiner, der
gehorcht, Keiner, der übertritt. Wenn ihr wisst, dass es keine
Zwecke giebt, so wisst ihr auch, dass es keinen Zufall giebt: denn
nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort „Zufall“ einen Sinn.
Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei.
Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene
Art. — Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es
giebt keine ewig dauerhaften Substanzen; die Materie ist ein eben
solcher Irrthum, wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am
Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle
diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die
Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen,
uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu
vernatürlichen !
110.
Ursprung der Erkenntniss. — Der
Intellect hat ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthümer
erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend:
wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf
für sich und seinen Nachwuchs mit grösserem Glücke. Solche
irrthümliche Glaubenssätze, die immer weiter vererbt und endlich
fast zum menschlichen Art- und Grundbestand wurden, sind zum
Beispiel diese: dass es dauernde Dinge gebe, dass es gleiche Dinge
gebe, dass es Dinge, Stoffe, Körper gebe, dass ein Ding Das sei,
als was es erscheine, dass unser Wollen frei sei, dass was für
mich gut ist, auch an und für sich gut sei. Sehr spät erst traten
die Leugner und Anzweifler solcher Sätze auf, — sehr spät erst
trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der Erkenntniss.
Es schien, dass man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser
Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; alle seine
höheren Functionen, die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von
Empfindung überhaupt, arbeiteten mit jenen uralt einverleibten
Grundirrthümern. Mehr noch: jene Sätze wurden selbst innerhalb der
Erkenntniss zu den Normen, nach denen man „wahr“ und „unwahr“
bemass — bis hinein in die entlegensten Gegenden der reinen Logik.
Also: die Kraft der
Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in
ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als
Lebensbedingung. Wo Leben und Erkennen in Widerspruch zu kommen
schienen, ist nie ernstlich gekämpft worden; da galt Leugnung und
Zweifel als Tollheit. Jene Ausnahme-Denker, wie die Eleaten,
welche trotzdem die Gegensätze der natürlichen Irrthümer
aufstellten und festhielten, glaubten daran, dass es möglich sei,
dieses Gegentheil auch zu leben :
sie erfanden den Weisen als den Menschen der Unveränderlichkeit,
Unpersönlichkeit, Universalität der Anschauung, als Eins und Alles
zugleich, mit einem eigenen Vermögen für jene umgekehrte
Erkenntniss; sie waren des Glaubens, dass ihre Erkenntniss
zugleich das Princip des Lebens
sei. Um diess Alles aber behaupten zu können, mussten sie sich
über ihren eigenen Zustand täuschen :
sie mussten sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel
andichten, das Wesen des Erkennenden verkennen, die Gewalt der
Triebe im Erkennen leugnen und überhaupt die Vernunft als völlig
freie, sich selbst entsprungene Activität fassen; sie hielten sich
die Augen dafür zu, dass auch sie im Widersprechen gegen das
Gültige, oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder
Herrschaft zu ihren Sätzen gekommen waren. Die feinere
Entwickelung der Redlichkeit und der Skepsis machte endlich auch
diese Menschen unmöglich; auch ihr Leben und Urtheilen ergab sich
als abhängig von den uralten Trieben und Grundirrthümern alles
empfindenden Daseins. — Jene feinere Redlichkeit und Skepsis hatte
überall dort ihre Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf
das Leben anwendbar
erschienen, weil sich beide mit den Grundirrthümern vertrugen, wo
also über den höheren oder geringeren Grad des Nutzens
für das Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, wo neue
Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber wenigstens auch
nicht schädlich zeigten, als Aeusserungen eines intellectuellen
Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele.
Allmählich füllte sich das menschliche Gehirn mit solchen
Urtheilen und Ueberzeugungen, so entstand in diesem Knäuel
Gährung, Kampf und Machtgelüst. Nützlichkeit und Lust nicht nur,
sondern jede Art von Trieben nahm Partei in dem Kampfe um die
„Wahrheiten“; der intellectuelle Kampf wurde Beschäftigung, Reiz,
Beruf, Pflicht, Würde —: das Erkennen und das Streben nach dem
Wahren ordnete sich endlich als Bedürfniss in die anderen
Bedürfnisse ein. Von da an war nicht nur der Glaube und die
Ueberzeugung, sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das
Misstrauen, der Widerspruch eine Macht ,
alle „bösen“ Instincte waren der Erkenntniss untergeordnet und in
ihren Dienst gestellt und bekamen den Glanz des Erlaubten,
Geehrten, Nützlichen und zuletzt das Auge und die Unschuld des
Guten . Die Erkenntniss wurde also
zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer immerfort
wachsenden Macht: bis endlich die Erkenntnisse und jene uralten
Grundirrthümer auf einander stiessen, beide als Leben, beide als
Macht, beide in dem selben Menschen. Der Denker: das ist jetzt das
Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden
Irrthümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur
Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen
hat. Im Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles
Andere gleichgültig: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens
ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit
dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt
die Wahrheit die Einverleibung? — das ist die Frage, das ist das
Experiment.
111.
Herkunft des Logischen. — Woher
ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiss aus der
Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muss.
Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt
schliessen, giengen zu Grunde: es könnte immer noch wahrer gewesen
sein! Wer zum Beispiel das „Gleiche“ nicht oft genug aufzufinden
wusste, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der ihm feindlichen
Thiere, wer also zu langsam subsumirte, zu vorsichtig in der
Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des
Fortlebens als Der, welcher bei allem Aehnlichen sofort auf
Gleichheit rieth. Der überwiegende Hang aber, das Aehnliche als
gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang — denn es giebt an sich
nichts Gleiches —, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen.
Ebenso musste, damit der Begriff der Substanz entstehe, der
unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne
nichts Wirkliches entspricht, — lange Zeit das Wechselnde an den
Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein; die nicht genau
sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche Alles „im
Flusse“ sahen. An und für sich ist schon jeder hohe Grad von
Vorsicht im Schliessen, jeder skeptische Hang eine grosse Gefahr
für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn
nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urtheil
auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber
zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urtheilen als gerecht zu
sein — ausserordentlich stark angezüchtet worden wäre. — Der
Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen
Gehirne entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an
sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren
gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so
versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab.
112.
Ursache und Wirkung. — „Erklärung“
nennen wir’s: aber „Beschreibung“ ist es, was uns vor älteren
Stufen der Erkenntniss und Wissenschaft auszeichnet. Wir
beschreiben besser, — wir erklären ebenso wenig wie alle Früheren.
Wir haben da ein vielfaches Nacheinander aufgedeckt, wo der naive
Mensch und Forscher älterer Culturen nur Zweierlei sah, „Ursache“
und „Wirkung“, wie die Rede lautete; wir haben das Bild des
Werdens vervollkommnet, aber sind über das Bild, hinter das Bild
nicht hinaus gekommen. Die Reihe der „Ursachen“ steht viel
vollständiger in jedem Falle vor uns, wir schliessen: diess und
das muss erst vorangehen, damit jenes folge, — aber begriffen haben wir damit Nichts. Die
Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen Werden, erscheint nach
wie vor als ein „Wunder“, ebenso jede Fortbewegung; Niemand hat
den Stoss „erklärt“. Wie könnten wir auch erklären! Wir operiren
mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien, Flächen,
Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Räumen —, wie soll
Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum
Bilde machen, zu unserem Bilde! Es ist
genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der
Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber
beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben.
Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich
nie, — in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar
Stücke isoliren; so wie wir eine Bewegung immer nur als isolirte
Puncte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern
erschliessen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen
abheben, führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns.
Es giebt eine unendliche Menge von Vorgängen in dieser Secunde der
Plötzlichkeit, die uns entgehen. Ein Intellect, der Ursache und
Wirkung als continuum, nicht nach unserer Art als willkürliches
Zertheilt- und Zerstücktsein, sähe, der den Fluss des Geschehens
sähe, — würde den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle
Bedingtheit leugnen.
Oorzaak en gevolg. “Verklaring”
noemen wij het; maar “beschrijving” is het, wat ons onderscheidt van
eerdere stadia van kennis en wetenschap. Wij beschrijven beter, —
wij verklaren even weinig als alle vroegere mensen. Wij hebben een
veelvuldig 'na-elkaar' blootgelegd, waar de naïeve mens en de
onderzoeker van oudere culturen slechts twee zaken zag — “oorzaak”
en “gevolg”, zoals men dat noemde; wij hebben het beeld van het
worden vervolmaakt, maar zijn het beeld niet overstegen, of achter
het beeld gekomen. Wij nemen een veel volledigere reeks “oorzaken”
waar voor iets dat het geval is, en wij concluderen (nog steeds):
dit moet wel voorafgaan, anders kan dat niet volgen — maar begrepen
hebben wij daarmee niets. [...]
113.
Zur Lehre von den Giften. — Es
gehört so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches Denken
entstehe: und alle diese nöthigen Kräfte haben einzeln erfunden,
geübt, gepflegt werden müssen! In ihrer Vereinzelung haben sie
aber sehr häufig eine ganz andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie
innerhalb des wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig
beschränken und in Zucht halten: — sie haben als Gifte gewirkt,
zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der
abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflösende Trieb. Viele
Hekatomben von Menschen sind zum Opfer gebracht worden, ehe diese
Triebe lernten, ihr Nebeneinander zu begreifen und sich mit
einander als Functionen Einer organisirenden Gewalt in Einem
Menschen zu fühlen! Und wie ferne sind wir noch davon, dass zum
wissenschaftlichen Denken sich auch noch die künstlerischen Kräfte
und die practische Weisheit des Lebens hinzufinden, dass ein
höheres organisches System sich bildet, in Bezug auf welches der
Gelehrte, der Arzt, der Künstler und der Gesetzgeber, so wie wir
jetzt diese kennen, als dürftige Alterthümer erscheinen müssten!
114.
Umfang des Moralischen. — Wir
construiren ein neues Bild, das wir sehen, sofort mit Hülfe aller
alten Erfahrungen, die wir gemacht haben, je
nach dem Grade unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit.
Es giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht
im Bereiche der Sinneswahrnehmung.
115.
Die vier Irrthümer. — Der Mensch
ist durch seine Irrthümer erzogen worden: er sah sich erstens
immer nur unvollständig, zweitens legte er sich erdichtete
Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen
Rangordnung zu Thier und Natur, viertens erfand er immer neue
Gütertafeln und nahm sie eine Zeit lang als ewig und unbedingt,
sodass bald dieser, bald jener menschliche Trieb und Zustand an
der ersten Stelle stand und in Folge dieser Schätzung veredelt
wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrthümer weg, so hat
man auch Humanität, Menschlichkeit und „Menschenwürde“
hinweggerechnet.
116.
Heerden-Instinct. — Wo wir eine
Moral antreffen, da finden wir eine Abschätzung und Rangordnung
der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schätzungen und
Rangordnungen sind immer der Ausdruck der Bedürfnisse einer
Gemeinde und Heerde: Das, was ihr
am ersten frommt — und am zweiten und dritten —, das ist auch der
oberste Maassstab für den Werth aller Einzelnen. Mit der Moral
wird der Einzelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur
als Function sich Werth zuzuschreiben. Da die Bedingungen der
Erhaltung einer Gemeinde sehr verschieden von denen einer anderen
Gemeinde gewesen sind, so gab es sehr verschiedene Moralen; und in
Hinsicht auf noch bevorstehende wesentliche Umgestaltungen der
Heerden und Gemeinden, Staaten und Gesellschaften kann man
prophezeien, dass es noch sehr abweichende Moralen geben wird.
Moralität ist Heerden-Instinct im Einzelnen.
117.
Heerden-Gewissensbiss. — In den
längsten und fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen ganz
anderen Gewissensbiss als heut zu Tage. Heute fühlt man sich nur
verantwortlich für Das, was man will und thut, und hat in sich
selber seinen Stolz: alle unsere Rechtslehrer gehen von diesem
Selbst- und Lustgefühle des Einzelnen aus, wie als ob hier von
jeher die Quelle des Rechts entsprungen sei. Aber die längste Zeit
der Menschheit hindurch gab es nichts Fürchterlicheres, als sich
einzeln zu fühlen. Allein sein, einzeln empfinden, weder gehorchen
noch herrschen, ein Individuum bedeuten — das war damals keine
Lust, sondern eine Strafe; man wurde verurtheilt „zum Individuum“.
Gedankenfreiheit galt als das Unbehagen selber. Während wir Gesetz
und Einordnung als Zwang und Einbusse empfinden, empfand man
ehedem den Egoismus als eine peinliche Sache, als eine eigentliche
Noth. Selbst sein, sich selber nach eigenem Maass und Gewicht
schätzen — das gieng damals wider den Geschmack. Die Neigung dazu
würde als Wahnsinn empfunden worden sein: denn mit dem Alleinsein
war jedes Elend und jede Furcht verknüpft. Damals hatte der „freie
Wille“ das böse Gewissen in seiner nächsten Nachbarschaft: und je
unfreier man handelte, je mehr der Heerden-Instinct und nicht der
persönliche Sinn aus der Handlung sprach, um so moralischer
schätzte man sich. Alles, was der Heerde Schaden that, sei es,
dass der Einzelne es gewollt oder nicht gewollt hatte, machte
damals dem Einzelnen Gewissensbisse — und seinem Nachbar noch
dazu, ja der ganzen Heerde! — Darin haben wir am allermeisten
umgelernt.
118.
Wohlwollen. — Ist es tugendhaft,
wenn eine Zelle sich in die Function einer stärkeren Zelle
verwandelt? Sie muss es. Und ist es böse, wenn die stärkere jene
sich assimilirt? Sie muss es ebenfalls; so ist es für sie
nothwendig, denn sie strebt nach überreichlichem Ersatz und will
sich regeneriren. Demnach hat man im Wohlwollen zu unterscheiden:
den Aneignungstrieb und den Unterwerfungstrieb, je nachdem der
Stärkere oder der Schwächere Wohlwollen empfindet. Freude und
Begehren sind bei dem Stärkeren, der Etwas zu seiner Function
umbilden will, beisammen: Freude und Begehrtwerdenwollen bei dem
Schwächeren, der Function werden möchte. — Mitleid ist wesentlich
das Erstere, eine angenehme Regung des Aneignungstriebes, beim
Anblick des Schwächeren: wobei noch zu bedenken ist, dass „stark“
und „schwach“ relative Begriffe sind.
119.
Kein Altruismus! — Ich sehe an
vielen Menschen eine überschüssige Kraft und Lust, Function sein
zu wollen; sie drängen sich dorthin und haben die feinste
Witterung für alle jene Stellen, wo gerade sie
Function sein können. Dahin gehören jene Frauen, die sich in die
Function eines Mannes verwandeln, welche an ihm gerade schwach
entwickelt ist, und dergestalt zu seinem Geldbeutel oder zu seiner
Politik oder zu seiner Geselligkeit werden. Solche Wesen erhalten
sich selber am besten, wenn sie sich in einen fremden Organismus
einfügen; gelingt es ihnen nicht, so werden sie ärgerlich, gereizt
und fressen sich selber auf.
120.
Gesundheit der Seele. — Die
beliebte medicinische Moralformel (deren Urheber Ariston von Chios
ist): „Tugend ist die Gesundheit der Seele“ — müsste wenigstens,
um brauchbar zu sein, dahin abgeändert werden: „deine Tugend ist
die Gesundheit deiner Seele“. Denn eine Gesundheit an sich giebt
es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definiren, sind
kläglich missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont,
deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrthümer und namentlich auf
die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen,
was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit
giebt es unzählige Gesundheiten des Leibes; und je mehr man dem
Einzelnen und Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt zu
erheben, je mehr man das Dogma von der „Gleichheit der Menschen“
verlernt, um so mehr muss auch der Begriff einer
Normal-Gesundheit, nebst Normal-Diät, Normal-Verlauf der
Erkrankung unsern Medicinern abhanden kommen. Und dann erst dürfte
es an der Zeit sein, über Gesundheit und Krankheit der Seele nachzudenken und die
eigenthümliche Tugend eines Jeden in deren Gesundheit zu setzen:
welche freilich bei dem Einen so aussehen könnte wie der Gegensatz
der Gesundheit bei einem Anderen. Zuletzt bliebe noch die grosse
Frage offen, ob wir der Erkrankung entbehren
könnten, selbst zur Entwickelung unserer Tugend, und ob nicht
namentlich unser Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss der
kranken Seele so gut bedürfe als der gesunden: kurz, ob nicht der
alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurtheil, eine Feigheit und
vielleicht ein Stück feinster Barbarei und Rückständigkeit sei.
121.
Das Leben kein Argument. — Wir
haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können — mit
der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen,
Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel
hielte es jetzt Keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch
nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den
Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein.
122.
Die moralische Skepsis im Christenthum. —
Auch das Christenthum hat einen grossen Beitrag zur Aufklärung
gegeben: es lehrte die moralische Skepsis auf eine sehr
eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit
unermüdlicher Geduld und Feinheit: es vernichtete in jedem
einzelnen Menschen den Glauben an seine „Tugenden“: es liess für
immer jene grossen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an
denen das Alterthum nicht arm war, jene populären Menschen, die im
Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechtshelden
umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule
der Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Beispiel
Seneca’s und Epiktet’s, lesen, so fühlen wir eine kurzweilige
Ueberlegenheit und sind voller geheimer Einblicke und Ueberblicke,
es ist uns dabei zu Muthe, als ob ein Kind vor einem alten Manne
oder eine junge schöne Begeisterte vor La Rochefoucauld redete:
wir kennen Das, was Tugend ist, besser! Zuletzt haben wir aber
diese selbe Skepsis auch auf alle religiösen
Zustände und Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung,
angewendet und den Wurm so gut graben lassen, dass wir nun auch
beim Lesen aller christlichen Bücher das selbe Gefühl der feinen
Ueberlegenheit und Einsicht haben: — wir kennen auch die
religiösen Gefühle besser! Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und
gut zu beschreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens
sterben aus: — retten wir ihr Abbild und ihren Typus wenigstens
für die Erkenntniss!
123.
Die Erkenntniss mehr, als ein Mittel. —
Auch ohne diese neue
Leidenschaft — ich meine die Leidenschaft der Erkenntniss — würde
die Wissenschaft gefördert werden: die Wissenschaft ist ohne sie
bisher gewachsen und gross geworden. Der gute Glaube an die
Wissenschaft, das ihr günstige Vorurtheil, von dem unsere Staaten
jetzt beherrscht sind (ehedem war es sogar die Kirche), ruht im
Grunde darauf, dass jener unbedingte Hang und Drang sich so selten
in ihr offenbart hat, und dass Wissenschaft eben nicht
als Leidenschaft, sondern als Zustand und „Ethos“ gilt. Ja, es
genügt oft schon amour-plaisir der Erkenntniss (Neugierde), es
genügt amour-vanité, Gewöhnung an sie, mit der Hinterabsicht auf
Ehre und Brod, es genügt selbst für Viele, dass sie mit einem
Ueberschuss von Musse Nichts anzufangen wissen als lesen, sammeln,
ordnen, beobachten, weiter erzählen: ihr „wissenschaftlicher
Trieb“ ist ihre Langeweile. Der Papst Leo der Zehnte hat einmal
(im Breve an Beroaldus) das Lob der Wissenschaft gesungen: er
bezeichnet sie als den schönsten Schmuck und den grössten Stolz
unseres Lebens, als eine edle Beschäftigung in Glück und Unglück;
„ohne sie, sagt er endlich, wäre alles menschliche Unternehmen
ohne festen Halt, — auch mit ihr ist es ja noch veränderlich und
unsicher genug!“ Aber dieser leidlich skeptische Papst
verschweigt, wie alle anderen kirchlichen Lobredner der
Wissenschaft, sein letztes Urtheil über sie. Mag man nun aus
seinen Worten heraushören, was für einen solchen Freund der Kunst
merkwürdig genug ist, dass er die Wissenschaft über die Kunst
stellt; zuletzt ist es doch nur eine Artigkeit, wenn er hier nicht
von dem redet, was auch er hoch über alle Wissenschaft stellt: von
der „geoffenbarten Wahrheit“ und von dem „ewigen Heil der Seele“,
— was sind ihm dagegen Schmuck, Stolz, Unterhaltung, Sicherung des
Lebens! „Die Wissenschaft ist Etwas von zweitem Range, nichts
Letztes, Unbedingtes, kein Gegenstand der Passion“, — diess
Urtheil blieb in der Seele Leo’s zurück: das eigentlich
christliche Urtheil über die Wissenschaft! Im Alterthum war ihre
Würde und Anerkennung dadurch verringert, dass selbst unter ihren
eifrigsten Jüngern das Streben nach der Tugend
voranstand, und dass man der Erkenntniss schon ihr höchstes Lob
gegeben zu haben glaubte, wenn man sie als das beste Mittel der
Tugend feierte. Es ist etwas Neues in der Geschichte, dass die
Erkenntniss mehr sein will, als ein Mittel.
124.
Im Horizont des Unendlichen. — Wir
haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben
die Brücke hinter uns, — mehr noch, wir haben das Land hinter uns
abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich vor! Neben dir liegt der
Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er
da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen
Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es
nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh des armen
Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses
Käfigs stösst! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob
dort mehr Freiheit
gewesen wäre, — und es giebt kein „Land“ mehr!
125.
Der tolle Mensch. — Habt ihr nicht
von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine
Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie:
„Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ — Da dort gerade Viele von Denen
zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein
grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine.
Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er
sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff
gegangen? ausgewandert? — so schrieen und lachten sie
durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und
durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich
will es euch sagen! Wir haben ihn
getödtet , — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!
Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer
auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont
wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne
losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns?
Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und
rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch
ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches
Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter
geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen
nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch
Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben?
Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? — auch
Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben
ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das
Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter
unseren Messern verblutet, — wer wischt diess Blut von uns ab? Mit
welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche
heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse
dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern
werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine
grössere That, — und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört
um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle
Geschichte bisher war!“ — Hier schwieg der tolle Mensch und sah
wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet
auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in
Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich
bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch
unterwegs und wandert, — es ist noch nicht bis zu den Ohren der
Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der
Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie
gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen
immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, — und
doch haben sie dieselbe gethan !“ — Man erzählt noch,
dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen
eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt
habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess
entgegnet: „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die
Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“ —
De dwaas . Hebt
gij niet gehoord van d i e
dwaas , die op een
heldere ochtend een lantaarn aanstak, de
markt op ging ,
en onophoudelijk riep : “Ik zoek God! Ik zoek God!”. Omdat er
daar juist veel van die lieden
bijeenstonden, die niet aan God geloofden, verwekte dit een groot
gelach. ' Is hij soms
verloren gegaan? ' zei
de één. 'Heeft hij zich
verlopen als een kind? ' zei de ander. Of
houdt hij zich verstopt? Is
hij bang voor ons? Is hij scheep gegaan? Geëmigreerd?
Zo riepen en lachten z e door
elkaar. De d waas sprong midden
onder hen en doorboorde hen
met zijn blikken. “Waar God heen is?” riep hij ,
“Dat zal ik u zeggen !
Wij hebben hem gedood, - gij en ik! Wij allen zijn zijn moordenaars! Maar hoe hebben
wij dit gedaan? Hoe konden wij
de zee leegdrinken? Wie gaf ons de spons om de hele horizon uit te
wissen? Wat deden wij,
toen wij deze aarde van haar zon loskoppelden? Waar
beweegt ze nu naar toe? Waarheen bewegen wij ons?
Weg van alle zonnen? Vallen wij niet voortdurend -
a chterwaarts, zijwaarts, voorwaarts, naar
alle kanten? Is er nog wel een boven en beneden? Dolen wij niet
als door een oneindig niets? Ademt ons niet de lege ruimte in het
gezicht? Is het niet kouder geworden? Komt niet
voortdurend de nacht ,
en steeds meer nacht? Moeten er niet 's ochtends
lantarens aan gestoken worden ? Dringt het geluid nog niet door, van
de doodgravers die God begraven? Ruiken
w e nog niets van de goddelijke
ontbinding? - ook goden gaan tot ontbinding over! God is dood! God
blijft dood! En wij hebben hem gedood! Hoe troosten
we ons , mo ordenaars
der moordenaars ? Het
heiligste en machtigste, dat de wereld tot dusver bez a t, is onder onze messen verbloed - wie wist dit bloed
van ons af? Met welk water kunnen wij ons reinigen? Welke
zoenoffer feesten , welke
gewijde spelen zullen w e moeten uitvinden ?
Is niet de grootte van deze daad te groot voor ons? Moeten wij
niet zelf goden worden, enkel om
dze daad waardig te
lijken ? Nooit was er een grotere daad -
en al wie er na ons
geboren wordt, omwille van deze daad behoort hij tot een hogere
geschiedenis dan alle geschiedenis die er tot
dusver is geweest
!” Hier zweeg
de dwaas en keek opnieuw
zijn toehoorders aan. Ook zij zwegen en keken hem
bevreemd aan. Tenslotte
wierp hij zijn lantaarn op de grond, zodat
die in stukken sprong en uitdoofde. “Ik kom te vroeg”, zei hij
toen, “het is mijn tijd nog niet. Dit enorme (ungeheure )
gebeuren is nog onderweg en
trekt voor - het is nog niet tot de oren
der mensen doorgedrongen. Bliksem en donder hebben tijd nodig, het
licht van het gesternte
heeft tijd nodig, daden hebben tijd nodig -
ook nadat ze gedaan zijn - om gezien en gehoord te worden! Deze daad is
voor hen nog steeds verder weg
dan het verste gesternte - en toch hebben ze haar zelf
verricht !” Men vertelt nog ,
dat de dwaas diezelfde
dag nog in verscheidene
kerken binnengedrongen is, en daar zijn Requiem aeternam deo
heeft aangeheven
heeft. Naar buiten gebracht en ter verantwoording geroepen, zou
hij telkens alleen maar het volgende geantwoord hebben: “Wat zijn
deze kerken eigenlijk nog,
als ze niet de gr aven en
grafmonumenten God s zijn?”
126.
Mystische Erklärungen. — Die
mystischen Erklärungen gelten für tief; die Wahrheit ist, dass sie
noch nicht einmal oberflächlich sind.
mystieke verklaringen. - Mystieke
verklaringen gaan door voor diep; de waarheid is dat ze nog niet
eens oppervlakkig zijn.
127.
Nachwirkung der ältesten Religiosität. —
Jeder Gedankenlose meint, der Wille sei das allein Wirkende;
Wollen sei etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes, Unableitbares,
An-sich-Verständliches. Er ist überzeugt, wenn er Etwas thut, zum
Beispiel einen Schlag ausführt, er
sei es, der da schlage, und er habe geschlagen, weil er schlagen
wollte . Er merkt gar Nichts von
einem Problem daran, sondern das Gefühl des Willens
genügt ihm, nicht nur zur Annahme von Ursache und Wirkung, sondern
auch zum Glauben, ihr Verhältniss zu verstehen .
Von dem Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen
Arbeit, die abgethan werden muss, damit es zu dem Schlage komme,
ebenso von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch nur den
geringsten Theil dieser Arbeit zu thun, weiss er Nichts. Der Wille
ist ihm eine magisch wirkende Kraft: der Glaube an den Willen, als
an die Ursache von Wirkungen, ist der Glaube an magisch wirkende
Kräfte. Nun hat urspünglich der Mensch überall, wo er ein
Geschehen sah, einen Willen als Ursache und persönlich wollende
Wesen im Hintergrunde wirkend geglaubt, — der Begriff der Mechanik
lag ihm ganz ferne. Weil aber der Mensch ungeheure Zeiten lang nur
an Personen geglaubt hat (und nicht an Stoffe, Kräfte, Sachen und
so weiter), ist ihm der Glaube an Ursache und Wirkung zum
Grundglauben geworden, den er überall, wo Etwas geschieht,
verwendet, — auch jetzt noch instinctiv und als ein Stück
Atavismus ältester Abkunft. Die Sätze „keine Wirkung ohne
Ursache“, „jede Wirkung wieder Ursache“ erscheinen als
Verallgemeinerungen viel engerer Sätze: „wo gewirkt wird, da ist
gewollt worden“, „es kann nur auf wollende Wesen gewirkt werden“,
„es giebt nie ein reines, folgenloses Erleiden einer Wirkung,
sondern alles Erleiden ist eine Erregung des Willens“ (zur That,
Abwehr, Rache, Vergeltung), — aber in den Urzeiten der Menschheit
waren diese und jene Sätze identisch, die ersten nicht
Verallgemeinerungen der zweiten, sondern die zweiten Erläuterungen
der ersten. — Schopenhauer, mit seiner Annahme, dass Alles, was da
sei, nur etwas Wollendes sei, hat eine uralte Mythologie auf den
Thron gehoben; er scheint nie eine Analyse des Willens versucht zu
haben, weil er an die Einfachheit und Unmittelbarkeit alles
Wollens glaubte , gleich
Jedermann: — während Wollen nur ein so gut eingespielter
Mechanismus ist, dass er dem beobachtenden Auge fast entläuft. Ihm
gegenüber stelle ich diese Sätze auf: erstens, damit Wille
entstehe, ist eine Vorstellung von Lust und Unlust nöthig.
Zweitens: dass ein heftiger Reiz als Lust oder Unlust empfunden
werde, das ist die Sache des interpretirenden
Intellects, der freilich zumeist dabei uns unbewusst arbeitet; und
ein und derselbe Reiz kann
als Lust oder Unlust interpretirt werden. Drittens: nur bei den
intellectuellen Wesen giebt es Lust, Unlust und Wille; die
ungeheure Mehrzahl der Organismen hat Nichts davon.
128.
Der Werth des Gebetes. — Das Gebet
ist für solche Menschen erfunden, welche eigentlich nie von sich
aus Gedanken haben und denen eine Erhebung der Seele unbekannt ist
oder unbemerkt verläuft: was sollen Diese an heiligen Stätten und
in allen wichtigen Lagen des Lebens, welche Ruhe und eine Art
Würde erfordern? Damit sie wenigstens nicht stören ,
hat die Weisheit aller Religionsstifter, der kleinen wie der
grossen, ihnen die Formel des Gebetes anbefohlen, als eine lange
mechanische Arbeit der Lippen, verbunden mit Anstrengung des
Gedächtnisses und mit einer gleichen festgesetzten Haltung von
Händen und Füssen und Augen! Da mögen sie nun gleich den
Tibetanern ihr „om mane padme hum“ unzählige Male wiederkäuen,
oder, wie in Benares, den Namen des Gottes Ram-Ram-Ram (und so
weiter mit oder ohne Grazie) an den Fingern abzählen: oder den
Wischnu mit seinen tausend, den Allah mit seinen neunundneunzig
Anrufnamen ehren: oder sie mögen sich der Gebetmühlen und der
Rosenkränze bedienen, — die Hauptsache ist, dass sie mit dieser
Arbeit für eine Zeit festgemacht sind und einen erträglichen
Anblick gewähren: ihre Art Gebet ist zum Vortheil der Frommen
erfunden, welche Gedanken und Erhebungen von sich aus kennen. Und
selbst Diese haben ihre müden Stunden, wo ihnen eine Reihe
ehrwürdiger Worte und Klänge und eine fromme Mechanik wohlthut.
Aber angenommen, dass diese seltenen Menschen — in jeder Religion
ist der religiöse Mensch eine Ausnahme — sich zu helfen wissen:
jene Armen im Geiste wissen sich nicht zu helfen, und ihnen das
Gebets-Geklapper verbieten heisst ihnen ihre Religion nehmen: wie
es der Protestantismus mehr und mehr an den Tag bringt. Die
Religion will von Solchen eben nicht mehr, als dass sie Ruhe halten , mit Augen, Händen, Beinen
und Organen aller Art: dadurch werden sie zeitweilig verschönert
und — menschenähnlicher!
129.
Die Bedingungen Gottes. — „Gott
selber kann nicht ohne weise Menschen bestehen“ — hat Luther
gesagt und mit gutem Rechte; aber „Gott kann noch weniger ohne
unweise Menschen bestehen“ — das hat der gute Luther nicht gesagt!
130.
Ein gefährlicher Entschluss. — Der
christliche Entschluss, die Welt hässlich und schlecht zu finden,
hat die Welt hässlich und schlecht gemacht.
131.
Christenthum und Selbstmord. — Das
Christenthum hat das zur Zeit seiner Entstehung ungeheure
Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner Macht
gemacht: es liess nur zwei Formen des Selbstmordes übrig,
umkleidete sie mit der höchsten Würde und den höchsten Hoffnungen
und verbot alle anderen auf eine furchtbare Weise. Aber das
Martyrium und die langsame Selbstentleibung des Asketen waren
erlaubt.
132.
Gegen das Christenthum. — Jetzt
entscheidet unser Geschmack gegen das Christenthum, nicht mehr
unsere Gründe.
133.
Grundsatz. — Eine unvermeidliche
Hypothese, auf welche die Menschheit immer wieder verfallen muss,
ist auf die Dauer doch mächtiger ,
als der bestgeglaubte Glaube an etwas Unwahres (gleich dem
christlichen Glauben). Auf die Dauer: das heisst hier auf
hunderttausend Jahre hin.
134.
Die Pessimisten als Opfer. — Wo
eine tiefe Unlust am Dasein überhand nimmt, kommen die
Nachwirkungen eines grossen Diätfehlers, dessen sich ein Volk
lange schuldig gemacht hat, an’s Licht. So ist die Verbreitung des
Buddhismus ( nicht seine
Entstehung) zu einem guten Theile abhängig von der übermässigen
und fast ausschliesslichen Reiskost der Inder und der dadurch
bedingten allgemeinen Erschlaffung. Vielleicht ist die europäische
Unzufriedenheit der neuen Zeit daraufhin anzusehen, dass unsere
Vorwelt, das ganze Mittelalter, Dank den Einwirkungen der
germanischen Neigungen auf Europa, dem Trunk ergeben war:
Mittelalter, das heisst die Alkoholvergiftung Europa’s. — Die
deutsche Unlust am Leben ist wesentlich Wintersiechthum,
eingerechnet die Wirkungen der Kellerluft und des Ofengiftes in
deutschen Wohnräumen.
135.
Herkunft der Sünde. — Sünde, so
wie sie jetzt überall empfunden wird, wo das Christenthum herrscht
oder einmal geherrscht hat: Sünde ist ein jüdisches Gefühl und
eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund
aller christlichen Moralität war in der That das Christenthum
darauf aus, die ganze Welt zu „verjüdeln“. Bis zu welchem Grade
ihm diess in Europa gelungen ist, das spürt man am feinsten an dem
Grade von Fremdheit, den das griechische Alterthum — eine Welt
ohne Sündengefühle — immer noch für unsere Empfindung hat, trotz
allem guten Willen zur Annäherung und Einverleibung, an dem es
ganze Geschlechter und viele ausgezeichnete Einzelne nicht haben
fehlen lassen. „Nur wenn du bereuest ,
ist Gott dir gnädig“ — das ist einem Griechen ein Gelächter und
ein Aergerniss: er würde sagen „so mögen Sclaven empfinden“. Hier
ist ein Mächtiger, Uebermächtiger und doch Rachelustiger
vorausgesetzt: seine Macht ist so gross, dass ihm ein Schaden
überhaupt nicht zugefügt werden kann, ausser in dem Puncte der
Ehre. Jede Sünde ist eine Respects-Verletzung, ein crimen laesae
majestatis divinae — und Nichts weiter! Zerknirschung,
Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen — das ist die erste und letzte
Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft: Wiederherstellung also
seiner göttlichen Ehre! Ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet
wird, ob ein tiefes wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, das
einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit fasst und würgt
— das lässt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert:
Sünde ist ein Vergehen an ihm, nicht an der Menschheit! — wem er
seine Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese
Unbekümmertheit um die natürlichen Folgen der Sünde. Gott und
Menschheit sind hier so getrennt, so entgegengesetzt gedacht, dass
im Grunde an letzterer überhaupt nicht gesündigt werden kann, —
jede That soll nur auf ihre
übernatürlichen Folgen hin angesehen werden: nicht
auf ihre natürlichen: so will es das jüdische Gefühl, dem alles
Natürliche das Unwürdige an sich ist. Den Griechen
dagegen lag der Gedanke näher, dass auch der Frevel Würde haben
könne — selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die
Abschlachtung von Vieh als Aeusserung eines wahnsinnigen Neides,
wie bei Ajax: sie haben in ihrem Bedürfniss, dem Frevel Würde
anzudichten und einzuverleiben, die Tragödie
erfunden, — eine Kunst und eine Lust, die dem Juden, trotz aller
seiner dichterischen Begabung und Neigung zum Erhabenen, im
tiefsten Wesen fremd geblieben ist.
136.
Das auserwählte Volk. — Die Juden,
die sich als das auserwählte Volk unter den Völkern fühlen, und
zwar weil sie das moralische Genie unter den Völkern sind (vermöge
der Fähigkeit, dass sie den Menschen in sich tiefer
verachtet haben , als irgend ein Volk) — die Juden
haben an ihrem göttlichen Monarchen und Heiligen einen ähnlichen
Genuss wie der war, welchen der französische Adel an Ludwig dem
Vierzehnten hatte. Dieser Adel hatte sich alle seine Macht und
Selbstherrlichkeit nehmen lassen und war verächtlich geworden: um
diess nicht zu fühlen, um diess vergessen zu können, bedurfte es
eines königlichen Glanzes, einer königlichen Autorität und
Machtfülle ohne Gleichen ,
zu der nur dem Adel der Zugang offen stand. Indem man gemäss
diesem Vorrecht sich zur Höhe des Hofes erhob und von da aus
blickend Alles unter sich, Alles verächtlich sah, kam man über
alle Reizbarkeit des Gewissens hinaus. So thürmte man absichtlich
den Thurm der königlichen Macht immer mehr in die Wolken hinein
und setzte die letzten Bausteine der eigenen Macht daran.
137.
Im Gleichniss gesprochen. — Ein
Jesus Christus war nur in einer jüdischen Landschaft möglich — ich
meine in einer solchen, über der fortwährend die düstere und
erhabene Gewitterwolke des zürnenden Jehovah hieng. Hier allein
wurde das seltene plötzliche Hindurchleuchten eines einzelnen
Sonnenstrahls durch die grauenhafte allgemeine und andauernde
Tag-Nacht wie ein Wunder der „Liebe“ empfunden, als der Strahl der
unverdientesten „Gnade“. Hier allein konnte Christus seinen
Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen, auf der Gott zu den
Menschen hinabstieg; überall sonst galt das helle Wetter und die
Sonne zu sehr als Regel und Alltäglichkeit.
In gelijkenissen gesproken. — Een
Jezus Christus was alleen mogelijk in een joodse omgeving — ik
bedoel een omgeving waar voortdurend de sombere en verheven
onweerswolk van de toornige Jehova hing. Alleen daar kan het
zeldzame, plotselinge doordringen van een enkele zonnestraal
doorheen de grauwe, algemene, steeds maar durende dag-nacht, als een
wonder van “liefde” ervaren zijn, als de lichtstraal van een totaal
onverdiende “genade”. Alleen daar kon Christus zijn regenboog en
zijn hemelladder dromen, waarlangs God naar de mensen afdaalde;
overal elders golden helder weer en zon te zeer als regel en
alledaagsheid. [opm. 'de titel is een referentie naar JC, die
'in gelijkenissen sprak', die - dixit O. Noordmans - als een
'lichtstraal een stoffige schuur doen oplichten ]
138.
Der Irrthum Christi. — Der Stifter
des Christenthums meinte, an Nichts litten die Menschen so sehr,
als an ihren Sünden: — es war sein Irrthum, der Irrthum Dessen,
der sich ohne Sünde fühlte, dem es hierin an Erfahrung gebrach! So
füllte sich seine Seele mit jenem wundervollen phantastischen
Erbarmen, das einer Noth galt, welche selbst bei seinem Volke, dem
Erfinder der Sünde, selten eine grosse Noth war! — Aber die
Christen haben es verstanden, ihrem Meister nachträglich Recht zu
schaffen und seinen Irrthum zur „Wahrheit“ zu heiligen.
139.
Farbe der Leidenschaften. — Solche
Naturen, wie die des Apostel Paulus, haben für die Leidenschaften
einen bösen Blick; sie lernen von ihnen nur das Schmutzige,
Entstellende und Herzbrechende kennen, — ihr idealer Drang geht
daher auf Vernichtung der Leidenschaften aus: im Göttlichen sehen
sie die völlige Reinheit davon. Ganz anders, als Paulus und die
Juden, haben die Griechen ihren idealen Drang gerade auf die
Leidenschaften gewendet und diese geliebt, gehoben, vergoldet und
vergöttlicht; offenbar fühlten sie sich in der Leidenschaft nicht
nur glücklicher, sondern auch reiner und göttlicher, als sonst. —
Und nun die Christen? Wollten sie hierin zu Juden werden? Sind sie
es vielleicht geworden?
140.
Zu jüdisch. — Wenn Gott ein
Gegenstand der Liebe werden wollte, so hätte er sich zuerst des
Richtens und der Gerechtigkeit begeben müssen: — ein Richter, und
selbst ein gnädiger Richter, ist kein Gegenstand der Liebe. Der
Stifter des Christenthums empfand hierin nicht fein genug, — als
Jude.
Te Joods . - Als God een voorwerp van
liefde had willen worden, dan had hij eerst afstand moeten doen van
Oordelen en gerechtigheid: - Een rechter, zelfs al is hij een
genadige rechter, is geen voorwerp van liefde. De stichter van het
christendom was op dit punt niet fijngevoelig genoeg, - als Jood.
141.
Zu orientalisch. — Wie? Ein Gott,
der die Menschen liebt, vorausgesetzt, dass sie an ihn glauben,
und der fürchterliche Blicke und Drohungen gegen Den schleudert,
der nicht an diese Liebe glaubt! Wie? eine verclausulirte Liebe
als die Empfindung eines allmächtigen Gottes! Eine Liebe, die
nicht einmal über das Gefühl der Ehre und der gereizten Rachsucht
Herr geworden ist! Wie orientalisch ist das Alles! „Wenn ich dich
liebe, was geht’s dich an?“ ist schon eine ausreichende Kritik des
ganzen Christenthums.
Te oosters. — Hoezo? Een god die de
mensen liefheeft, op voorwaarde dat ze in hem geloven, en die
vreselijke blikken en dreigementen werpt naar wie niet in deze
liefde gelooft! Hoezo? Een liefde onder voorwaarden, dat voelt de
almachtige god voor ons! Een liefde die zelfs niet de baas is
geworden over eergevoel en geprikkelde wraakzucht! Hoe oosters is
dat allemaal! “Als ik je lief hebt, wat gaat jou dat aan?” Die
uitspraak alleen al is afdoende kritiek op het hele christendom.
[opm. De uitspraak is te lezen bij Goethe, die verwijst naar
Spinoza: meer
hier .)
142.
Räucherwerk. — Buddha sagt:
„schmeichle deinem Wohlthäter nicht!“ Man spreche diesen Spruch
nach in einer christlichen Kirche: — er reinigt sofort die Luft
von allem Christlichen.
Reukwerk (wierook). - Boeddha
zegt: "Vlei je weldoener niet!" Herhaal deze uitspraak eens in een
christelijke kerk: hij zuivert onmiddellijk de lucht al het
christelijke.
143.
Grösster Nutzen des Polytheismus. —
Dass der Einzelne sich sein eigenes
Ideal aufstelle und aus ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine
Rechte ableite — das galt wohl bisher als die ungeheuerlichste
aller menschlichen Verirrungen und als die Abgötterei an sich; in
der That haben die Wenigen, die diess wagten, immer vor sich
selber eine Apologie nöthig gehabt, und diese lautete gewöhnlich:
„nicht ich! nicht ich! sondern ein
Gott durch mich!“ Die wundervolle Kunst und Kraft,
Götter zu schaffen — der Polytheismus — war es, in der dieser
Trieb sich entladen durfte, in der er sich reinigte,
vervollkommnete, veredelte: denn ursprünglich war es ein gemeiner
und unansehnlicher Trieb, verwandt dem Eigensinn, dem Ungehorsame
und dem Neide. Diesem Triebe zum eigenen Ideale feind
sein: das war ehemals das Gesetz jeder Sittlichkeit. Da gab es nur
Eine Norm: „ der Mensch“ —
und jedes Volk glaubte diese Eine und letzte Norm zu haben . Aber über sich und ausser sich,
in einer fernen Ueberwelt, durfte man eine Mehrzahl
von Normen sehen: der eine Gott war nicht die
Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes! Hier erlaubte man sich
zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von Individuen.
Die Erfindung von Göttern, Heroen und Uebermenschen aller Art,
sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Feen, Centauren,
Satyrn, Dämonen und Teufeln, war die unschätzbare Vorübung zur
Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des
Einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen
Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und
Sitten und Nachbarn. Der Monotheismus dagegen, diese starre
Consequenz der Lehre von Einem Normalmenschen — also der Glaube an
einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter giebt
— war vielleicht die grösste Gefahr der bisherigen Menschheit: da
drohte ihr jener vorzeitige Stillstand, welchen, soweit wir sehen
können, die meisten anderen Thiergattungen schon längst erreicht
haben; als welche alle an Ein Normalthier und Ideal in ihrer
Gattung glauben und die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in
Fleisch und Blut übersetzt haben. Im Polytheismus lag die
Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet: die
Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder
neue und noch eigenere: sodass es für den Menschen allein unter
allen Thieren keine ewigen Horizonte und Perspectiven giebt.
144.
Religionskriege. — Der grösste
Fortschritt der Massen war bis jetzt der Religionskrieg: denn er
beweist, dass die Masse angefangen hat, Begriffe mit Ehrfurcht zu
behandeln. Religionskriege entstehen erst, wenn durch die feineren
Streitigkeiten der Secten die allgemeine Vernunft verfeinert ist:
sodass selbst der Pöbel spitzfindig wird und Kleinigkeiten wichtig
nimmt, ja es für möglich hält, dass das „ewige Heil der Seele“ an
den kleinen Unterschieden der Begriffe hängt.
145.
Gefahr der Vegetarianer. — Der
vorwiegende ungeheure Reisgenuss treibt zur Anwendung von Opium
und narkotischen Dingen, in gleicher Weise wie der vorwiegende
ungeheure Kartoffelgenuss zu Branntwein treibt —: er treibt aber,
in feinerer Nachwirkung, auch zu Denk- und Gefühlsweisen, die
narkotisch wirken. Damit stimmt zusammen, dass die Förderer
narkotischer Denk- und Gefühlsweisen, wie jene indischen Lehrer,
gerade eine Diät preisen und zum Gesetz der Masse machen möchten,
welche rein vegetabilisch ist: sie wollen so das Bedürfniss
hervorrufen und mehren, welches sie
zu befriedigen im Stande sind.
146.
Deutsche Hoffnungen. — Vergessen
wir doch nicht, dass die Völkernamen gewöhnlich Schimpfnamen sind.
Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen nach „die Hunde“: so
wurden sie von den Chinesen getauft. Die „Deutschen“: das bedeutet
urspünglich „die Heiden“: so nannten die Gothen nach ihrer
Bekehrung die grosse Masse ihrer ungetauften Stammverwandten, nach
Anleitung ihrer Uebersetzung der Septuaginta, in der die Heiden
mit dem Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen „die
Völker“ bedeutet: man sehe Ulfilas. — Es wäre immer noch möglich,
dass die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich
einen Ehrennamen machten, indem sie das erste unchristliche
Volk Europa’s würden: wozu in hohem Maasse angelegt zu sein
Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete. So käme das Werk
Luther’s zur Vollendung, der sie
gelehrt hat, unrömisch zu sein und zu sprechen: „hier stehe
ich ! Ich
kann nicht anders!“ —
147.
Frage und Antwort. — Was nehmen
jetzt wilde Völkerschaften zuerst von den Europäern an? Branntwein
und Christenthum, die europäischen Narcotica. — Und woran gehen
sie am schnellsten zu Grunde? — An den europäischen Narcoticis.
148.
Wo die Reformationen entstehen. —
Zur Zeit der grossen Kirchen-Verderbniss war in Deutschland die
Kirche am wenigsten verdorben: desshalb entstand hier
die Reformation, als das Zeichen, dass schon die Anfänge der
Verderbniss unerträglich empfunden wurden. Verhältnissmässig war
nämlich kein Volk jemals christlicher, als die Deutschen zur Zeit
Luther’s: ihre christliche Cultur war eben bereit, zu einer
hundertfältigen Pracht der Blüthe auszuschlagen, — es fehlte nur
noch Eine Nacht; aber diese brachte den Sturm, der Allem ein Ende
machte.
149.
Misslingen der Reformationen. — Es
spricht für die höhere Cultur der Griechen selbst in ziemlich
frühen Zeiten, dass mehrere Male die Versuche, neue griechische
Religionen zu gründen, gescheitert sind; es spricht dafür, dass es
schon früh eine Menge verschiedenartiger Individuen in
Griechenland gegeben haben muss, deren verschiedenartige Noth
nicht mit einem einzigen Recepte des Glaubens und Hoffens abzuthun
war. Pythagoras und Plato, vielleicht auch Empedokles, und bereits
viel früher die orphischen Schwarmgeister, waren darauf aus, neue
Religionen zu gründen; und die beiden Erstgenannten hatten so
ächte Religionsstifter-Seelen und -Talente, dass man sich über ihr
Misslingen nicht genug verwundern kann: sie brachten es aber nur
zu Secten. Jedes Mal, wo die Reformation eines ganzen Volkes
misslingt und nur Secten ihr Haupt emporheben, darf man
schliessen, dass das Volk schon sehr vielartig in sich ist und
sich von den groben Heerdeninstincten und der Sittlichkeit der
Sitte loszulösen beginnt: ein bedeutungsvoller Schwebezustand, den
man als Sittenverfall und Corruption zu verunglimpfen gewohnt ist:
während er das Reifwerden des Eies und das nahe Zerbrechen der
Eierschaale ankündigt. Dass Luther’s Reformation im Norden gelang,
ist ein Zeichen dafür, dass der Norden gegen den Süden Europa’s
zurückgeblieben war und noch ziemlich einartige und einfarbige
Bedürfnisse kannte; und es hätte überhaupt keine Verchristlichung
Europa’s gegeben, wenn nicht die Cultur der alten Welt des Südens
allmählich durch eine übermässige Hinzumischung von germanischem
Barbarenblut barbarisirt und ihres Cultur-Uebergewichtes verlustig
gegangen wäre. Je allgemeiner und unbedingter ein Einzelner oder
der Gedanke eines Einzelnen wirken kann, um so gleichartiger und
um so niedriger muss die Masse sein, auf die da gewirkt wird;
während Gegenbestrebungen innere Gegenbedürfnisse verrathen,
welche auch sich befriedigen und durchsetzen wollen. Umgekehrt
darf man immer auf eine wirkliche Höhe der Cultur schliessen, wenn
mächtige und herrschsüchtige Naturen es nur zu einer geringen und
sectirerischen Wirkung bringen: diess gilt auch für die einzelnen
Künste und die Gebiete der Erkenntniss. Wo geherrscht wird, da
giebt es Massen: wo Massen sind, da giebt es ein Bedürfniss nach
Sclaverei. Wo es Sclaverei giebt, da sind der Individuen nur
wenige, und diese haben die Heerdeninstincte und das Gewissen
gegen sich.
150.
Zur Kritik der Heiligen. — Muss
man denn, um eine Tugend zu haben, sie gerade in ihrer brutalsten
Gestalt haben wollen? — wie es die christlichen Heiligen wollten
und nöthig hatten; als welche das Leben nur mit dem Gedanken
ertrugen, dass beim Anblick ihrer Tugend einen Jeden die
Verachtung seiner selber anwandelte. Eine Tugend aber mit solcher
Wirkung nenne ich brutal.
151.
Vom Ursprunge der Religion. — Das
metaphysische Bedürfniss ist nicht der Ursprung der Religionen,
wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nachschössling
derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken
an die Vorstellung einer „anderen (hinteren, unteren, oberen)
Welt“ gewöhnt und fühlt bei der Vernichtung des religiösen Wahns
eine unbehagliche Leere und Entbehrung, — und nun wächst aus
diesem Gefühle wieder eine „andere Welt“ heraus, aber jetzt nur
eine metaphysische und nicht mehr religiöse. Das aber, was in
Urzeiten zur Annahme einer „anderen Welt“ überhaupt führte, war
nicht ein Trieb und Bedürfniss,
sondern ein Irrthum in
der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des
Intellects.
De oorsprong van de religie - De
metafysische behoefte is niet de oorsprong van de religies, zoals
Schopenhauer wil, maar een nakomertje/late uitloper daarvan.
Men is onder de heerschappij van religieuze gedachten gewoon
geworden aan de voorstelling van een "andere (achter-, onder-,
boven-) wereld" en voelt bij de vernietiging van de religieuze waan
een onbehaaglijke leegte en een gemis, – en uit dit gevoel groeit nu
opnieuw een ‘andere wereld’, maar dezet keer enkel een metafysische,
niet meer een godsdienstige. Wat echter in oertijden tot de
veronderstelling van die 'andere wereld’ leidde, was geen
aandrift en behoefte, maar een dwaling/vergissing (Irrtum )
in de uitleg van bepaalde natuurverschijnselen, een
verlegenheid van het intellect.
152.
Die grösste Veränderung. — Die
Beleuchtung und die Farben aller Dinge haben sich verändert! Wir
verstehen nicht mehr ganz, wie die alten Menschen das Nächste und
Häufigste empfanden, — zum Beispiel den Tag und das Wachen:
dadurch, dass die Alten an Träume glaubten, hatte das wache Leben
andere Lichter. Und ebenso das ganze Leben, mit der
Zurückstrahlung des Todes und seiner Bedeutung: unser „Tod“ ist
ein ganz anderer Tod. Alle Erlebnisse leuchteten anders, denn ein
Gott glänzte aus ihnen; alle Entschlüsse und Aussichten auf die
ferne Zukunft ebenfalls: denn man hatte Orakel und geheime Winke
und glaubte an die Vorhersagung. „Wahrheit“ wurde anders
empfunden, denn der Wahnsinnige konnte ehemals als ihr Mundstück
gelten, — was uns
schaudern oder lachen macht. Jedes Unrecht wirkte anders auf das
Gefühl: denn man fürchtete eine göttliche Vergeltung und nicht nur
eine bürgerliche Strafe und Entehrung. Was war die Freude in der
Zeit, als man an die Teufel und die Versucher glaubte! Was die
Leidenschaft, wenn man die Dämonen in der Nähe lauern sah! Was die
Philosophie, wenn der Zweifel als Versündigung der gefährlichsten
Art gefühlt wurde, und zwar als ein Frevel an der ewigen Liebe,
als Misstrauen gegen Alles, was gut, hoch, rein und erbarmend war!
— Wir haben die Dinge neu gefärbt, wir malen immerfort an ihnen, —
aber was vermögen wir einstweilen gegen die Farbenpracht
jener alten Meisterin! — ich meine die alte Menschheit.
153.
Homo poeta. — „Ich selber, der ich
höchst eigenhändig diese Tragödie der Tragödien gemacht habe,
soweit sie fertig ist; ich, der ich den Knoten der Moral erst in’s
Dasein hineinknüpfte und so fest zog, dass nur ein Gott ihn lösen
kann, — so verlangt es ja Horaz! — ich selber habe jetzt im
vierten Act alle Götter umgebracht, — aus Moralität! Was soll nun
aus dem fünften werden! Woher noch die tragische Lösung nehmen! —
Muss ich anfangen, über eine komische Lösung nachzudenken?“
154.
Verschiedene Gefährlichkeit des Lebens. —
Ihr wisst gar nicht, was ihr erlebt, ihr lauft wie betrunken
durch’s Leben und fallt ab und zu eine Treppe hinab. Aber, Dank
eurer Trunkenheit, brecht ihr doch nicht dabei die Glieder: eure
Muskeln sind zu matt und euer Kopf zu dunkel, als dass ihr die
Steine dieser Treppe so hart fändet, wie wir Anderen! Für uns ist
das Leben eine grössere Gefahr: wir sind von Glas — wehe, wenn wir
uns stossen ! Und Alles
ist verloren, wenn wir fallen !
155.
Was uns fehlt. — Wir lieben die
grosse Natur und haben sie
entdeckt: das kommt daher, dass in unserem Kopfe die grossen
Menschen fehlen. Umgekehrt die Griechen: ihr Naturgefühl ist ein
anderes, als das unsrige.
156.
Der Einflussreichste. — Dass ein
Mensch seiner ganzen Zeit Widerstand leistet, sie am Thore aufhält
und zur Rechenschaft zieht, das muss
Einfluss üben! Ob er es will, ist gleichgültig; dass er es
kann , ist die Sache.
157.
Mentiri. — Gieb Acht! — er sinnt
nach: sofort wird er eine Lüge bereit haben. Diess ist eine Stufe
der Cultur, auf der ganze Völker gestanden haben. Man erwäge doch,
was die Römer mit mentiri ausdrückten!
158.
Unbequeme Eigenschaft. — Alle
Dinge tief finden — das ist eine unbequeme Eigenschaft: sie macht,
dass man beständig seine Augen anstrengt und am Ende immer mehr
findet, als man gewünscht hat.
159.
Jede Tugend hat ihre Zeit. — Wer
jetzt unbeugsam ist, dem macht seine Redlichkeit oft
Gewissensbisse: denn die Unbeugsamkeit ist die Tugend eines
anderen Zeitalters, als die Redlichkeit.
160.
Im Verkehre mit Tugenden. — Man
kann auch gegen eine Tugend würdelos und schmeichlerisch sein.
161.
An die Liebhaber der Zeit. — Der
entlaufene Priester und der entlassene Sträfling machen
fortwährend Gesichter: was sie wollen, ist ein Gesicht ohne
Vergangenheit. — Habt ihr aber schon Menschen gesehen, welche
wissen, dass die Zukunft in ihrem Gesichte sich spiegelt, und
welche so höflich gegen euch, ihr Liebhaber der „Zeit“, sind, dass
sie ein Gesicht ohne Zukunft machen? —
162.
Egoismus. — Egoismus ist das
perspectivische Gesetz der
Empfindung, nach dem das Nächste gross und schwer erscheint:
während nach der Ferne zu alle Dinge an Grösse und Gewicht
abnehmen.
163.
Nach einem grossen Siege. — Das
Beste an einem grossen Siege ist, dass er dem Sieger die Furcht
vor einer Niederlage nimmt. „Warum nicht auch einmal unterliegen?
— sagt er sich: ich bin jetzt reich genug dazu“.
164.
Die Ruhesuchenden. — Ich erkenne
die Geister, welche Ruhe suchen, an den vielen dunklen
Gegenständen, welche sie um sich aufstellen: wer schlafen will,
macht sein Zimmer dunkel oder kriecht in eine Höhle. — Ein Wink
für Die, welche nicht wissen, was sie eigentlich am meisten
suchen, und es wissen möchten!
165.
Vom Glücke der Entsagenden. — Wer
sich Etwas gründlich und auf lange Zeit hin versagt, wird, bei
einem zufälligen Wiederantreffen desselben, fast vermeinen, es
entdeckt zu haben, — und welches Glück hat jeder Entdecker! Seien
wir klüger, als die Schlangen, welche zu lange in der selben Sonne
liegen.
166.
Immer in unserer Gesellschaft. —
Alles, was meiner Art ist, in Natur und Geschichte, redet zu mir,
lobt mich, treibt mich vorwärts, tröstet mich —: das Andere höre
ich nicht oder vergesse es gleich. Wir sind stets nur in unserer
Gesellschaft.
167.
Misanthropie und Liebe. — Man
spricht nur dann davon, dass man der Menschen satt sei, wenn man
sie nicht mehr verdauen kann und doch noch den Magen voll davon
hat. Misanthropie ist die Folge einer allzubegehrlichen
Menschenliebe und „Menschenfresserei“, — aber, wer hiess dich auch
Menschen zu verschlucken wie Austern, mein Prinz Hamlet?
168.
Von einem Kranken. — „Es steht
schlecht um ihn!“ — Woran fehlt es? — „Er leidet an der Begierde,
gelobt zu werden, und findet keine Nahrung für sie.“ —
Unbegreiflich! Alle Welt feiert ihn, und man trägt ihn nicht nur
auf den Händen, sondern auch auf den Lippen! — „Ja, aber er hat
ein schlechtes Gehör für das Lob. Lobt ihn ein Freund, so klingt
es ihm, als ob dieser sich selber lobe; lobt ihn ein Feind, so
klingt es ihm, als ob dieser dafür gelobt werden wolle; lobt ihn
endlich einer der Uebrigen — es sind gar nicht so Viele übrig, so
berühmt ist er! — so beleidigt es ihn, dass man ihn nicht zum
Freund oder Feind haben wolle; er pflegt zu sagen: Was liegt mir
an Einem, der gar noch gegen mich den Gerechten zu spielen
vermag!“
169.
Offene Feinde. — Die Tapferkeit
vor dem Feinde ist ein Ding für sich: damit kann man immer noch
ein Feigling und ein unentschlossener Wirrkopf sein. So urtheilte
Napoleon in Hinsicht auf den „tapfersten Menschen“, der ihm
bekannt sei, Murat: — woraus sich ergiebt, dass offene Feinde für
manche Menschen unentbehrlich sind, falls sie sich zu ihrer Tugend, ihrer Männlichkeit und
Heiterkeit erheben sollen.
170.
Mit der Menge. — Er läuft bisher
mit der Menge und ist ihr Lobredner: aber eines Tages wird er ihr
Gegner sein! Denn er folgt ihr im Glauben, dass seine Faulheit
dabei ihre Rechnung fände: er hat noch nicht erfahren, dass die
Menge nicht faul genug für ihn ist! dass sie immer vorwärts
drängt! dass sie Niemandem erlaubt, stehen zu bleiben! — Und er
bleibt so gern stehen!
171.
Ruhm. — Wenn die Dankbarkeit
Vieler gegen Einen alle Scham wegwirft, so entsteht der Ruhm.
172.
Der Geschmacks-Verderber. — A.:
„Du bist ein Geschmacks-Verderber, — so sagt man überall!“
B.: „Sicherlich! Ich verderbe Jedermann den Geschmack an seiner
Partei: — das verzeiht mir keine Partei.“
173.
Tief sein und tief scheinen. — Wer
sich tief weiss, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief
scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält
Alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann: sie ist so
furchtsam und geht so ungern in’s Wasser.
Diep zijn en diep lijken . - Wie
zichzelf als diep beschouwt, streeft naar duidelijkheid; wie diep
wil lijken voor de massa, streeft naar duisternis. Want de massa
houdt alles voor diep, waarvan zij de grond niet kan zien: ze is
zo vreesachtig en gaat slechts met tegenzin het water in.
174.
Abseits. — Der Parlamentarismus,
das heisst die öffentliche Erlaubniss, zwischen fünf politischen
Grundmeinungen wählen zu dürfen, schmeichelt sich bei jenen Vielen
ein, welche gerne selbständig und individuell scheinen
und für ihre Meinungen kämpfen möchten. Zuletzt aber ist es
gleichgültig, ob der Heerde Eine Meinung befohlen oder fünf
Meinungen gestattet sind. — Wer von den fünf öffentlichen
Meinungen abweicht und bei Seite tritt, hat immer die ganze Heerde
gegen sich.
175.
Von der Beredtsamkeit. — Wer
besass bis jetzt die überzeugendste Beredtsamkeit? Der
Trommelwirbel: und so lange die Könige diesen in der Gewalt haben,
sind sie immer noch die besten Redner und Volksaufwiegler.
176.
Mitleiden. — Die armen regierenden
Fürsten! Alle ihre Rechte verwandeln sich jetzt unversehens in
Ansprüche, und all diese Ansprüche klingen bald wie Anmaassungen!
Und wenn sie nur „Wir“ sagen oder „mein Volk“, so lächelt schon
das alte boshafte Europa. Wahrhaftig, ein Oberceremonienmeister
der modernen Welt würde wenig Ceremonien mit ihnen machen;
vielleicht würde er decretiren: „les souverains rangent aux
parvenus“.
177.
Zum „Erziehungswesen“. — In
Deutschland fehlt dem höheren Menschen ein grosses
Erziehungsmittel: das Gelächter höherer Menschen; diese lachen
nicht in Deutschland.
178.
Zur moralischen Aufklärung. — Man
muss den Deutschen ihren Mephistopheles ausreden: und ihren Faust
dazu. Es sind zwei moralische Vorurtheile gegen den Werth der
Erkenntniss.
179.
Gedanken. — Gedanken sind die
Schatten unserer Empfindungen, — immer dunkler, leerer, einfacher,
als diese.
180.
Die gute Zeit der freien Geister. —
Die freien Geister nehmen sich auch vor der Wissenschaft noch ihre
Freiheiten — und einstweilen giebt man sie ihnen auch, — so lange
die Kirche noch steht! — In so fern haben sie jetzt ihre gute
Zeit.
181.
Folgen und Vorangehen. — A.: „Von
den Beiden wird der Eine immer folgen, der Andere immer
vorangehen, wohin sie auch das Schicksal führt. Und doch steht der Erstere über dem
Anderen, nach seiner Tugend und seinem Geiste!“ B.: „Und doch? Und
doch? Das ist für die Anderen geredet; nicht für mich, nicht für
uns! — Fit secundum regulam.“
182.
In der Einsamkeit. — Wenn man
allein lebt, so spricht man nicht zu laut, man schreibt auch nicht
zu laut: denn man fürchtet den hohlen Widerhall — die Kritik der
Nymphe Echo. — Und alle Stimmen klingen anders in der Einsamkeit!
183.
Die Musik der besten Zukunft. —
Der erste Musiker würde mir der sein, welcher nur die Traurigkeit
des tiefsten Glückes kennte, und sonst keine Traurigkeit: einen
solchen gab es bisher nicht.
184.
Justiz. — Lieber sich bestehlen
lassen, als Vogelscheuchen um sich haben — das ist mein Geschmack.
Und es ist unter allen Umständen eine Sache des Geschmackes — und
nicht mehr!
185.
Arm. — Er ist heute arm: aber
nicht weil man ihm Alles genommen, sondern weil er Alles
weggeworfen hat: — was macht es ihm? Er ist daran gewöhnt, zu
finden. — Die Armen sind es, welche seine freiwillige Armuth
missverstehen.
186.
Schlechtes Gewissen. — Alles, was
er jetzt thut, ist brav und ordentlich — und doch hat er ein
schlechtes Gewissen dabei. Denn das Ausserordentliche ist seine
Aufgabe.
187.
Das Beleidigende im Vortrage. —
Dieser Künstler beleidigt mich durch die Art, wie er seine
Einfälle, seine sehr guten Einfälle vorträgt: so breit und
nachdrücklich, und mit so groben Kunstgriffen der Ueberredung, als
ob er zum Pöbel spräche. Wir sind immer nach einiger Zeit, die wir
seiner Kunst schenkten, wie „in schlechter Gesellschaft“.
188.
Arbeit. — Wie nah steht jetzt auch
dem Müssigsten von uns die Arbeit und der Arbeiter! Die königliche
Höflichkeit in dem Worte „wir Alle sind Arbeiter!“ wäre noch unter
Ludwig dem Vierzehnten ein Cynismus und eine Indecenz gewesen.
189.
Der Denker. — Er ist ein Denker:
das heisst, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu
nehmen, als sie sind.
190.
Gegen die Lobenden. — A.: „Man
wird nur von Seinesgleichen gelobt!“ B.: „Ja! Und wer dich lobt,
sagt zu dir: du bist Meinesgleichen!“
191.
Gegen manche Vertheidigung. — Die
perfideste Art, einer Sache zu schaden, ist, sie absichtlich mit
fehlerhaften Gründen vertheidigen.
192.
Die Gutmüthigen. — Was
unterscheidet jene Gutmüthigen, denen Wohlwollen aus dem Gesichte
strahlt, von den anderen Menschen? Sie fühlen sich in Gegenwart
einer neuen Person wohl und sind schnell in sie verliebt; sie
wollen ihr dafür wohl, ihr erstes Urtheil ist „sie gefällt mir“.
Bei ihnen folgt auf einander: Wunsch der Aneignung (sie machen
sich wenig Scrupel über den Werth des Anderen), rasche Aneignung,
Freude am Besitz und Handeln zu Gunsten des Besessenen.
193.
Kant’s Witz. — Kant wollte auf
eine „alle Welt“ vor den Kopf stossende Art beweisen, dass „alle
Welt“ Recht habe: — das war der heimliche Witz dieser Seele. Er
schrieb gegen die Gelehrten zu Gunsten des Volks-Vorurtheils, aber
für Gelehrte und nicht für das Volk.
194.
Der „Offenherzige“. — Jener Mensch
handelt wahrscheinlich immer nach verschwiegenen Gründen: denn er
trägt immer mittheilbare Gründe auf der Zunge und beinahe in der
offnen Hand.
195.
Zum Lachen! — Seht hin! Seht hin!
Er läuft von den Menschen weg
—: diese aber folgen ihm nach, weil er vor
ihnen herläuft, — so sehr sind sie Heerde!
196.
Grenze unseres Hörsinns. — Man
hört nur die Fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort zu
finden.
197.
Darum Vorsicht! — Nichts theilen
wir so gern an Andere mit, als das Siegel der Verschwiegenheit —
sammt dem, was darunter ist.
198.
Verdruss des Stolzen. — Der Stolze
hat selbst an Denen, welche ihn vorwärts bringen, seinen Verdruss:
er blickt böse auf die Pferde seines Wagens.
199.
Freigebigkeit. — Freigebigkeit ist
bei Reichen oft nur eine Art Schüchternheit.
200.
Lachen. — Lachen heisst:
schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen.
201.
Im Beifall. — Im Beifall ist immer
eine Art Lärm: selbst in dem Beifall, den wir uns selber zollen.
202.
Ein Verschwender. — Er hat noch
nicht jene Armuth des Reichen, der seinen ganzen Schatz schon
einmal überzählt hat, — er verschwendet seinen Geist mit der
Unvernunft der Verschwenderin Natur.
203.
Hic niger est. — Er hat für
gewöhnlich keinen Gedanken, — aber für die Ausnahme kommen ihm
schlechte Gedanken.
204.
Die Bettler und die Höflichkeit. —
„Man ist nicht unhöflich, wenn man mit einem Steine an die Thüre
klopft, welcher der Klingelzug fehlt“ — so denken Bettler und
Nothleidende aller Art; aber Niemand giebt ihnen Recht.
205.
Bedürfniss. — Das Bedürfniss gilt
als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft nur eine
Wirkung des Entstandenen.
206.
Beim Regen. — Es regnet, und ich
gedenke der armen Leute, die sich jetzt zusammen drängen, mit
ihrer vielen Sorge und ohne Uebung, diese zu verbergen, also Jeder
bereit und guten Willens, dem Andern wehe zu thun und sich auch
bei schlechtem Wetter eine erbärmliche Art von Wohlgefühl zu
machen. — Das, nur das ist die Armuth der Armen!
207.
Der Neibold. — Das ist ein
Neidbold, — dem muss man keine Kinder wünschen; er würde auf sie
neidisch sein, weil er nicht mehr Kind sein kann.
208.
Grosser Mann! — Daraus, dass einer
„ein grosser Mann“ ist, darf man noch nicht schliessen, dass er
ein Mann ist; vielleicht ist es nur ein Knabe, oder ein Chamäleon
aller Lebensalter, oder ein verhextes Weiblein.
209.
Eine Art, nach Gründen zu fragen. —
Es giebt eine Art, uns nach unseren Gründen zu fragen, bei der wir
nicht nur unsre besten Gründe vergessen, sondern auch einen Trotz
und Widerwillen gegen Gründe überhaupt in uns erwachen fühlen: —
eine sehr verdummende Art zu fragen und recht ein Kunstgriff
tyrannischer Menschen!
210.
Maass im Fleisse. — Man muss den
Fleiss seines Vaters nicht überbieten wollen — das macht krank.
211.
Geheime Feinde. — Einen geheimen
Feind sich halten können — das ist ein Luxus, für den die
Moralität selbst hochgesinnter Geister nicht reich genug zu sein
pflegt.
212.
Sich nicht täuschen lassen. — Sein
Geist hat schlechte Manieren, er ist hastig und stottert immer vor
Ungeduld: so ahnt man kaum, in welcher langathmigen und
breitbrüstigen Seele er zu Hause ist.
213.
Der Weg zum Glücke. — Ein Weiser
fragte einen Narren, welches der Weg zum Glücke sei. Dieser
antwortete ohne Verzug, wie Einer, der nach dem Wege zur nächsten
Stadt gefragt wird: „Bewundere dich selbst und lebe auf der
Gasse!“ „Halt, rief der Weise, du verlangst zu viel, es genügt
schon sich selber zu bewundern!“ Der Narr entgegnete: „Aber wie
kann man beständig bewundern, ohne beständig zu verachten?“
214.
Der Glaube macht selig. — Die
Tugend giebt nur Denen Glück und eine Art Seligkeit, welche den
guten Glauben an ihre Tugend haben: — nicht aber jenen feineren
Seelen, deren Tugend im tiefen Misstrauen gegen sich und alle
Tugend besteht. Zuletzt macht also auch hier „der Glaube selig!“ —
und wohlgemerkt, nicht
die Tugend!
215.
Ideal und Stoff. — Du hast da ein
vornehmes Ideal vor Augen: aber bist du
auch ein so vornehmer Stein, dass aus dir solch ein Götterbild
gebildet werden dürfte? Und ohne diess — ist all deine Arbeit
nicht eine barbarische Bildhauerei? Eine Lästerung deines Ideals?
216.
Gefahr in der Stimme. — Mit einer
sehr lauten Stimme im Halse, ist man fast ausser Stande, feine
Sachen zu denken.
217.
Ursache und Wirkung. — Vor der
Wirkung glaubt man an andere Ursachen, als nach der Wirkung.
218.
Meine Antipathie. — Ich liebe die
Menschen nicht, welche, um überhaupt Wirkung zu thun, zerplatzen
müssen, gleich Bomben, und in deren Nähe man immer in Gefahr ist,
plötzlich das Gehör — oder noch mehr zu verlieren.
219.
Zweck der Strafe. — Die Strafe hat
den Zweck, Den zu bessern, welcher
straft , — das ist die letzte Zuflucht für die
Vertheidiger der Strafe.
220.
Opfer. — Ueber Opfer und
Aufopferung denken die Opferthiere anders, als die Zuschauer: aber
man hat sie von jeher nicht zu Worte kommen lassen.
221.
Schonung. — Väter und Söhne
schonen sich viel mehr unter einander, als Mütter und Töchter.
222.
Dichter und Lügner. — Der Dichter
sieht in dem Lügner seinen Milchbruder, dem er die Milch
weggetrunken hat; so ist Jener elend geblieben und hat es nicht
einmal bis zum guten Gewissen gebracht.
223.
Vicariat der Sinne. — „Man hat
auch die Augen um zu hören — sagte ein alter Beichtvater, der taub
wurde; und unter den Blinden ist Der König, wer die längsten Ohren
hat.“
224.
Kritik der Thiere. — Ich fürchte,
die Thiere betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen,
das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thierverstand
verloren hat, — als das wahnwitzige Thier, als das lachende Thier,
als das weinende Thier, als das unglückselige Thier.
225.
Die Natürlichen. — „Das Böse hat
immer den grossen Effect für sich gehabt! Und die Natur ist böse!
Seien wir also natürlich!“ — so schliessen im Geheimen die grossen
Effecthascher der Menschheit, welche man gar zu oft unter die
grossen Menschen gerechnet hat.
226.
Die Misstrauischen und der Stil. —
Wir sagen die stärksten Dinge schlicht, vorausgesetzt, dass
Menschen um uns sind, die an unsere Stärke glauben: — eine solche
Umgebung erzieht zur „Einfachheit des Stils“. Die Misstrauischen
reden emphatisch; die Misstrauischen machen emphatisch.
227.
Fehlschluss, Fehlschuss. — Er kann
sich nicht beherrschen: und daraus schliesst jene Frau, es werde
leicht sein, ihn zu beherrschen und wirft ihre Fangseile nach ihm
aus; — die Arme, die in Kürze seine Sclavin sein wird.
228.
Gegen die Vermittelnden. — Wer
zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist
gezeichnet als mittelmässig: er hat das Auge nicht dafür, das
Einmalige zu sehen; die Aehnlichseherei und Gleichmacherei ist das
Merkmal schwacher Augen.
229.
Trotz und Treue. — Er hält aus
Trotz an einer Sache fest, die ihm durchsichtig geworden ist, — er
nennt es aber „Treue“.
230.
Mangel an Schweigsamkeit. — Sein
ganzes Wesen überredet
nicht — das kommt daher, dass er nie eine gute Handlung, die er
that, verschwiegen hat.
231.
Die „Gründlichen“. — Die Langsamen
der Erkenntniss meinen, die Langsamkeit gehöre zur Erkenntniss.
232.
Träumen. — Man träumt gar nicht,
oder interessant. — Man muss lernen, ebenso zu wachen: — gar
nicht, oder interessant.
233.
Gefährlichster Gesichtspunct. —
Was ich jetzt thue oder lasse, ist für
alles Kommende so wichtig, als das grösste Ereigniss
der Vergangenheit: in dieser ungeheuren Perspective der Wirkung
sind alle Handlungen gleich gross und klein.
234.
Trostrede eines Musicanten. —
„Dein Leben klingt den Menschen nicht in die Ohren: für sie lebst
du ein stummes Leben, und alle Feinheit der Melodie, alle zarte
Entschliessung im Folgen oder Vorangehen, bleibt ihnen verborgen.
Es ist wahr: du kommst nicht auf breiter Strasse mit
Regimentsmusik daher, — aber desshalb haben diese Guten doch kein
Recht, zu sagen, es fehle deinem Lebenswandel an Musik. Wer Ohren
hat, der höre.“
235.
Geist und Charakter. — Mancher
erreicht seinen Gipfel als Charakter, aber sein Geist ist gerade
dieser Höhe nicht angemessen — und Mancher umgekehrt.
236.
Um die Menge zu bewegen. — Muss
nicht Der, welcher die Menge bewegen will, der Schauspieler seiner
selber sein? Muss er nicht sich selber erst in’s Grotesk-Deutliche
übersetzen und seine ganze Person und Sache in dieser Vergröberung
und Vereinfachung vortragen ?
237.
Der Höfliche. — „Er ist so
höflich!“ — Ja, er hat immer einen Kuchen für den Cerberus bei
sich und ist so furchtsam, dass er Jedermann für den Cerberus
hält, auch dich und mich, — das ist seine „Höflichkeit“.
238.
Neidlos. — Er ist ganz ohne Neid,
aber es ist kein Verdienst dabei: denn er will ein Land erobern,
das Niemand noch besessen und kaum Einer auch nur gesehen hat.
239.
Der Freudlose. — Ein einziger
freudloser Mensch genügt schon, um einem ganzen Hausstande
dauernden Missmuth und trüben Himmel zu machen; und nur durch ein
Wunder geschieht es, dass dieser Eine fehlt! — Das Glück ist lange
nicht eine so ansteckende Krankheit, — woher kommt das?
240.
Am Meere. — Ich würde mir kein
Haus bauen (und es gehört selbst zu meinem Glücke, kein
Hausbesitzer zu sein!). Müsste ich aber, so würde ich, gleich
manchem Römer, es bis in’s Meer hineinbauen, — ich möchte schon
mit diesem schönen Ungeheuer einige Heimlichkeiten gemeinsam
haben.
241.
Werk und Künstler. — Dieser
Künstler ist ehrgeizig und Nichts weiter: zuletzt ist sein Werk
nur ein Vergrösserungsglas, welches er Jedermann anbietet, der
nach ihm hinblickt.
242.
Suum cuique. — Wie gross auch die
Habsucht meiner Erkenntniss ist: ich kann aus den Dingen nichts
Anderes herausnehmen, als was mir schon gehört, — das Besitzthum
Anderer bleibt in den Dingen zurück. Wie ist es möglich, dass ein
Mensch Dieb oder Räuber sei!
243.
Ursprung von „Gut“ und „Schlecht“. —
Eine Verbesserung erfindet nur Der, welcher zu fühlen weiss:
„Diess ist nicht gut“.
244.
Gedanken und Worte. — Man kann
auch seine Gedanken nicht ganz in Worten wiedergeben.
245.
Lob in der Wahl. — Der Künstler
wählt seine Stoffe aus: das ist seine Art zu loben.
246.
Mathematik. — Wir wollen die
Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften
hineintreiben, so weit diess nur irgend möglich ist, nicht im
Glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden,
sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen
festzustellen . Die Mathematik ist
nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntniss.
247.
Gewohnheit. — Alle Gewohnheit
macht unsere Hand witziger und unseren Witz unbehender.
248.
Bücher. — Was ist an einem Buche
gelegen, das uns nicht einmal über alle Bücher hinweg trägt?
249.
Der Seufzer des Erkennenden. — „Oh
über meine Habsucht! In dieser Seele wohnt keine Selbstlosigkeit,
— vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, welches durch viele
Individuen wie durch seine
Augen sehen und wie mit seinen
Händen greifen möchte, — ein auch die ganze Vergangenheit noch
zurückholendes Selbst, welches Nichts verlieren will, was ihm
überhaupt gehören könnte! Oh über diese Flamme meiner Habsucht!
Oh, dass ich in hundert Wesen wiedergeboren würde!“ — Wer diesen
Seufzer nicht aus Erfahrung kennt, kennt auch die Leidenschaft des
Erkennenden nicht.
250.
Schuld. — Obschon die
scharfsinnigsten Richter der Hexen und sogar die Hexen selber von
der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem
nicht vorhanden. So steht es mit aller Schuld.
251.
Verkannte Leidende. — Die
grossartigen Naturen leiden anders, als ihre Verehrer sich
einbilden: sie leiden am härtesten durch die unedlen, kleinlichen
Wallungen mancher bösen Augenblicke, kurz, durch ihren Zweifel an
der eigenen Grossartigkeit, — nicht aber durch die Opfer und
Martyrien, welche ihre Aufgabe von ihnen verlangt. So lange
Prometheus Mitleid mit den Menschen hat und sich ihnen opfert, ist
er glücklich und gross in sich; aber wenn er neidisch auf Zeus und
die Huldigungen wird, welche Jenem die Sterblichen bringen, — da
leidet er!
252.
Lieber schuldig. — „Lieber
schuldig bleiben, als mit einer Münze zahlen, die nicht unser Bild
trägt!“ — so will es unsere Souveränität.
253.
Immer zu Hause. — Eines Tages
erreichen wir unser Ziel
— und weisen nunmehr mit Stolz darauf hin, was für lange Reisen
wir dazu gemacht haben. In Wahrheit merkten wir nicht, dass wir
reisten. Wir kamen aber dadurch so weit, dass wir an jeder Stelle
wähnten, zu Hause zu
sein.
254.
Gegen die Verlegenheit. — Wer
immer tief beschäftigt ist, ist über alle Verlegenheit hinaus.
255.
Nachahmer. — A.: „Wie? Du willst
keine Nachahmer?“ B.: „Ich will nicht, dass man mir Etwas
nachmache, ich will, dass Jeder sich Etwas vormache: das Selbe,
was ich thue.“ A.:
„Also —?“
256.
Hautlichkeit. — Alle Menschen der
Tiefe haben ihre Glückseligkeit darin, einmal den fliegenden
Fischen zu gleichen und auf den äussersten Spitzen der Wellen zu
spielen; sie schätzen als das Beste an den Dingen, — dass sie eine
Oberfläche haben: ihre Hautlichkeit — sit venia verbo.
257.
Aus der Erfahrung. — Mancher weiss
nicht, wie reich er ist, bis er erfährt, was für reiche Menschen
an ihm noch zu Dieben werden.
258.
Die Leugner des Zufalls. — Kein
Sieger glaubt an den Zufall.
259.
Aus dem Paradiese. — „Gut und böse
sind die Vorurtheile Gottes“ — sagte die Schlange.
260.
Ein Mal eins. — Einer hat immer
Unrecht: aber mit Zweien beginnt die Wahrheit. — Einer kann sich
nicht beweisen: aber Zweie kann man bereits nicht widerlegen.
261.
Originalität. — Was ist
Originalität? Etwas sehen ,
das noch keinen Namen trägt, noch nicht genannt werden kann, ob es
gleich vor Aller Augen liegt. Wie die Menschen gewöhnlich sind,
macht ihnen erst der Name ein Ding überhaupt sichtbar. — Die
Originalen sind zumeist auch die Namengeber gewesen.
262.
Sub specie aeterni. — A.: „Du
entfernst dich immer schneller von den Lebenden: bald werden sie
dich aus ihren Listen streichen!“ — B.: „Es ist das einzige
Mittel, um an dem Vorrecht der Todten theilzuhaben.“ — A.: „An
welchem Vorrecht?“ — B.: „Nicht mehr zu sterben.“
263.
Ohne Eitelkeit. — Wenn wir lieben,
so wollen wir, dass unsere Mängel verborgen bleiben, — nicht aus
Eitelkeit, sondern, weil das geliebte Wesen nicht leiden soll. Ja,
der Liebende möchte ein Gott scheinen, — und auch diess nicht aus
Eitelkeit.
264.
Was wir thun. — Was wir thun, wird
nie verstanden, sondern immer nur gelobt und getadelt.
265.
Letzte Skepsis. — Was sind denn
zuletzt die Wahrheiten des Menschen? — Es sind die unwiderlegbaren Irrthümer des Menschen.
266.
Wo Grausamkeit noth thut. — Wer
Grösse hat, ist grausam gegen seine Tugenden und Erwägungen
zweiten Ranges.
267.
Mit einem grossen Ziele. — Mit
einem grossen Ziele ist man sogar der Gerechtigkeit überlegen,
nicht nur seinen Thaten und seinen Richtern.
268.
Was macht heroisch? — Zugleich
seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehn.
269.
Woran glaubst du? — Daran: dass
die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen.
270.
Was sagt dein Gewissen? — „Du
sollst der werden, der du bist.“
271.
Wo liegen deine grössten Gefahren? —
Im Mitleiden.
272.
Was liebst du an Anderen? — Meine
Hoffnungen.
273.
Wen nennst du schlecht? — Den, der
immer beschämen will.
274.
Was ist dir das Menschlichste? —
Jemandem Scham ersparen.
275.
Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? —
Sich nicht mehr vor sich selber schämen.
Der du mit dem Flammenspeere
Meiner Seele Eis zertheilt,
Dass sie brausend nun zum Meere
Ihrer höchsten Hoffnung eilt:
Heller stets und stets gesunder,
Frei im liebevollsten Muss: —
Also preist sie deine Wunder,
Schönster Januarius!
Genua im Januar 1882.
Gij die met uw vlammenspeer
mijn in ijs verkilde ziel doorklieft ,
Zodat ze bruist nu, en naar de zee
van haar hoogste hope vliedt,
helderder, en steeds gezonder,
onweerstaanbaar vrij,
En ze roept, verwonderd:
Januarius, hoe schoon zijt gij.
Genua, januari 1882
276.
Zum neuen Jahre. — Noch lebe ich,
noch denke ich: ich muss noch leben, denn ich muss noch denken.
Sum, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich Jedermann
seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen: nun, so will
auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und
welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, —
welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süssigkeit alles
weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, das
Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: — so werde ich
Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati:
das sei von nun an meine Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das
Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal
die Ankläger anklagen. Wegsehen
sei meine einzige Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich
will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!
Op het nieuwe jaar. — Nog leef iknog,
nog denk ik: ik moet nog leven, want ik moet nog denken. Sum, ergo
cogito: cogito, ergo sum. Vandaag mag iedereen zijn wens en lief
gedachten uitspreken: Welaan, dan wil ook ik zeggen wat ik mijzelf
vandaag toewens en welke gedachte mij dit jaar als eerste door het
hart ging — welke gedachte voor mij grondslag, waarborg en zoetheid
voor de rest van mijn leven moet zijn! Ik wil steeds beter leren het
noodzakelijke van de dingen te zien als het mooie: dan behoor ik tot
hen die de dingen mooi maken. Amor fati: dat zij van na af aan mijn
liefde! Ik wil geen oorlog voeren tegen het lelijke. Ik wil niet
aanklagen, ik wil zelfs de aanklagers niet aanklagen. Wegkijken
zij mijn enige ontkenning ! Alles tesamen gevat: ik wil ooit
nog eens alleen maar een ja-zegger zijn!
277.
Persönliche Providenz. — Es giebt
einen gewissen hohen Punct des Lebens: haben wir den erreicht, so
sind wir mit all unserer Freiheit, und so sehr wir dem schönen
Chaos des Daseins alle fürsorgende Vernunft und Güte abgestritten
haben, noch einmal in der grössten Gefahr der geistigen Unfreiheit
und haben unsere schwerste Probe abzulegen. Jetzt nämlich stellt
sich erst der Gedanke an eine persönliche Providenz mit der
eindringlichsten Gewalt vor uns hin und hat den besten
Fürsprecher, den Augenschein, für sich, jetzt wo wir mit Händen
greifen, dass uns alle, alle Dinge, die uns treffen, fortwährend
zum Besten gereichen . Das Leben
jedes Tages und jeder Stunde scheint Nichts mehr zu wollen, als
immer nur diesen Satz neu beweisen; sei es was es sei, böses wie
gutes Wetter, der Verlust eines Freundes, eine Krankheit, eine
Verleumdung, das Ausbleiben eines Briefes, die Verstauchung eines
Fusses, ein Blick in einen Verkaufsladen, ein Gegenargument, das
Aufschlagen eines Buches, ein Traum, ein Betrug: es erweist sich
sofort oder sehr bald nachher als ein Ding, das „nicht fehlen
durfte“, — es ist voll tiefen Sinnes und Nutzens gerade für uns ! Giebt es eine gefährlichere
Verführung, den Göttern Epikur’s, jenen sorglosen Unbekannten, den
Glauben zu kündigen und an irgend eine sorgenvolle und kleinliche
Gottheit zu glauben, welche selbst jedes Härchen auf unserem Kopfe
persönlich kennt und keinen Ekel in der erbärmlichsten
Dienstleistung findet? Nun — ich meine trotzalledem! wir wollen
die Götter in Ruhe lassen und die dienstfertigen Genien ebenfalls
und uns mit der Annahme begnügen, dass unsere eigene practische
und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der
Ereignisse jetzt auf ihren Höhepunct gelangt sei. Wir wollen auch
nicht zu hoch von dieser Fingerfertigkeit unserer Weisheit denken,
wenn uns mitunter die wunderbare Harmonie allzusehr überrascht,
welche beim Spiel auf unserem Instrumente entsteht: eine Harmonie,
welche zu gut klingt, als dass wir es wagten, sie uns selber
zuzurechnen. In der That, hier und da spielt Einer mit uns — der liebe Zufall: er führt
uns gelegentlich die Hand, und die allerweiseste Providenz könnte
keine schönere Musik erdenken, als dann dieser unserer thörichten
Hand gelingt.
278.
Der Gedanke an den Tod. — Es macht
mir ein melancholisches Glück, mitten in diesem Gewirr der
Gässchen, der Bedürfnisse, der Stimmen zu leben: wieviel
Geniessen, Ungeduld, Begehren, wieviel durstiges Leben und
Trunkenheit des Lebens kommt da jeden Augenblick an den Tag! Und
doch wird es für alle diese Lärmenden, Lebenden, Lebensdurstigen
bald so stille sein! Wie steht hinter Jedem sein Schatten, sein
dunkler Weggefährte! Es ist immer wie im letzten Augenblicke vor
der Abfahrt eines Auswandererschiffes: man hat einander mehr zu
sagen als je, die Stunde drängt, der Ozean und sein ödes Schweigen
wartet ungeduldig hinter alle dem Lärme — so begierig, so sicher
seiner Beute. Und Alle, Alle meinen, das Bisher sei Nichts oder
Wenig, die nahe Zukunft sei Alles: und daher diese Hast, diess
Geschrei, dieses Sich-Uebertäuben und Sich-Uebervortheilen! Jeder
will der Erste in dieser Zukunft sein, — und doch ist Tod und
Todtenstille das einzig Sichere und das Allen Gemeinsame dieser
Zukunft! Wie seltsam, dass diese einzige Sicherheit und
Gemeinsamkeit fast gar Nichts über die Menschen vermag und dass
sie am Weitesten davon
entfernt sind, sich als die Brüderschaft des Todes zu fühlen! Es
macht mich glücklich, zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an
den Tod durchaus nicht denken wollen! Ich möchte gern Etwas dazu
thun, ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal denkenswerther zu machen.
De gedachte aan de dood.
Het schenkt mij een
melancholisch geluk om te leven te midden van deze wirwar van
steegjes, van behoeften, van stemmen: hoeveel genot, ongeduld en
verlangen, hoeveel dorstig leven en dronkenschap van het leven komt
daar elk moment aan de dag! En toch zal het voor al deze
luidruchtige, levende, levenslustige mensen weldra heel stil zijn!
Achter ieder van hen doemt zijn schaduw op, zijn duistere
reisgenoot! Altijd opnieuw is het, zoals in het laatste ogenblik
vóór het vertrek van een emigrantenschip: Men heeft elkaar meer te
zeggen dan ooit, de tijd dringt, de oceaan met zijn doodse stilte
ligt achter al dat rumoer al ongeduldig te wachten – zo begerig, zo
zeker van zijn buit! En allen, allen denken, dat wat tot nu toe is
geweest, niets is of weinig; en de nabije toekomst alles zal zijn.
Vandaar die haast, dat geroep, dat elkaar overstemmen en voorsteken!
Iedereen wil de eerste zijn in die toekomst – en toch zijn de dood
en de stilte die daar heerst het enige zekere en enige
gemeenschappelijke dat ze in die toekomst hebben zullen!
Merkwaardig, dat juist het enige dat alle mensen zeker en
gemeenschappelijk is, hen toch niet echt bezighoudt en dat het
heel ver van hen afstaat zich een broederschap des doods te
voelen! Het maakt me gelukkig, te zien, dat de mensen de gedachte
aan de dood volstrekt niet willen doordenken! Ik zou graag een
bijdrage daaraan willen leveren door voor hen de gedachte aan het
leven nog 100x gedenkwaardiger (de moeite van het
overdenken, nadenken, doordenken waard) te maken.
De
cogitatione mortis .
-
Felicitas
tristi s
me subit, dum in his angiportis, inter clamores, inter studia et
cupiditates mortalium versor. Quanta voluptas, quanta impatientia,
quantum sitiens vivere ac vitae ebrietas cotidie hic effertur in
lucem! Et tamen, brevi cunctis his tumultuantibus, viventibus, vitam
sitientibus silentium erit profundum. Post unumquemque umbra stat,
comes obscurus ac tacitus itineris.
Semper hoc
loco simile est ac si in ipso momento discessus navis migrantium
staremus: plus inter se loquuntur homines quam unquam antea, hora
urget, oceanus autem, taciturnus et vastus, post omnem hunc
strepitum exspectat, praedam suam avidus et certus.
Omnes,
omnes existimant praeterita nihil vel parum fuisse, futurum autem
proximum esse totum: hinc festinatio, hinc clamor, hinc invicem
superare ac superstrepere volunt! Unusquisque cupit primus in illa
futura esse — et tamen mors et mortis silentium sola sunt certa,
sola omnibus communia in illa futura!
Mira res!
Hoc unum certum, hoc commune genus humanum vix tangit, et longissime
absunt a sensu quod fratres mortis sint.
Me tamen iuvat videre homines mortis memoriam recusantes: ego vero velim
efficere ut vitam ipsam centies digniorem cogitatione faciam.
(vertaling door Seneca (chatgpt 5))
279.
Sternen-Freundschaft. — Wir waren
Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so und wir
wollen’s uns nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen
zu schämen hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel
und seine Bahn hat; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest
miteinander feiern, wie wir es gethan haben, — und dann lagen die
braven Schiffe so ruhig in Einem Hafen und in Einer Sonne, dass es
scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten Ein Ziel
gehabt. Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe
wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche und
vielleicht sehen wir uns nie wieder, — vielleicht auch sehen wir
uns wohl, aber erkennen uns nicht wieder: die verschiedenen Meere
und Sonnen haben uns verändert! Dass wir uns fremd werden müssen,
ist das Gesetz über
uns: ebendadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden!
Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft
heiliger werden! Es giebt wahrscheinlich eine ungeheure
unsichtbare Curve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen
Strassen und Ziele als kleine Wegstrecken einbegriffen
sein mögen, — erheben wir uns zu diesem Gedanken! Aber unser Leben
ist zu kurz und unsere Sehkraft zu gering, als dass wir mehr als
Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeit sein könnten. — Und
so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft glauben ,
selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten.
Sterrenvriendschap
We zijn vrienden geweest en van elkaar vervreemd. Maar dat is goed
zo, laten we het niet wegstoppen of donkerder maken dan het is,
alsof we ons daarvoor zouden moeten schamen. We zijn twee schepen,
elk met een eigen bestemming/doel en een eigen koers daarheen; we
kunnen elkaar wel kruisen en samen een feest vieren, zoals we ook
hebben gedaan – en toen lagen die brave schepen zo rustig in één
haven en in één zon, dat het wel leek, dat ze hun bestemming/doel al
hadden bereikt, en dat die bestemming dezelfde was. Maar vervolgens
dreef de almachtige kracht van onze opdracht ons weer uiteen, naar
verschillende zeeën en zonnestreken, en misschien zien we elkaar
nooit meer terug – of we zien elkaar wel terug, maar herkennen
elkaar niet meer: de verschillende zeeën en zonnen hebben ons
veranderd! Dat we vreemden voor elkaar moeten worden, dat is de wet
boven ons : Precies daarom zouden we we elkaar meer eer
moeten bewijzen ! En zouden we de gedachte(nis) aan onze vroegere
vriendschap nog meer moeten heiligen! Wellicht bestaat er een
enorme, onzichtbare boog en sterrenbaan, waarin onze zo
verschillende wegen en bestemmingen als deeltrajecten toch
zijn inbegrepen – laten we ons tot deze
gedachte verheffen! Maar ons leven is te kort en ons
gezichtsvermogen te gering, om meer te kunnen zijn dan vrienden in
de zin van die verheven mogelijkheid. – Laten we dus in onze
sterrenvriendschap geloven , zelfs als we elkaars
aardse vijanden zouden moeten zijn.
280.
Architektur der Erkennenden. — Es
bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor
Allem unseren grossen Städten fehlt: stille und weite,
weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen
Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein
Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt und wo ein feinerer
Anstand selbst dem Priester das laute Beten untersagen würde:
Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des
Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrücken. Die Zeit ist
vorbei, wo die Kirche das Monopol des Nachdenkens besass, wo die
vita contemplativa immer zuerst vita religiosa sein musste: und
Alles, was die Kirche gebaut hat, drückt diesen Gedanken aus. Ich
wüsste nicht, wie wir uns mit ihren Bauwerken, selbst wenn sie
ihrer kirchlichen Bestimmung entkleidet würden, genügen lassen
könnten; diese Bauwerke reden eine viel zu pathetische und
befangene Sprache, als Häuser Gottes und Prunkstätten eines
überweltlichen Verkehrs, als dass wir Gottlosen hier unsere Gedanken denken könnten. Wir
wollen uns in Stein und
Pflanze übersetzt haben, wir wollen in
uns spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und
Gärten wandeln.
Architectuur voor wie wil nadenken.
Ooit, en waarschijnlijk al snel, zal er inzicht nodig zijn in
wat onze grote steden bovenal ontberen: stille, ruime, uitgestrekte
plaatsen om na te denken; plaatsen met hoge en lange zuilengangen
voor slecht of al te zonnig weer, waar verkeerslawaai en
verkoopspraatjes (lett: geroep van de marktkramer ) niet
doordringen, en waar een nieuwe fijngevoeligheid (ein feinerer
Anstand ) ook de priester ervan weerhoudt hardop te bidden:
bouwwerken en andere inplantingen (AnlagAnlage ) die als
geheel de verhevenheid van het ‘zich-bezinnen’ en ‘afstand-nemen’ /
'een stap opzij zetten'(bei-Seitegehenn> ) uitdrukken. De
tijd is voorbij, waarin de Kerk het monopolie op nadenken bezat,
waarin de vita contemplativa eerst en vooral vita religiosa moest
zijn. Alles wat de Kerk gebouwd heeft, brengt deze gedachte tot
uitdrukking. Zelfs als deze gebouwen van hun kerkelijke bestemming
ontdaan zijn, dan nog spreken ze een veel te pathetische en bevangen
taal – huizen van God blijven het, schouwtonelen van een
bovenwereldlijke omgang. Ze voldoen gewoonweg niet aan de criteria
van gebouwen die wij nodig hebben, wij, godloze mensen. Deze
gebouwen laten ons niet toe onze gedachten te denken.
Wij willen ons in steen en plant vertaald
zien. Wij willen in ons gaan wandelen als wij in deze
hallen en tuinen vertoeven. [toelichting ]
281.
Das Ende zu finden wissen. — Die
Meister des ersten Ranges geben sich dadurch zu erkennen, dass sie
im Grossen wie im Kleinen auf eine vollkommene Weise das Ende zu
finden wissen, sei es das Ende einer Melodie oder eines Gedankens,
sei es der fünfte Act einer Tragödie oder Staats-Action. Die
ersten der zweiten Stufe werden immer gegen das Ende hin unruhig,
und fallen nicht in so stolzem ruhigem Gleichmaasse in’s Meer ab,
wie zum Beispiel das Gebirge bei Porto fino — dort, wo die Bucht
von Genua ihre Melodie zu Ende singt.
Het einde weten te vinden.
— De meesters van de eerste rang kun je hieraan herkennen dat
ze zowel in het grote als het kleine op een volkomen wijze het einde
weten te vinden, of dat nu het einde van een melodie of een gedachte
is, of het vijfde bedrijf van een tragedie of een politiek klucht.
De besten van de tweede rang worden altijd onrustig tegen het einde,
en glijden niet zo trots en rustig in de zee als bijvoorbeeld het
gebergte bij Porto Fino — daar waar de baai van Genua haar melodie
ten einde zingt.
282.
Der Gang. — Es giebt Manieren des
Geistes, an denen auch grosse Geister verrathen, dass sie vom
Pöbel oder Halbpöbel herkommen: — der Gang und Schritt ihrer
Gedanken ist es namentlich, der den Verräther macht; sie können
nicht gehen . So konnte
auch Napoleon zu seinem tiefen Verdrusse nicht fürstenmässig und
„legitim“ gehen, bei Gelegenheiten, wo man es eigentlich verstehen
muss, wie bei grossen Krönungs-Processionen und Aehnlichem: auch
da war er immer nur der Anführer einer Colonne — stolz und hastig
zugleich und sich dessen sehr bewusst. — Man hat Etwas zum Lachen,
diese Schriftsteller zu sehen, welche die faltigen Gewänder der
Periode um sich rauschen machen: sie wollen so ihre Füsse verdecken.
De tred .
— Er zijn gedragingen van de geest, waarmee ook grote geesten
verraden dat ze afkomstig zijn uit het gepeupel of het halve
gepeupel: het zijn met name de gang en de tred van hun gedachten die
hen verraden; ze kunnen niet gaan ( schrijden) .
Zo kon ook Napoleon tot zijn grote ergernis niet vorstelijk en
‘legitiem’ gaan (schrijden ) bij gelegenheden waar je dat
eigenlijk wel zou moeten kunnen, zoals bij grote kroningsprocessies
en dergelijke: ook daar was hij altijd slechts de aanvoerder van een
kolonne — trots en gehaast tegelijk en zich daarvan ten zeerste
bewust. — Het is grappig om te zien hoe schrijvers de geplooide
gewaden van de volzin om zich heen laten ruisen: zo willen ze hun voeten
aan het oog onttrekken.
283.
Vorbereitende Menschen. — Ich
begrüsse alle Anzeichen dafür, dass ein männlicheres, ein
kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor allem die Tapferkeit
wieder zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch höheren
Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes
einmal nöthig haben wird, — jenes Zeitalter, das den Heroismus in
die Erkenntniss trägt und Kriege
führt um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu
bedarf es für jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen,
welche doch nicht aus dem Nichts entspringen können — und
ebensowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen Civilisation und
Grossstadt-Bildung: Menschen, welche es verstehen, schweigend,
einsam, entschlossen, in unsichtbarer Thätigkeit zufrieden und
beständig zu sein: Menschen, die mit innerlichem Hange an allen
Dingen nach dem suchen, was an ihnen zu
überwinden ist: Menschen, denen Heiterkeit, Geduld,
Schlichtheit und Verachtung der grossen Eitelkeiten ebenso zu
eigen ist, als Grossmuth im Siege und Nachsicht gegen die kleinen
Eitelkeiten aller Besiegten: Menschen mit einem scharfen und
freien Urtheile über alle Sieger und über den Antheil des Zufalls
an jedem Siege und Ruhme: Menschen mit eigenen Festen, eigenen
Werktagen, eigenen Trauerzeiten, gewohnt und sicher im Befehlen
und gleich bereit, wo es gilt, zu gehorchen, im Einen wie im
Anderen gleich stolz, gleich ihrer eigenen Sache dienend:
gefährdetere Menschen, fruchtbarere Menschen, glücklichere
Menschen! Denn, glaubt es mir! — das Geheimniss, um die grösste
Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten,
heisst: gefährlich leben !
Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in
unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch
selber! Seid Räuber und Eroberer, so lange ihr nicht Herrscher und
Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden! Die Zeit geht bald vorbei,
wo es euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in Wäldern
versteckt zu leben! Endlich wird die Erkenntniss die Hand nach dem
ausstrecken, was ihr gebührt: — sie wird herrschen
und besitzen wollen,
und ihr mit ihr!
284.
Der Glaube an sich. — Wenige
Menschen überhaupt haben den Glauben an sich: — und von diesen
Wenigen bekommen ihn die Einen mit, als eine nützliche Blindheit
oder theilweise Verfinsterung ihres Geistes — (was würden sie
erblicken, wenn sie sich selber auf
den Grund sehen könnten!), die Anderen müssen ihn
sich erst erwerben: Alles, was sie Gutes, Tüchtiges, Grosses thun,
ist zunächst ein Argument gegen den Skeptiker, der in ihnen haust:
es gilt, diesen zu
überzeugen oder zu überreden, und dazu bedarf es beinahe des
Genie’s. Es sind die grossen Selbst-Ungenügsamen.
285.
Excelsior! — „Du wirst niemals
mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen
Vertrauen ausruhen — du versagst es dir, vor einer letzten
Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine
Gedanken abzuschirren — du hast keinen fortwährenden Wächter und
Freund für deine sieben Einsamkeiten — du lebst ohne den Ausblick
auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluthen in seinem
Herzen trägt — es giebt für dich keinen Vergelter, keinen
Verbesserer letzter Hand mehr — es giebt keine Vernunft in dem
mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird —
deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu
finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgend
einen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg
und Frieden: — Mensch der Entsagung, in Alledem willst du
entsagen? Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte Niemand
diese Kraft!“ — Es giebt einen See, der es sich eines Tages
versagte, abzufliessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher
abfloss: seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird
gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die
Entsagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird der Mensch
von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott
ausfliesst .
286.
Zwischenrede. — Hier sind
Hoffnungen; was werdet ihr aber von ihnen sehen und hören, wenn
ihr nicht in euren eigenen Seelen Glanz und Gluth und Morgenröthen
erlebt habt? Ich kann nur erinnern — mehr kann ich nicht! Steine
bewegen, Thiere zu Menschen machen — wollt ihr das von mir? Ach,
wenn ihr noch Steine und Thiere seid, so sucht euch erst euren
Orpheus!
287.
Lust an der Blindheit. — „Meine
Gedanken, sagte der Wanderer zu seinem Schatten, sollen mir
anzeigen, wo ich stehe: aber sie sollen mir nicht verrathen,
wohin ich gehe . Ich liebe die
Unwissenheit um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem
Vorwegkosten verheissener Dinge zu Grunde gehen.“
288.
Hohe Stimmungen. — Mir scheint es,
dass die meisten Menschen an hohe Stimmungen überhaupt nicht
glauben, es sei denn für Augenblicke, höchstens Viertelstunden, —
jene Wenigen ausgenommen, welche eine längere Dauer des hohen
Gefühls aus Erfahrung kennen. Aber gar der Mensch Eines hohen
Gefühls, die Verkörperung einer einzigen grossen Stimmung sein —
das ist bisher nur ein Traum und eine entzückende Möglichkeit
gewesen: die Geschichte giebt uns noch kein sicheres Beispiel
davon. Trotzdem könnte sie einmal auch solche Menschen gebären —
dann, wenn eine Menge günstige Vorbedingungen geschaffen und
festgestellt worden sind, die jetzt auch der glücklichste Zufall
nicht zusammenzuwürfeln vermag. Vielleicht wäre diesen zukünftigen
Seelen eben Das der gewöhnliche Zustand, was bisher als die mit
Schauder empfundene Ausnahme hier und da einmal in unseren Seelen
eintrat: eine fortwährende Bewegung zwischen hoch und tief und das
Gefühl von hoch und tief, ein beständiges Wie-auf-Treppen-steigen
und zugleich Wie-auf-Wolken-ruhen.
289.
Auf die Schiffe! — Erwägt man, wie
auf jeden Einzelnen eine philosophische Gesammt-Rechtfertigung
seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt — nämlich gleich einer
wärmenden, segnenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden Sonne,
wie sie unabhängig von Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich,
freigebig an Glück und Wohlwollen macht, wie sie unaufhörlich das
Böse zum Guten umschafft, alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden
bringt und das kleine und grosse Unkraut des Grams und der
Verdriesslichkeit gar nicht aufkommen lässt: — so ruft man zuletzt
verlangend aus: oh dass doch viele solche neue Sonnen noch
geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der
Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen
Sonnenschein haben! Nicht Mitleiden mit ihnen thut noth! — diesen
Einfall des Hochmuths müssen wir verlernen, so lange auch bisher
die Menschheit gerade an ihm gelernt und geübt hat — keine
Beichtiger, Seelenbeschwörer und Sündenvergeber haben wir für sie
aufzustellen! Sondern eine neue Gerechtigkeit
thut noth! Und eine neue Losung! Und neue Philosophen! Auch die
moralische Erde ist rund! Auch die moralische Erde hat ihre
Antipoden! Auch die Antipoden haben ihr Recht des Daseins! Es
giebt noch eine andere Welt zu entdecken — und mehr als eine! Auf
die Schiffe, ihr Philosophen!
290.
Eins ist Noth. — Seinem Charakter
„Stil geben“ — eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher
Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet,
und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als
Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge
entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen
worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen: — beidemal mit
langer Uebung und täglicher Arbeit daran. Hier ist das Hässliche,
welches sich nicht abtragen liess, versteckt, dort ist es in’s
Erhabene umgedeutet. Vieles Vage, der Formung Widerstrebende ist
für Fernsichten aufgespart und ausgenutzt worden: — es soll in das
Weite und Unermessliche hinaus winken. Zuletzt, wenn das Werk
vollendet ist, offenbart sich, wie es der Zwang des selben
Geschmacks war, der im Grossen und Kleinen herrschte und bildete:
ob der Geschmack ein guter oder ein schlechter war, bedeutet
weniger, als man denkt, — genug, dass es Ein Geschmack ist! — Es
werden die starken, herrschsüchtigen Naturen sein, welche in einem
solchen Zwange, in einer solchen Gebundenheit und Vollendung unter
dem eigenen Gesetz ihre feinste Freude geniessen; die Leidenschaft
ihres gewaltigen Wollens erleichtert sich beim Anblick aller
stilisirten Natur, aller besiegten und dienenden Natur; auch wenn
sie Paläste zu bauen und Gärten anzulegen haben, widerstrebt es
ihnen, die Natur frei zu geben. — Umgekehrt sind es die schwachen,
ihrer selber nicht mächtigen Charaktere, welche die Gebundenheit
des Stils hassen : sie
fühlen, dass, wenn ihnen dieser bitterböse Zwang auferlegt würde,
sie unter ihm gemein
werden müssten: — sie werden Sclaven, sobald sie dienen, sie
hassen das Dienen. Solche Geister — es können Geister ersten
Ranges sein — sind immer darauf aus, sich selber und ihre
Umgebungen als freie
Natur — wild, willkürlich, phantastisch, unordentlich,
überraschend — zu gestalten oder auszudeuten: und sie thun wohl
daran, weil sie nur so sich selber wohlthun! Denn Eins ist Noth:
dass der Mensch seine Zufriedenheit mit sich erreiche
— sei es nun durch diese oder jene Dichtung und Kunst: nur dann
erst ist der Mensch überhaupt erträglich anzusehen! Wer mit sich
unzufrieden ist, ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen: wir
Anderen werden seine Opfer sein, und sei es auch nur darin, dass
wir immer seinen hässlichen Anblick zu ertragen haben. Denn der
Anblick des Hässlichen macht schlecht und düster.
291.
Genua. — Ich habe mir diese Stadt,
ihre Landhäuser und Lustgärten und den weiten Umkreis ihrer
bewohnten Höhen und Hänge eine gute Weile angesehen; endlich muss
ich sagen: ich sehe Gesichter
aus vergangenen Geschlechtern, — diese Gegend ist mit den
Abbildern kühner und selbstherrlicher Menschen übersäet. Sie haben
gelebt und haben fortleben
wollen — das sagen sie mir mit ihren Häusern, gebaut und
geschmückt für Jahrhunderte und nicht für die flüchtige Stunde:
sie waren dem Leben gut, so böse sie oft gegen sich gewesen sein
mögen. Ich sehe immer den Bauenden, wie er mit seinen Blicken auf
allem fern und nah um ihn her Gebauten ruht und ebenso auf Stadt,
Meer und Gebirgslinien, wie er mit diesem Blick Gewalt und
Eroberung ausübt: Alles diess will er seinem
Plane einfügen und zuletzt zu seinem Eigenthum
machen, dadurch dass es ein Stück desselben wird. Diese ganze
Gegend ist mit dieser prachtvollen unersättlichen Selbstsucht der
Besitz- und Beutelust überwachsen; und wie diese Menschen in der
Ferne keine Grenze anerkannten und in ihrem Durste nach Neuem eine
neue Welt neben die alte hinstellten, so empörte sich auch in der
Heimat immer noch Jeder gegen Jeden und erfand eine Weise, seine
Ueberlegenheit auszudrücken und zwischen sich und seinen Nachbar
seine persönliche Unendlichkeit dazwischen zu legen. Jeder
eroberte sich seine Heimat noch einmal für sich, indem er sie mit
seinen architektonischen Gedanken überwältigte und gleichsam zur
Augenweide seines Hauses umschuf. Im Norden imponirt das Gesetz
und die allgemeine Lust an Gesetzlichkeit und Gehorsam, wenn man
die Bauweise der Städte ansieht: man erräth dabei jenes innerliche
Sich-Gleichsetzen, Sich-Einordnen, welches die Seele aller
Bauenden beherrscht haben muss. Hier aber findest du, um jede Ecke
biegend, einen Menschen für sich, der das Meer, das Abenteuer und
den Orient kennt, einen Menschen, welcher dem Gesetze und dem
Nachbar wie einer Art von Langerweile abhold ist und der alles
schon Begründete, Alte mit neidischen Blicken misst: er möchte,
mit einer wundervollen Verschmitztheit der Phantasie, diess Alles
mindestens im Gedanken noch einmal neu gründen, seine Hand
darauf-, seinen Sinn hineinlegen — sei es auch nur für den
Augenblick eines sonnigen Nachmittags, wo seine unersättliche und
melancholische Seele einmal Sattheit fühlt, und seinem Auge nur
Eigenes und nichts Fremdes mehr sich zeigen darf.
292.
An die Moral-Prediger. — Ich will
keine Moral machen, aber Denen, welche es thun, gebe ich diesen
Rath: wollt ihr die besten Dinge und Zustände zuletzt um alle Ehre
und Werth bringen, so fahrt fort, sie in den Mund zu nehmen, wie
bisher! Stellt sie an die Spitze eurer Moral und redet von früh
bis Abend von dem Glück der Tugend, von der Ruhe der Seele, von
der Gerechtigkeit und der immanenten Vergeltung: so wie ihr es
treibt, bekommen alle diese guten Dinge dadurch endlich eine
Popularität und ein Geschrei der Gasse für sich: aber dann wird
auch alles Gold daran abgegriffen sein und mehr noch: alles Gold
darin wird sich in Blei verwandelt
haben. Wahrlich, ihr versteht euch auf die umgekehrte Kunst der
Alchymie, auf die Entwerthung des Werthvollsten! Greift einmal zum
Versuche nach einem andern Recepte, um nicht wie bisher das
Gegentheil von dem, was ihr sucht, zu erreichen: leugnet
jene guten Dinge, entzieht ihnen den Pöbel-Beifall und den
leichten Umlauf, macht sie wieder zu verborgenen Schamhaftigkeiten
einsamer Seelen, sagt, Moral sei
etwas Verbotenes ! Vielleicht gewinnt ihr so die Art
von Menschen für diese Dinge, auf welche einzig Etwas ankommt, ich
meine die Heroischen .
Aber dann muss Etwas zum Fürchten daran sein und nicht, wie
bisher, zum Ekeln! Möchte man nicht heute in Hinsicht der Moral
sagen, wie Meister Eckardt: „ich bitte Gott, dass er mich quitt
mache Gottes!“
293.
Unsere Luft. — Wir wissen es wohl:
wer nur wie im Spazierengehen einmal einen Blick nach der
Wissenschaft hin thut, nach Art der Frauen und leider auch vieler
Künstler: für den hat die Strenge ihres Dienstes, diese
Unerbittlichkeit im Kleinen wie im Grossen, diese Schnelligkeit im
Wägen, Urtheilen, Verurtheilen etwas Schwindel- und
Furchteinflössendes. Namentlich erschreckt ihn, wie hier das
Schwerste gefordert, das Beste gethan wird, ohne dass dafür Lob
und Auszeichnungen da sind, vielmehr, wie unter Soldaten, fast nur
Tadel und scharfe Verweise laut
werden , — denn das Gutmachen gilt als die Regel, das
Verfehlte als die Ausnahme; die Regel aber hat hier wie überall
einen schweigsamen Mund. Mit dieser „Strenge der Wissenschaft“
steht es nun wie mit der Form und Höflichkeit der allerbesten
Gesellschaft: — sie erschreckt den Uneingeweihten. Wer aber an sie
gewöhnt ist, mag gar nicht anderswo leben, als in dieser hellen,
durchsichtigen, kräftigen, stark elektrischen Luft, in dieser
männlichen Luft. Ueberall sonst ist
es ihm nicht reinlich und luftig genug: er argwöhnt, dass
dort seine beste Kunst Niemandem
recht von Nutzen und ihm selber nicht zur Freude sein werde, dass
unter Missverständnissen ihm sein halbes Leben durch die Finger
schlüpfe, dass fortwährend viel Vorsicht, viel Verbergen und
Ansichhalten noth thue, — lauter grosse und unnütze Einbussen an
Kraft! In diesem
strengen und klaren Elemente aber hat er seine Kraft ganz: hier
kann er fliegen! Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben
Gewässer, wo man schwimmen und waten muss und seine Flügel
missfarbig macht! — Nein! Da ist es zu schwer für uns, zu leben:
was können wir dafür, dass wir für die Luft, die reine Luft
geboren sind, wir Nebenbuhler des Lichtstrahls, und dass wir am
liebsten auf Aetherstäubchen, gleich ihm, reiten würden und nicht
von der Sonne weg, sondern zu der
Sonne hin ! Das aber können wir nicht: — so wollen wir
denn thun, was wir einzig können: der Erde Licht bringen, „das
Licht der Erde“ sein! Und dazu haben wir unsere Flügel und unsere
Schnelligkeit und Strenge, um dessenthalben sind wir männlich und
selbst schrecklich, gleich dem Feuer. Mögen Die uns fürchten,
welche sich nicht an uns zu wärmen und zu erhellen verstehen!
294.
Gegen die Verleumder der Natur. —
Das sind mir unangenehme Menschen, bei denen jeder natürliche Hang
sofort zur Krankheit wird, zu etwas Entstellendem oder gar
Schmählichem, — diese
haben uns zu der Meinung verführt, die Hänge und Triebe des
Menschen seien böse; sie
sind die Ursache unserer grossen Ungerechtigkeit gegen unsere
Natur, gegen alle Natur! Es giebt genug Menschen, die sich ihren
Trieben mit Anmuth und Sorglosigkeit überlassen dürfen :
aber sie thun es nicht, aus Angst vor jenem eingebildeten „bösen
Wesen“ der Natur! Daher
ist es gekommen, dass so wenig Vornehmheit unter den Menschen zu
finden ist: deren Kennzeichen es immer sein wird, vor sich keine
Furcht zu haben, von sich nichts Schmähliches zu erwarten, ohne
Bedenken zu fliegen, wohin es uns treibt — uns freigeborene Vögel!
Wohin wir auch nur kommen, immer wird es frei und sonnenlicht um
uns sein.
295.
Kurze Gewohnheiten. — Ich liebe
die kurzen Gewohnheiten und halte sie für das unschätzbare Mittel,
viele Sachen und Zustände
kennen zu lernen und hinab bis auf den Grund ihrer Süssen und
Bitterkeiten; meine Natur ist ganz für kurze Gewohnheiten
eingerichtet, selbst in den Bedürfnissen ihrer leiblichen
Gesundheit und überhaupt soweit
ich nur sehen kann: vom Niedrigen bis zum Höchsten. Immer glaube
ich, diess werde mich
nun dauernd befriedigen — auch die kurze Gewohnheit hat jenen
Glauben der Leidenschaft, den Glauben an die Ewigkeit — und ich
sei zu beneiden, es gefunden und erkannt zu haben: — und nun nährt
es mich am Mittage und am Abende und verbreitet eine tiefe
Genügsamkeit um sich und in mich hinein, sodass mich nach Anderem
nicht verlangt, ohne dass ich zu vergleichen oder zu verachten
oder zu hassen hätte. Und eines Tages hat es seine Zeit gehabt:
die gute Sache scheidet von mir, nicht als Etwas, das mir nun Ekel
einflösst — sondern friedlich und an mir gesättigt, wie ich an
ihm, und wie als ob wir einander dankbar sein müssten und uns
so die Hände zum Abschied reichten.
Und schon wartet das Neue an der Thüre und ebenso mein Glaube —
der unverwüstliche Thor und Weise! — diess Neue werde das Rechte,
das letzte Rechte sein. So geht es mir mit Speisen, Gedanken,
Menschen, Städten, Gedichten, Musiken, Lehren, Tagesordnungen,
Lebensweisen. — Dagegen hasse ich die dauernden
Gewohnheiten und meine, dass ein Tyrann in meine Nähe kommt und
dass meine Lebensluft sich verdickt ,
wo die Ereignisse sich so gestalten, dass dauernde Gewohnheiten
daraus mit Nothwendigkeit zu wachsen scheinen: zum Beispiel durch
ein Amt, durch ein beständiges Zusammensein mit den selben
Menschen, durch einen festen Wohnsitz, durch eine einmalige Art
Gesundheit. Ja, ich bin allem meinem Elend und Kranksein, und was
nur immer unvollkommen an mir ist, — im untersten Grunde meiner
Seele erkenntlich gesinnt, weil dergleichen mir hundert
Hinterthüren lässt, durch die ich den dauernden Gewohnheiten
entrinnen kann. — Das Unerträglichste freilich, das eigentlich
Fürchterliche, wäre mir ein Leben ganz ohne Gewohnheiten, ein
Leben, das fortwährend die Improvisation verlangt: — diess wäre
meine Verbannung und mein Sibirien.
296.
Der feste Ruf. — Der feste Ruf war
ehedem eine Sache der äussersten Nützlichkeit; und wo nur immer
die Gesellschaft noch vom Heerden-Instinct beherrscht wird, ist es
auch jetzt noch für jeden Einzelnen am zweckmässigsten, seinen
Charakter und seine Beschäftigung als unveränderlich zu geben , — selbst wenn sie es im
Grunde nicht sind. „Man kann sich auf ihn verlassen, er bleibt
sich gleich“: — das ist in allen gefährlichen Lagen der
Gesellschaft das Lob, welches am meisten zu bedeuten hat. Die
Gesellschaft fühlt mit Genugthuung, ein zuverlässiges, jederzeit
bereites Werkzeug in
der Tugend Dieses, in dem Ehrgeize Jenes, in dem Nachdenken und
der Leidenschaft des Dritten zu haben, — sie ehrt diese Werkzeug-Natur , diess Sich-Treubleiben,
diese Unwandelbarkeit in Ansichten, Bestrebungen, und selbst in
Untugenden, mit ihren höchsten Ehren. Eine solche Schätzung,
welche überall zugleich mit der Sittlichkeit der Sitte blüht und
geblüht hat, erzieht „Charaktere“ und bringt alles Wechseln,
Umlernen, Sich-Verwandeln in Verruf .
Diess ist nun jedenfalls, mag sonst der Vortheil dieser Denkweise
noch so gross sein, für die
Erkenntniss die allerschädlichste Art des allgemeinen
Urtheils: denn gerade der gute Wille des Erkennenden, unverzagt
sich jederzeit gegen
seine bisherige Meinung zu erklären und überhaupt in Bezug auf
Alles, was in uns fest
werden will, misstrauisch zu sein, — ist hier verurtheilt und in
Verruf gebracht. Die Gesinnung des Erkennenden als im Widerspruch
mit dem „festen Rufe“ gilt als unehrenhaft ,
während die Versteinerung der Ansichten alle Ehre für sich hat: —
unter dem Banne solcher Geltung müssen wir heute noch leben! Wie
schwer lebt es sich, wenn man das Urtheil vieler Jahrtausende
gegen sich und um sich fühlt! Es ist wahrscheinlich, dass viele
Jahrtausende die Erkenntniss mit dem schlechten Gewissen behaftet
war, und dass viel Selbstverachtung und geheimes Elend in der
Geschichte der grössten Geister gewesen sein muss.
297.
Widersprechen können. — Jeder
weiss jetzt, dass Widerspruch-Vertragen-können ein hohes Zeichen
von Cultur ist. Einige wissen sogar, dass der höhere Mensch den
Widerspruch gegen sich wünscht und hervorruft, um einen Fingerzeig
über seine ihm bisher unbekannte Ungerechtigkeit zu bekommen. Aber
das Widersprechen- Können ,
das erlangte gute
Gewissen bei der Feindseligkeit gegen das Gewohnte, Ueberlieferte,
Geheiligte, — das ist mehr als jenes Beides und das eigentlich
Grosse, Neue, Erstaunliche unserer Cultur, der Schritt aller
Schritte des befreiten Geistes: wer weiss das? —
Kunnen tegenspreken . — Iedereen weet
vandaag de dag, dat het kunnen verdragen van tegenspraak een teken
van hoge cultuur is. Sommigen weten zelfs dat de hogere mens
tegenspraak tegen zich wenst, en bewust oproept, om een
vingerwijzing te krijgen met betrekking tot een - hem tot dan toe
onbekend - onrecht dat hij doet. Maar het kunnen-tegenspreken, het goede
geweten dat men zich eigen heeft gemaakt bij de vijandigheid
tegen het gebruikelijke, het overgeleverde, het geheiligde — dat is
meer dan die twee samen, en het werkelijk grote, nieuwe,
verbazingwekkende van onze cultuur, de alles overtreffende stap van
de bevrijde geest: wie weet dat? —
298.
Seufzer. — Ich erhaschte diese
Einsicht unterwegs und nahm rasch die nächsten schlechten Worte,
sie festzumachen, damit sie mir nicht wieder davonfliege. Und nun
ist sie mir an diesen dürren Worten gestorben und hängt und
schlottert in ihnen — und ich weiss kaum mehr, wenn ich sie
ansehe, wie ich ein solches Glück haben konnte, als ich diesen
Vogel fieng.
zucht, verzuchting. – Ik ving dit inzicht
onderweg op en greep snel de dichtstbijzijnde slechte/gewone woorden
om het vast te leggen, zodat het niet weer weg zou vliegen. En nu is
het voor mijn ogen aan deze dorre woorden gestorven en hangt en
sloddert in hen – en als ik ernaar kijk, dan weet ik nauwelijks
meer, hoe ik zo gelukkig heb kunnen zijn toen ik deze vogel ving.
299.
Was man den Künstlern ablernen soll. —
Welche Mittel haben wir, uns die Dinge schön, anziehend,
begehrenswerth zu machen, wenn sie es nicht sind? — und ich meine,
sie sind es an sich niemals! Hier haben wir von den Aerzten Etwas
zu lernen, wenn sie zum Beispiel das Bittere verdünnen oder Wein
und Zucker in den Mischkrug thun; aber noch mehr von den
Künstlern, welche eigentlich fortwährend darauf aus sind, solche
Erfindungen und Kunststücke zu machen. Sich von den Dingen
entfernen, bis man Vieles von ihnen nicht mehr sieht und Vieles
hinzusehen muss, um sie noch zu
sehen — oder die Dinge um die Ecke und wie in einem
Ausschnitte sehen — oder sie so stellen, dass sie sich theilweise
verstellen und nur perspectivische Durchblicke gestatten — oder
sie durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröthe anschauen —
oder ihnen eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle
Transparenz hat: das Alles sollen wir den Künstlern ablernen und
im Uebrigen weiser sein, als sie. Denn bei ihnen hört gewöhnlich
diese ihre feine Kraft auf, wo die Kunst aufhört und das Leben
beginnt; wir aber
wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und
Alltäglichsten zuerst.
Wat men van de kunstenaars moet leren.
Welke middelen hebben we om voor ons de dingen mooi, aantrekkelijk,
begerenswaardig te maken, als ze dat niet zijn? – en ze zijn dat van
zichzelf nooit, denk ik ! Hier kunnen we iets leren van de artsen,
die bijvoorbeeld het bittere verdunnen of wijn en suiker in de
mengkroes doen; maar nog meer van de kunstenaars, die er eigenlijk
voortdurend op uit zijn zulke dingen uit te vinden, kunststukken te
verrichten. Zich van de dingen verwijderen, totdat men veel ervan
niet meer ziet en er veel bij moet zien, om ze nog te
zien – of de dingen om de hoek en als in een uitsnede
(gekadreerd?) te zien – of ze zo voorstellen, dat ze zich
gedeeltelijk verstellen en enkel perspectivische doorkijkjes
toestaan – of ze door gekleurd glas of in het licht van het
avondrood bekijken – of ze een oppervlak en een huid geven die niet
helemaal transparant is: dat alles moeten we van de kunstenaars
leren en voor het overige wijzer zijn, dan zij. Want bij hen houdt
dit fijnzinnig vermogen gewoonlijk op, waar de kunst ophoudt en het
leven begint, maar wij willen de dichters van ons
leven zijn, en met het kleinste en meest alledaagse beginnen.
300.
Vorspiele der Wissenschaft. —
Glaubt ihr denn, dass die Wissenschaften entstanden und gross
geworden wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchymisten,
Astrologen und Hexen vorangelaufen wären als Die, welche mit ihren
Verheissungen und Vorspiegelungen erst Durst, Hunger und
Wohlgeschmack an verborgenen und
verbotenen Mächten schaffen mussten? Ja, dass
unendlich mehr hat verheissen
werden müssen, als je erfüllt werden kann, damit überhaupt Etwas
im Reiche der Erkenntniss sich erfülle? — Vielleicht erscheint in
gleicher Weise, wie uns sich hier Vorspiele und Vorübungen der
Wissenschaft darstellen, die durchaus nicht
als solche geübt und empfunden wurden, auch irgend einem fernen
Zeitalter die gesammte Religion
als Uebung und Vorspiel: vielleicht könnte sie das seltsame Mittel
dazu gewesen sein, dass einmal einzelne Menschen die ganze
Selbstgenügsamkeit eines Gottes und alle seine Kraft der
Selbsterlösung geniessen können: Ja! — darf man fragen — würde
denn der Mensch überhaupt ohne jene religiöse Schule und
Vorgeschichte es gelernt haben, nach sich
Hunger und Durst zu spüren und aus sich
Sattheit und Fülle zu nehmen? Musste Prometheus erst wähnen , das Licht gestohlen
zu haben und dafür büssen, — um endlich zu entdecken, dass er das
Licht geschaffen habe, indem er nach
dem Lichte begehrte , und dass nicht nur der Mensch,
sondern auch der Gott
das Werk seiner Hände
und Thon in seinen Händen gewesen sei? Alles nur Bilder des
Bildners? — ebenso wie der Wahn, der Diebstahl, der Kaukasus, der
Geier und die ganze tragische Prometheia aller Erkennenden?
wetenschappelijke preludes . — Gelooft
u echt dat de wetenschappen ontstaan en groot geworden zouden zijn,
als ze niet waren voorafgegaan door tovenaars, alchemisten,
astrologen en heksen, als diegenen die met hun beloften en illusies
eerst dorst, honger en (goede) smaak naar verborgen en
verboden krachten moesten opwekken? Ja, dat er oneindig veel
meer beloofd moest worden dan ooit vervuld kan worden,
zodat er überhaupt iets in het rijk van de kennis vervuld zou
worden? — Misschien lijkt, net zoals hier de voorspelen en
vooroefeningen van de wetenschap ons worden voorgesteld, die
helemaal niet als zodanig werden beoefend en ervaren, ook in een ver
verleden de hele religie als oefening en voorspel: misschien was zij
het vreemde middel waardoor individuele mensen ooit de volledige
zelfvoorziening van een god en al zijn kracht van zelfverlossing
konden genieten: Ja! — mag men zich afvragen — zou de mens zonder
die religieuze school en voorgeschiedenis überhaupt hebben geleerd
om honger en dorst te voelen en uit zichzelf verzadiging en volheid
te putten? Moest Prometheus eerst denken dat hij het licht had
gestolen en daarvoor boeten — om uiteindelijk te ontdekken dat hij
het licht had geschapen door naar het licht te verlangen, en dat
niet alleen de mens, maar ook de god het werk van zijn handen en
klei in zijn handen was geweest? Allemaal slechts beelden van de
beeldhouwer? — net als de waanzin, de diefstal, het kauwen...
301.
Wahn der Contemplativen. — Die
hohen Menschen unterscheiden sich von den niederen dadurch, dass
sie unsäglich mehr sehen und hören und denkend sehen und hören —
und eben diess unterscheidet den Menschen vom Thiere und die
oberen Thiere von den unteren. Die Welt wird für Den immer voller,
welcher in die Höhe der Menschlichkeit hinauf wächst; es werden
immer mehr Angelhaken des Interesses nach ihm ausgeworfen; die
Menge seiner Reize ist beständig im Wachsen und ebenso die Menge
seiner Arten von Lust und Unlust, — der höhere Mensch wird immer
zugleich glücklicher und unglücklicher. Dabei aber bleibt ein
Wahn sein beständiger Begleiter: er
meint, als Zuschauer
und Zuhörer vor das
grosse Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben
ist: er nennt seine Natur eine contemplative
und übersieht dabei, dass er selber auch der eigentliche Dichter
und Fortdichter des Lebens ist, — dass er sich freilich vom
Schauspieler dieses Drama’s, dem
sogenannten handelnden Menschen, sehr unterscheidet, aber noch
mehr von einem blossen Betrachter und Festgaste vor
der Bühne. Ihm, als dem Dichter, ist gewiss vis contemplativa und
der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und vorerst
die vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt ,
was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir,
die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort
Etwas machen , das noch
nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen,
Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und
Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend
von den sogenannten practischen Menschen (unsern Schauspielern wie
gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja
Alltäglichkeit übersetzt. Was nur Werth
hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur
nach, — die Natur ist immer werthlos: — sondern dem hat man einen
Werth einmal gegeben, geschenkt, und wir
waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt,
die den Menschen Etwas angeht ,
geschaffen! — Gerade dieses Wissen aber fehlt uns, und wenn wir es
einen Augenblick einmal erhaschen, so haben wir es im nächsten
wieder vergessen: wir verkennen unsere beste Kraft und schätzen
uns, die Contemplativen, um einen Grad zu gering, — wir sind
weder so stolz, noch so glücklich ,
als wir sein könnten.
302.
Gefahr des Glücklichsten. — Feine
Sinne und einen feinen Geschmack haben; an das Ausgesuchte und
Allerbeste des Geistes wie an die rechte und nächste Kost gewöhnt
sein; einer starken, kühnen, verwegenen Seele geniessen; mit
ruhigem Auge und festem Schritt durch das Leben gehen, immer zum
Aeussersten bereit, wie zu einem Feste und voll des Verlangens
nach unentdeckten Welten und Meeren, Menschen und Göttern; auf
jede heitere Musik hinhorchen, als ob dort wohl tapfere Männer,
Soldaten, Seefahrer sich eine kurze Rast und Lust machen, und im
tiefsten Genusse des Augenblicks überwältigt werden von Thränen
und von der ganzen purpurnen Schwermuth des Glücklichen: wer
möchte nicht, dass das Alles gerade sein
Besitz, sein Zustand wäre! Es war das Glück
Homer’s ! Der Zustand Dessen, der den Griechen ihre
Götter, — nein, sich selber seine
Götter erfunden hat! Aber man verberge es sich nicht: mit diesem
Glücke Homer’s in der Seele ist man auch das leidensfähigste
Geschöpf unter der Sonne! Und nur um diesen Preis kauft man die
kostbarste Muschel, welche die Wellen des Daseins bisher an’s Ufer
gespült haben! Man wird als ihr Besitzer immer feiner im Schmerz
und zuletzt zu fein: ein kleiner Missmuth und Ekel genügte am
Ende, um Homer das Leben zu verleiden. Er hatte ein thörichtes
Räthselchen, das ihm junge Fischer aufgaben, nicht zu rathen
vermocht! Ja, die kleinen Räthsel sind die Gefahr der
Glücklichsten! —
303.
Zwei Glückliche. — Wahrlich,
dieser Mensch, trotz seiner Jugend, versteht sich auf die
Improvisation des Lebens und setzt
auch den feinsten Beobachter in Erstaunen: — es scheint nämlich,
dass er keinen Fehlgriff thut, ob er schon fortwährend das
gewagteste Spiel spielt. Man wird an jene improvisirenden Meister
der Tonkunst erinnert, denen auch der Zuhörer eine göttliche
Unfehlbarkeit der Hand zuschreiben
möchte, trotzdem, dass sie sich hier und da vergreifen, wie jeder
Sterbliche sich vergreift. Aber sie sind geübt und erfinderisch,
und im Augenblicke immer bereit, den zufälligsten Ton, wohin ein
Wurf des Fingers, eine Laune sie treibt, sofort in das thematische
Gefüge einzuordnen und dem Zufalle einen schönen Sinn und eine
Seele einzuhauchen. — Hier ist ein ganz anderer Mensch: dem
missräth im Grunde Alles, was er will und plant. Das, woran er
gelegentlich sein Herz gehängt hat, brachte ihn schon einige Male
an den Abgrund und in die nächste Nähe des Unterganges; und wenn
er dem noch entwischte, so doch gewiss nicht nur „mit einem blauen
Auge“. Glaubt ihr, dass er darüber unglücklich ist? Er hat längst
bei sich beschlossen, eigene Wünsche und Pläne nicht so wichtig zu
nehmen. „Gelingt mir Diess nicht, so redet er sich zu, dann
gelingt mir vielleicht Jenes; und im Ganzen weiss ich nicht, ob
ich nicht meinem Misslingen mehr zu Danke verpflichtet bin, als
irgend welchem Gelingen. Bin ich dazu gemacht, eigensinnig zu sein
und die Hörner des Stieres zu tragen? Das, was mir
Werth und Ergebniss des Lebens ausmacht, liegt wo anders; mein
Stolz und ebenso mein Elend liegt wo anders. Ich weiss mehr vom
Leben, weil ich so oft daran war, es zu verlieren: und eben darum
habe ich mehr vom Leben,
als ihr Alle!“
304.
Indem wir thun, lassen wir. — Im
Grunde sind mir alle jene Moralen zuwider, welche sagen: „Thue
diess nicht! Entsage! Ueberwinde dich!“ — ich bin dagegen jenen
Moralen gut, welche mich antreiben, Etwas zu thun und wieder zu
thun und von früh bis Abend, und Nachts davon zu träumen, und an
gar Nichts zu denken als: diess gut
zu thun, so gut als es eben mir
allein möglich ist! Wer so lebt, von dem fällt fortwährend Eins um
das Andere ab, was nicht zu einem solchen Leben gehört: ohne Hass
und Widerwillen sieht er heute Diess und morgen Jenes von sich
Abschied nehmen, den vergilbten Blättern gleich, welche jedes
bewegtere Lüftchen dem Baume entführt: oder er sieht gar nicht,
dass es Abschied nimmt, so streng blickt sein Auge nach seinem
Ziele und überhaupt vorwärts, nicht seitwärts, rückwärts, abwärts.
„Unser Thun soll bestimmen, was wir lassen: indem wir thun, lassen
wir“ — so gefällt es mir, so lautet mein
placitum. Aber ich will nicht mit offenen Augen meine Verarmung
anstreben, ich mag alle negativen Tugenden nicht, — Tugenden,
deren Wesen das Verneinen und Sichversagen selber ist.
305.
Selbstbeherrschung. — Jene
Morallehrer, welche zuerst und zuoberst dem Menschen anbefehlen,
sich in seine Gewalt zu bekommen, bringen damit eine
eigenthümliche Krankheit über ihn: nämlich eine beständige
Reizbarkeit bei allen natürlichen Regungen und Neigungen und
gleichsam eine Art Juckens. Was auch fürderhin ihn stossen,
ziehen, anlocken, antreiben mag, von innen oder von aussen her —
immer scheint es diesem Reizbaren, als ob jetzt seine
Selbstbeherrschung in Gefahr gerathe: er darf sich keinem
Instincte, keinem freien Flügelschlage mehr anvertrauen, sondern
steht beständig mit abwehrender Gebärde da, bewaffnet gegen sich
selber, scharfen und misstrauischen Auges, der ewige Wächter
seiner Burg, zu der er sich gemacht hat. Ja, er kann gross damit sein! Aber wie
unausstehlich ist er nun für Andere geworden, wie schwer für sich
selber, wie verarmt und abgeschnitten von den schönsten
Zufälligkeiten der Seele! Ja auch von aller weiteren Belehrung ! Denn man muss sich auf
Zeiten verlieren können, wenn man den Dingen, die wir nicht selber
sind, Etwas ablernen will.
306.
Stoiker und Epikureer. — Der
Epikureer sucht sich die Lage, die Personen und selbst die
Ereignisse aus, welche zu seiner äusserst reizbaren
intellectuellen Beschaffenheit passen, er verzichtet auf das
Uebrige — das heisst das Allermeiste —, weil es eine zu starke und
schwere Kost für ihn sein würde. Der Stoiker dagegen übt sich,
Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpionen zu verschlucken und
ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen
Alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet: — er
erinnert an jene arabische Secte der Assaua, die man in Algier
kennen lernt; und gleich diesen Unempfindlichen hat auch er gerne
ein eingeladenes Publicum bei der Schaustellung seiner
Unempfindlichkeit, dessen gerade der Epikureer gerne enträth: —
der hat ja seinen „Garten!“ Für Menschen, mit denen das Schicksal
improvisirt, für solche, die in gewaltsamen Zeiten und abhängig
von plötzlichen und veränderlichen Menschen leben, mag der
Stoicismus sehr rathsam sein. Wer aber einigermaassen absieht , dass das Schicksal ihm
einen langen Faden zu spinnen
erlaubt, thut wohl, sich epikureisch einzurichten; alle Menschen
der geistigen Arbeit haben es bisher gethan! Ihnen wäre es nämlich
der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüssen und
die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu
bekommen.
307.
Zu Gunsten der Kritik. — Jetzt
erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit
oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stösst es von dir ab und
wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber
vielleicht war jener Irrthum damals, als du noch ein Anderer warst
— du bist immer ein Anderer —, dir ebenso nothwendig wie alle
deine jetzigen „Wahrheiten“, gleichsam als eine Haut, die dir
Vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen durftest.
Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getödtet, nicht deine
Vernunft: du brauchst sie nicht mehr ,
und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft
kriecht wie ein Gewürm aus ihr an’s Licht. Wenn wir Kritik üben,
so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, — es ist,
wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende
Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstossen. Wir verneinen
und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen
will , Etwas, das wir vielleicht
noch nicht kennen, noch nicht sehen! — Diess zu Gunsten der
Kritik.
308.
Die Geschichte jedes Tages. — Was
macht bei dir die Geschichte jedes Tages? Siehe deine Gewohnheiten
an, aus denen sie besteht: sind sie das Erzeugniss zahlloser
kleiner Feigheiten und Faulheiten oder das deiner Tapferkeit und
erfinderischen Vernunft? So verschieden beide Fälle sind, es wäre
möglich, dass die Menschen dir das gleiche Lob spendeten und dass
du ihnen auch wirklich so wie so den gleichen Nutzen brächtest.
Aber Lob und Nutzen und Respectabilität mögen genug für Den sein,
der nur ein gutes Gewissen haben will, — nicht aber für dich
Nierenprüfer, der du ein Wissen um
das Gewissen hast!
309.
Aus der siebenten Einsamkeit. —
Eines Tages warf der Wanderer eine Thür hinter sich zu, blieb
stehen und weinte. Dann sagte er: „Dieser Hang und Drang zum
Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren, Gewissen! Wie bin ich ihm
böse! Warum folgt mir
gerade dieser düstere und leidenschaftliche Treiber! Ich möchte
ausruhen, aber er lässt es nicht zu. Wie Vieles verführt mich
nicht, zu verweilen! Es giebt überall Gärten Armidens für mich:
und daher immer neue Losreissungen und neue Bitternisse des
Herzens! Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten
Fuss: und weil ich muss, so habe ich oft für das Schönste, das
mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick, — weil es mich nicht halten konnte!“
310.
Wille und Welle. — Wie gierig
kommt diese Welle heran, als ob es Etwas zu erreichen gälte! Wie
kriecht sie mit furchterregender Hast in die innersten Winkel des
felsigen Geklüftes hinein! Es scheint, sie will Jemandem
zuvorkommen; es scheint, dass dort Etwas versteckt ist, das Werth,
hohen Werth hat. — Und nun kommt sie zurück, etwas langsamer,
immer noch ganz weiss vor Erregung, — ist sie enttäuscht? Hat sie
gefunden, was sie suchte? Stellt sie sich enttäuscht? — Aber schon
naht eine andere Welle, gieriger und wilder noch als die erste,
und auch ihre Seele scheint voll von Geheimnissen und dem Gelüste
der Schatzgräberei zu sein. So leben die Wellen, — so leben wir,
die Wollenden! — mehr sage ich nicht. — So? Ihr misstraut mir? Ihr
zürnt auf mich, ihr schönen Unthiere? Fürchtet ihr, dass ich euer
Geheimniss ganz verrathe? Nun! Zürnt mir nur, hebt eure grünen
gefährlichen Leiber so hoch ihr könnt, macht eine Mauer zwischen
mir und der Sonne — so wie jetzt! Wahrlich, schon ist Nichts mehr
von der Welt übrig, als grüne Dämmerung und grüne Blitze. Treibt
es wie ihr wollt, ihr Uebermüthigen, brüllt vor Lust und Bosheit —
oder taucht wieder hinunter, schüttet eure Smaragden hinab in die
tiefste Tiefe, werft euer unendliches weisses Gezottel von Schaum
und Gischt darüber weg — es ist mir Alles recht, denn Alles steht
euch so gut, und ich bin euch für Alles so gut: wie werde ich
euch verrathen! Denn — hört es
wohl! — ich kenne euch und euer Geheimniss, ich kenne euer
Geschlecht! Ihr und ich, wir sind ja aus Einem Geschlecht! — Ihr
und ich, wir haben ja Ein Geheimniss!
Wil en golf (onvertaalbaar, want in
het Duits woordgelijkenis) - Hoe gulzig komt deze golf eraan, alsof
er iets te bereiken valt! Hoe kruipt ze met vreeswekkende haast in
de binnenste hoeken van de rotskloof! Het lijkt wel alsof ze iemand
vóór wil zijn; het lijkt wel alsof daar iets verstopt is, iets van
waarde, grote waarde. – En nu komt ze terug, iets langzamer, nog
steeds helemaal wit van opwinding, – is ze teleurgesteld? Heeft ze
gevonden wat ze zocht? Is ze teleurgesteld? – Maar daar komt al een
andere golf aan, nog gulziger en wilder dan de eerste, en ook haar
ziel lijkt vol te zijn van geheimen en de lusten van de
schatgraverij. Zo leven de golven (Wellen ) – zo leven wij,
de willenden (Wollenden) ! – meer zeg ik niet. – Wat?
Wantrouwt ge mij? Zijt ge toornig op mij, gij schone ondieren ?
Vreest gij, dat ik uw geheim geheel verraad? Welnu, Stort uw toorn
maar over mij uit, richt uw groene, gevaarlijke lichamen maar op zo
hoog ge kunt, bouwt maar een muur tussen mij en de zon – zoals nu!
Waarlijk, er is al niets meer over van de wereld, dan groene
schemering en groene bliksemschichten. Drijf het maar door, zoals ge
wilt, gij overmoedigen, brul maar van wellust en boosheid – of duikt
weer onder, schut uw smaragden af, de diepste diepte in, en werpt uw
eindeloze witte wirwar van opspattend schuim erover heen – ik vind
het allemaal best, want alles staat u zo goed en ik ben u voor alles
zo dankbaar: hoe zou ik u verraden! Want – luister goed!
– ik ken u en uw geheim, ik ken uw geslacht/soort! Gij en ik, wij
zijn immers uit één geslacht! – Gij en ik, ons geheim is één.
311.
Gebrochenes Licht. — Man ist nicht
immer tapfer, und wenn man müde wird, dann jammert unser Einer
auch wohl einmal in dieser Weise. „Es ist so schwer, den Menschen
wehe zu thun — oh, dass es nöthig ist! Was nützt es uns, verborgen
zu leben, wenn wir nicht Das für uns behalten wollen, was
Aergerniss giebt? Wäre es nicht räthlicher, im Gewühle zu leben
und an den Einzelnen gutzumachen, was an Allen gesündigt werden
soll und muss? Thöricht mit dem Thoren, eitel mit dem Eitelen,
schwärmerisch mit dem Schwärmer zu sein? Wäre es nicht billig, bei
einem solchen übermüthigen Grade der Abweichung im Ganzen? Wenn
ich von den Bosheiten Anderer gegen mich höre, — ist nicht mein
erstes Gefühl das einer Genugthuung? So ist es recht! — scheine
ich mir zu ihnen zu sagen — ich stimme so wenig zu euch und habe
so viel Wahrheit auf meiner Seite: macht euch immerhin einen guten
Tag auf meine Kosten, so oft ihr könnt! Hier sind meine Mängel und
Fehlgriffe, hier ist mein Wahn, mein Ungeschmack, meine
Verwirrung, meine Thränen, meine Eitelkeit, meine
Eulen-Verborgenheit, meine Widersprüche! Hier habt ihr zu lachen!
So lacht denn auch und freut euch! Ich bin nicht böse auf Gesetz
und Natur der Dinge, welche wollen, dass Mängel und Fehlgriffe
Freude machen! — Freilich, es gab einmal „schönere“ Zeiten, wo man
sich noch mit jedem einigermaassen neuen Gedanken so unentbehrlich fühlen konnte, um mit ihm
auf die Strasse zu treten und Jedermann zuzurufen: „Siehe! Das
Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ — Ich würde mich nicht
vermissen, wenn ich fehlte. Entbehrlich sind wir Alle!“ — Aber,
wie gesagt, so denken wir nicht, wenn wir tapfer sind; wir denken
nicht daran .
312.
Mein Hund. — Ich habe meinem
Schmerze einen Namen gegeben und rufe ihn „Hund“, — er ist ebenso
treu, ebenso zudringlich und schamlos, ebenso unterhaltend, ebenso
klug, wie jeder andere Hund — und ich kann ihn anherrschen und
meine bösen Launen an ihm auslassen: wie es Andere mit ihren
Hunden, Dienern und Frauen machen.
Mijn hond. - Ik heb mijn pijn een naam gegeven
en noem/roep hem "hond", – hij is net zo trouw, net zo opdringerig
en schaamteloos, net zo onderhoudend, net zo slim, als elke andere
hond – en ik kan de baas over hem spelen en mijn slechte stemmingen
op hem afreageren: zoals anderen met hun honden, bedienden en
vrouwen doen.
313.
Kein Marterbild. — Ich will es
machen wie Raffael und kein Marterbild mehr malen. Es giebt der
erhabenen Dinge genug, als dass man die Erhabenheit dort
aufzusuchen hätte, wo sie mit der Grausamkeit in Schwesterschaft
lebt; und mein Ehrgeiz würde zudem kein Genügen daran finden, wenn
ich mich zum sublimen Folterknecht machen wollte.
314.
Neue Hausthiere. — Ich will meinen
Löwen und meinen Adler um mich haben, damit ich allezeit Winke und
Vorbedeutungen habe, zu wissen, wie gross oder wie gering meine
Stärke ist. Muss ich heute zu ihnen hinabblicken und mich vor
ihnen fürchten? Und wird die Stunde wiederkommen, wo sie zu mir
hinaufblicken und in Furcht? —
315.
Vom letzten Stündlein. — Stürme
sind meine Gefahr: werde ich meinen Sturm haben, an dem ich zu
Grunde gehe, wie Oliver Cromwell an seinem Sturme zu Grunde gieng?
Oder werde ich verlöschen wie ein Licht, das nicht erst der Wind
ausbläst, sondern das seiner selber müde und satt wurde, — ein
ausgebranntes Licht? Oder endlich: werde ich mich ausblasen, um
nicht auszubrennen? —
de laatste ure - Stormen zijn
gevaarlijk voor mij: zal ik mijn storm krijgen, waaraan ik te gronde
ga, zoals Oliver Cromwell ten onder ging aan zijn storm? Of zal ik
uitdoven als een licht dat niet door de wind wordt uitgeblazen, maar
dat zichzelf moe en zat werd – een opgebrand licht? Of - laatste
mogelijkheid : zal ik uitblazen om niet op te branden? —
316.
Prophetische Menschen. — Ihr habt
kein Gefühl dafür, dass prophetische Menschen sehr leidende
Menschen sind: ihr meint nur, es sei ihnen eine schöne „Gabe“
gegeben, und möchtet diese wohl gern selber haben, — doch ich will
mich durch ein Gleichniss ausdrücken. Wie viel mögen die Thiere
durch die Luft- und Wolken-Electricität leiden! Wir sehen, dass
einige Arten von ihnen ein prophetisches Vermögen hinsichtlich des
Wetters haben, zum Beispiel die Affen (wie man selbst noch in
Europa gut beobachten kann, und nicht nur in Menagerien, nämlich
auf Gibraltar). Aber wir denken nicht daran, dass ihre Schmerzen — für sie die Propheten sind!
Wenn eine starke positive Electricität plötzlich unter dem
Einflusse einer heranziehenden, noch lange nicht sichtbaren Wolke
in negative Electricität umschlägt und eine Veränderung des
Wetters sich vorbereitet, da benehmen sich diese Thiere so, als ob
ein Feind herannahe, und richten sich zur Abwehr oder zur Flucht
ein; meistens verkriechen sie sich, — sie verstehen das schlechte
Wetter nicht als Wetter, sondern als Feind, dessen Hand sie schon
fühlen !
Profetische mensen. — Jullie voelen
niet aan, dat profetische mensen lijdende mensen zijn: jullie menen
slechts, dat ze een mooie "gave" gekregen hebben, en zouden die zelf
ook wel willen hebben, — maar ik zal me middels een gelijkenis
uitspreken. Hoeveel moeten dieren wel niet lijden door de
elektriciteit die in de lucht en wolken hangt! We zien dat sommige
soorten een profetisch vermogen hebben met betrekking tot het weer,
bijvoorbeeld apen (zoals men zelfs in Europa nog prima kan
observeren, en niet alleen in dierentuinen, namelijk op Gibraltar).
Maar we denken er niet aan dat hun pijnen — voor hen de
profeten zijn! Wanneer een sterke positieve elektrische lading
plotseling onder invloed van een naderende, nog lang niet zichtbare
wolk in negatieve elektriciteit omslaat en er een verandering in het
weer op komst is, dan gedragen deze dieren zich alsof er een vijand
nadert en maken ze zich op om zich te verdedigen of te vluchten;
meestal verstoppen ze zich – ze zien het slechte weer niet als weer,
maar als een vijand van wie ze de hand al voelen !
317.
Rückblick. — Wir werden uns des
eigentlichen Pathos jeder Lebensperiode selten als eines solchen
bewusst, so lange wir in ihr stehen, sondern meinen immer, es sei
der einzig uns nunmehr mögliche und vernünftige Zustand und
durchaus Ethos , nicht
Pathos — mit den Griechen zu reden und zu trennen. Ein paar Töne
von Musik riefen mir heute einen Winter und ein Haus und ein
höchst einsiedlerisches Leben in’s Gedächtniss zurück und zugleich
das Gefühl, in dem ich damals lebte: — ich meinte ewig so
fortleben zu können. Aber jetzt begreife ich, dass es ganz und gar
Pathos und Leidenschaft war, ein Ding, vergleichbar dieser
schmerzhaft-muthigen und trostsichern Musik, — dergleichen darf
man nicht auf Jahre oder gar auf Ewigkeiten haben: man würde für
diesen Planeten damit zu „überirdisch“.
Terugblik. — Het is maar heel zelden,
dat we ons bewust worden van wat werkelijk het pathos was in elke
levensfase, zolang we ons daarin bevinden, maar zijn altijd van
mening dat het de enige mogelijke en redelijke toestand is, en zeker
geen pathos, maar ethos — om met de Grieken te spreken en
te onderscheiden. Een paar tonen muziek riepen me vandaag een winter
en een huis en een zeer kluizenaarsachtig leven terug in herinnering
en tegelijk het gevoel waarin ik toen leefde: — ik dacht eeuwig zo
te kunnen voortleven. Maar nu begrijp ik dat het een en al pathos en
passie (Leidenschaft) was, vergelijkbaar met deze
pijnlijk-moedige en troostrijke muziek – zoiets mag je niet
jarenlang, laat staan voor eeuwig bezitten: je zou daarmee voor deze
planeet te "bovenaards" worden. [opmerking: pathos is 'aangedaan
zijn', emoties, heeft dus iets dat je ondergaat, passief. Dat hoor
iik ook in het woord 'Leidenschaft/passie'; in een ethos voel je
je thuis, dat spreekt voor zich. ]
318.
Weisheit im Schmerz. — Im Schmerz
ist soviel Weisheit wie in der Lust: er gehört gleich dieser zu
den arterhaltenden Kräften ersten Ranges. Wäre er diess nicht, so
würde er längst zu Grunde gegangen sein; dass er weh thut, ist
kein Argument gegen ihn, es ist sein Wesen. Ich höre im Schmerze
den Commandoruf des Schiffscapitains: „zieht die Segel ein!“ Auf
tausend Arten die Segel zu stellen, muss der kühne Schifffahrer
„Mensch“ sich eingeübt haben, sonst wäre es gar zu schnell mit ihm
vorbei, und der Ozean schlürfte ihn zu bald hinunter. Wir müssen
auch mit verminderter Energie zu leben wissen: sobald der Schmerz
sein Sicherheitssignal giebt, ist es an der Zeit, sie zu
vermindern, — irgend eine grosse Gefahr, ein Sturm ist im Anzuge,
und wir thun gut, uns so wenig als möglich „aufzubauschen“. — Es
ist wahr, dass es Menschen giebt, welche beim Herannahen des
grossen Schmerzes gerade den entgegengesetzten Commandoruf hören,
und welche nie stolzer, kriegerischer und glücklicher
dreinschauen, als wenn der Sturm heraufzieht; ja, der Schmerz
selber giebt ihnen ihre grössten Augenblicke! Das sind die
heroischen Menschen, die grossen Schmerzbringer
der Menschheit: jene Wenigen oder Seltenen, die eben die selbe
Apologie nöthig haben, wie der Schmerz überhaupt, — und wahrlich!
man soll sie ihnen nicht versagen! Es sind arterhaltende,
artfördernde Kräfte ersten Ranges: und wäre es auch nur dadurch,
dass sie der Behaglichkeit widerstreben und vor dieser Art Glück
ihren Ekel nicht verbergen.
319.
Als Interpreten unserer Erlebnisse. —
Eine Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und
Ihresgleichen fremd gewesen: — sie haben nie sich aus ihren
Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntniss gemacht. „Was habe
ich eigentlich erlebt? Was gieng damals in mir und um mich vor?
War meine Vernunft hell genug? War mein Wille gegen alle
Betrügereien der Sinne gewendet und tapfer in seiner Abwehr des
Phantastischen?“ — so hat Keiner von ihnen gefragt, so fragen alle
die lieben Religiösen auch jetzt noch nicht: sie haben vielmehr
einen Durst nach Dingen, welche wider
die Vernunft sind, und wollen es sich nicht zu schwer
machen, ihn zu befriedigen, — so erleben sie denn „Wunder“ und
„Wiedergeburten“ und hören die Stimmen der Englein! Aber wir, wir
Anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unseren Erlebnissen so streng
in’s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde für
Stunde, Tag um Tag! Wir selber wollen unsere Experimente und
Versuchs-Thiere sein.
Als interpreten van onze belevenissen .
— Een type eerlijkheid was alle stichters van religies en hun
soortgenoten vreemd: — zij hebben nooit van hun belevenisseneen een
gewetenszaak gemaakt qua kennis. "Wat heb ik eigenlijk beleefd? Wat
ging er toen in mij om en wat gebeurde er om mij heen? Was mijn
verstand helder genoeg? Was mijn wil tegen alle zintuiglijk bedrog
gekeerd, dapper in zijn verzet tegen het fantastische?” — Dat heeft
geen van hen zich afgevraagd, en dat vragen al die lieve religieuze
mensen zich ook nu nog niet af: zij hebben veeleer een dorst naar
dingen die tegen het verstand indruisen, en willen het
zichzelf niet te moeilijk maken om die (dorst) te bevredigen — dus
beleven ze “wonderen” en “wedergeboorten” en horen de engelen
zingen! Maar wij, de anderen, die dorsten naar rede, willen onze
ervaringen net zo gestreng onder ogen zien, als ware het een
wetenschappelijke proef, uur na uur, dag na dag! Wij willen zelf
onze experimenten en proefdieren zijn.
320.
Beim Wiedersehen. — A.: Verstehe
ich dich noch ganz? Du suchst? Wo ist inmitten der jetzt
wirklichen Welt dein
Winkel und Stern? Wo kannst du
dich in die Sonne legen, sodass auch dir ein Ueberschuss von Wohl
kommt und dein Dasein sich rechtfertigt? Möge das Jeder für sich
selber thun — scheinst du mir zu sagen — und das Reden in’s
Allgemeine, das Sorgen für den Anderen und die Gesellschaft sich
aus dem Sinne schlagen! — B.: Ich will mehr, ich bin kein
Suchender. Ich will für mich eine eigene Sonne schaffen.
321.
Neue Vorsicht. — Lasst uns nicht
mehr so viel an Strafen, Tadeln und Bessern denken! Einen
Einzelnen werden wir selten verändern; und wenn es uns gelingen
sollte, so ist vielleicht unbesehens auch Etwas mitgelungen:
wir sind durch ihn verändert
worden! Sehen wir vielmehr zu, dass unser eigener Einfluss
auf alles Kommende seinen Einfluss
aufwiegt und überwiegt! Ringen wir nicht im directen Kampfe! — und
das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern
erheben wir uns selber um so höher! Geben wir unserm Vorbilde
immer leuchtendere Farben! Verdunkeln wir den Andern durch unser
Licht! Nein! Wir wollen nicht um seinetwillen selber dunkler werden, gleich allen Strafenden
und Unzufriedenen! Gehen wir lieber bei Seite! Sehen wir weg!
Nieuwe bedachtzaamheid. — Laten we
niet meer zo veel bezig zijn met straffen, berispen en verbeteren!
Een individu zullen we zelden veranderen; en als het ons toch zou
lukken, dan is er misschien onopgemerkt ook iets anders meegelukt: wij
zijn door hem veranderd! Laten we er veeleer op toezien dat onze
eigen invloed op alles wat komt , tegen zijn invloed
opweegt, en die overtreft! We moeten vermijden in een rechtstreekse
worsteling verzeild te raken! — dat is al dat verwijten, straffen en
beter willen maken. Laten we daarentegen onszelf des te hoger
verheffen! Laten we ons voorbeeld steeds stralendere kleuren geven!
Laten we de ander in het duister zetten door ons licht! Nee! Omwille
van hem willen we niet zelf donkerder worden, zoals alle
straffenden en ontevredenen! Laten we liever opzij gaan ( afstand
nemen , een stap opzij zetten ). Laten we wegkijken (de
andere kant opkijken )!
322.
Gleichniss. — Jene Denker, in
denen alle Sterne sich in kyklischen Bahnen bewegen, sind nicht
die tiefsten; wer in sich wie in einen ungeheuren Weltraum
hineinsieht und Milchstrassen in sich trägt, der weiss auch, wie
unregelmässig alle Milchstrassen sind; sie führen bis in’s Chaos
und Labyrinth des Daseins hinein.
323.
Glück im Schicksal. — Die grösste
Auszeichnung erweist uns das Schicksal, wenn es uns eine Zeit lang
auf der Seite unserer Gegner hat kämpfen lassen. Damit sind wir
vorherbestimmt zu einem grossen
Siege.
324.
In media vita. — Nein! Das Leben
hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr
wahrer, begehrenswerther und geheimnissvoller, — von jenem Tage
an, wo der grosse Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das
Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe — und nicht eine
Pflicht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei! — Und die
Erkenntniss selber: mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum
Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine
Unterhaltung, oder ein Müssiggang, — für mich ist sie eine Welt
der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre
Tanz- und Tummelplätze haben. „ Das
Leben ein Mittel der Erkenntniss “ — mit diesem
Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar
fröhlich leben und fröhlich lachen !
Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich
nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde?
In media vita . — Nee! Het leven heeft
me niet teleurgesteld! Van jaar tot jaar vind ik het juist steeds
echter, begeerlijker en mysterieuzer — vanaf die dag waarop de grote
bevrijder me overkwam, de gedachte dat het leven wel eens een
experiment van de kenniszoeker (Erkennende ) zou
kunnen/mogen zijn — en geen plicht, geen noodlot, geen bedriegerij!
— En de kennis zelf: voor anderen mag het iets anders zijn, een
rustbed of de weg naar een rustbed, of een vorm van vermaak, of van
niets-doen, — voor mij is het een wereld van gevaren en
overwinningen, waarin ook de heroïsche gevoelens hun dans- en
speelplaatsen hebben. “Het leven als een instrument van kennis ”
– met dit grondbeginsel in het hart kun je niet alleen moedig, maar
zelfs vrolijk leven en vrolijk lachen ! Ja, kun je
eigenlijk wel goed lachen en leven, als je je niet eerst oorlog en
overwinning van dichtbij hebt meegemaakt.
325.
Was zur Grösse gehört. — Wer wird
etwas Grosses erreichen, wenn er nicht die Kraft und den Willen in
sich fühlt, grosse Schmerzen zuzufügen ?
Das Leidenkönnen ist das Wenigste: darin bringen es schwache
Frauen und selbst Sclaven oft zur Meisterschaft. Aber nicht an
innerer Noth und Unsicherheit zu Grunde gehn, wenn man grosses
Leid zufügt und den Schrei dieses Leides hört — das ist gross, das
gehört zur Grösse.
326.
Die Seelen-Aerzte und der Schmerz. —
Alle Moralprediger, wie auch alle Theologen, haben eine gemeinsame
Unart: alle suchen den Menschen aufzureden, sie befänden sich sehr
schlecht und es thue eine harte letzte radicale Cur noth. Und weil
die Menschen insgesammt jenen Lehren ihr Ohr zu eifrig und ganze
Jahrhunderte lang hingehalten haben, ist zuletzt wirklich Etwas
von jenem Aberglauben, dass es ihnen sehr schlecht gehe, auf sie
übergegangen: sodass sie jetzt gar zu gerne einmal bereit sind, zu
seufzen und Nichts mehr am Leben zu finden und miteinander
betrübte Mienen zu machen, wie als ob es doch gar schwer
auszuhalten sei. In Wahrheit sind
sie unbändig ihres Lebens sicher und in dasselbe verliebt und
voller unsäglicher Listen und Feinheiten, um das Unangenehme zu
brechen und dem Schmerze und Unglücke seinen Dorn auszuziehen. Es
will mir scheinen, dass vom Schmerze und Unglücke immer übertrieben geredet werde, wie als ob
es eine Sache der guten Lebensart sei, hier zu übertreiben: man
schweigt dagegen geflissentlich davon, dass es gegen den Schmerz
eine Unzahl Linderungsmittel giebt, wie Betäubungen, oder die
fieberhafte Hast der Gedanken, oder eine ruhige Lage, oder gute
und schlimme Erinnerungen, Absichten, Hoffnungen, und viele Arten
von Stolz und Mitgefühl, die beinahe die Wirkung von Anästheticis
haben: während bei den höchsten Graden des Schmerzes schon von
selber Ohnmachten eintreten. Wir verstehen uns ganz gut darauf,
Süssigkeiten auf unsere Bitternisse zu träufeln, namentlich auf
die Bitternisse der Seele; wir haben Hülfsmittel in unserer
Tapferkeit und Erhabenheit, sowie in den edleren Delirien der
Unterwerfung und der Resignation. Ein Verlust ist kaum eine Stunde
ein Verlust: irgendwie ist uns damit auch ein Geschenk vom Himmel
gefallen — eine neue Kraft zum Beispiel: und sei es auch nur eine
neue Gelegenheit zur Kraft! Was haben die Moralprediger vom
inneren „Elend“ der bösen Menschen phantasirt! Was haben sie gar
vom Unglücke der leidenschaftlichen Menschen uns vorgelogen !
— ja, lügen ist hier das rechte Wort: sie haben um das überreiche
Glück dieser Art von Menschen recht wohl gewusst, aber es
todtgeschwiegen, weil es eine Widerlegung ihrer Theorie war, nach
der alles Glück erst mit der Vernichtung der Leidenschaft und dem
Schweigen des Willens entsteht! Und was zuletzt das Recept aller
dieser Seelen-Aerzte betrifft und ihre Anpreisung einer harten
radicalen Cur: so ist es erlaubt, zu fragen: ist dieses unser
Leben wirklich schmerzhaft und lästig genug, um mit Vortheil eine
stoische Lebensweise und Versteinerung dagegen einzutauschen? Wir
befinden uns nicht schlecht genug ,
um uns auf stoische Art schlecht befinden zu müssen!
327.
Ernst nehmen. — Der Intellect ist
bei den Allermeisten eine schwerfällige, finstere und knarrende
Maschine, welche übel in Gang zu bringen ist: sie nennen es „die
Sache ernst nehmen “,
wenn sie mit dieser Maschine arbeiten und gut denken wollen — oh
wie lästig muss ihnen das Gut-Denken sein! Die liebliche Bestie
Mensch verliert jedesmal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie
gut denkt; sie wird „ernst“! Und „wo Lachen und Fröhlichkeit ist,
da taugt das Denken Nichts“: — so lautet das Vorurtheil dieser
ernsten Bestie gegen alle „fröhliche Wissenschaft“. — Wohlan!
Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist!
Serieus nemen . — Bij de meesten is het
intellect een logge, sombere en knarsende machine, die maar moeilijk
op gang te brengen is: ze noemen het ‘de zaak serieus nemen ’,
wanneer ze met deze machine willen werken en goed willen denken —
oh, wat moet goed denken toch zwaar (lästig < last)
voor hen zijn! Het lieve beest mens lijkt elke keer zijn goede
humeur te verliezen als het goed nadenkt; het wordt ‘serieus’! En
‘waar gelach en vrolijkheid is, daar heeft het denken niets te
zoeken’: zo luidt het vooroordeel van dit serieuze beest tegen alle
‘vrolijke wetenschap’. Welnu! Laten we aantonen dat het een
vooroordeel is!
328.
Der Dummheit Schaden thun. —
Gewiss hat der so hartnäckig und überzeugt gepredigte Glaube von
der Verwerflichkeit des Egoismus im Ganzen dem Egoismus Schaden
gethan ( zu Gunsten , wie
ich hundertmal wiederholen werde, der
Heerden-Instincte !), namentlich dadurch, dass er ihm
das gute Gewissen nahm und in ihm die eigentliche Quelle alles
Unglücks suchen hiess. „Deine Selbstsucht ist das Unheil deines
Lebens“ — so klang die Predigt Jahrtausende lang: es that, wie
gesagt, der Selbstsucht Schaden und nahm ihr viel Geist, viel
Heiterkeit, viel Erfindsamkeit, viel Schönheit, es verdummte und
verhässlichte und vergiftete die Selbstsucht! — Das philosophische
Alterthum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils: von
Sokrates an wurden die Denker nicht müde, zu predigen: „eure
Gedankenlosigkeit und Dummheit, euer Dahinleben nach der Regel,
eure Unterordnung unter die Meinung des Nachbars ist der Grund,
wesshalb ihr es so selten zum Glück bringt, — wir Denker sind als
Denker die Glücklichsten.“ Entscheiden wir hier nicht, ob diese
Predigt gegen die Dummheit bessere Gründe für sich hatte, als jene
Predigt gegen die Selbstsucht; gewiss aber ist das, dass sie der
Dummheit das gute Gewissen nahm: — diese Philosophen haben der
Dummheit Schaden gethan .
329.
Musse und Müssiggang. — Es ist
eine indianerhafte, dem Indianer-Bluthe eigenthümliche Wildheit in
der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre athemlose
Hast der Arbeit — das eigentliche Laster der neuen Welt — beginnt
bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine
ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt
sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe
Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu
Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, — man lebt,
wie Einer, der fortwährend Etwas „versäumen könnte“. „Lieber
irgend Etwas thun, als Nichts“ — auch dieser Grundsatz ist eine
Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack den Garaus zu
machen. Und so wie sichtlich alle Formen an dieser Hast der
Arbeitenden zu Grunde gehen: so geht auch das Gefühl für die Form
selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zu Grunde.
Der Beweis dafür liegt in der jetzt überall geforderten plumpen Deutlichkeit , in allen den
Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im
Verkehre mit Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern,
Schülern, Führern und Fürsten, — man hat keine Zeit und keine
Kraft mehr für die Ceremonien, für die Verbindlichkeit mit
Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung und überhaupt für alles
Otium . Denn das Leben auf
der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur
Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder
Ueberlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt,
Etwas in weniger Zeit zu thun, als ein Anderer. Und so giebt es
nur selten Stunden der erlaubten
Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur
„gehen lassen“, sondern lang und breit und plump sich hinstrecken . Gemäss diesem Hange
schreibt man jetzt seine Briefe ;
deren Stil und Geist immer das eigentliche „Zeichen der Zeit“ sein
werden. Giebt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und an
Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müde-gearbeitete Sclaven
sich zurecht machen. Oh über diese Genügsamkeit der „Freude“ bei
unsern Gebildeten und Ungebildeten! Oh über diese zunehmende
Verdächtigung aller Freude! Die Arbeit
bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang
zur Freude nennt sich bereits „Bedürfniss der Erholung“ und fängt
an, sich vor sich selber zu schämen. „Man ist es seiner Gesundheit
schuldig“ — so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt
wird. Ja, es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur
vita contemplativa (das heisst zum Spazierengehen mit Gedanken und
Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen
nachgäbe. — Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das
schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft
verbarg seine Arbeit, wenn die Noth
ihn zum Arbeiten zwang. Der Sclave arbeitete unter dem Druck des
Gefühls, dass er etwas Verächtliches thue: — das „Thun“ selber war
etwas Verächtliches. „Die Vornehmheit und die Ehre sind allein bei
otium und bellum“: so klang die Stimme des antiken Vorurtheils!
330.
Beifall. — Der Denker bedarf des
Beifalls und des Händeklatschens nicht, vorausgesetzt, dass er
seines eigenen Händeklatschens sicher ist: diess aber kann er
nicht entbehren. Giebt es Menschen, welche auch dessen und
überhaupt jeder Gattung von Beifall entrathen könnten? Ich
zweifle: und selbst in Betreff der Weisesten sagt Tacitus, der
kein Verleumder der Weisen ist, quando etiam sapientibus gloriae
cupido novissima exuitur — das heisst bei ihm: niemals.
331.
Lieber taub, als betäubt. —
Ehemals wollte man sich einen Ruf
machen: das genügt jetzt nicht mehr, da der Markt zu gross
geworden ist, — es muss ein Geschrei
sein. Die Folge ist, dass auch gute Kehlen sich überschreien, und
die besten Waaren von heiseren Stimmen ausgeboten werden; ohne
Marktschreierei und Heiserkeit giebt es jetzt kein Genie mehr. —
Das ist nun freilich ein böses Zeitalter für den Denker: er muss
lernen, zwischen zwei Lärmen noch seine Stille zu finden, und sich
so lange taub stellen, bis er es ist. So lange er diess noch nicht
gelernt hat, ist er freilich in Gefahr, vor Ungeduld und
Kopfschmerzen zu Grunde zu gehen.
332.
Die böse Stunde. — Es hat wohl für
jeden Philosophen eine böse Stunde gegeben, wo er dachte: was
liegt an mir, wenn man mir nicht auch meine schlechten Argumente
glaubt! — Und dann flog irgend ein schadenfrohes Vögelchen an ihm
vorüber und zwitscherte: „Was liegt an dir? Was liegt an dir?“
333.
Was heisst erkennen. — Non ridere,
non lugere, neque detestari, sed intelligere! sagt Spinoza, so
schlicht und erhaben, wie es seine Art ist. Indessen: was ist
diess intelligere im letzten Grunde Anderes, als die Form, in der
uns eben jene Drei auf Einmal fühlbar werden? Ein Resultat aus den
verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-,
Beklagen-, Verwünschen-wollens? Bevor ein Erkennen möglich ist,
muss jeder dieser Triebe erst seine einseitige Ansicht über das
Ding oder Vorkommniss vorgebracht haben; hinterher entstand der
Kampf dieser Einseitigkeiten und aus ihm bisweilen eine Mitte,
eine Beruhigung, ein Rechtgeben nach allen drei Seiten, eine Art
Gerechtigkeit und Vertrag: denn, vermöge der Gerechtigkeit und des
Vertrags können alle diese Triebe sich im Dasein behaupten und mit
einander Recht behalten. Wir, denen nur die letzten
Versöhnungsscenen und Schluss-Abrechnungen dieses langen Processes
zum Bewusstsein kommen, meinen demnach, intelligere sei etwas
Versöhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den Trieben
Entgegengesetztes; während es nur ein gewisses
Verhalten der Triebe zu einander ist . Die längsten
Zeiten hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt
betrachtet: jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, dass der
allergrösste Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst,
ungefühlt verläuft; ich meine aber, diese Triebe, die hier mit
einander kämpfen, werden recht wohl verstehen, sich einander dabei fühlbar zu machen und
wehe zu thun —: jene gewaltige plötzliche Erschöpfung, von der
alle Denker heimgesucht werden, mag da ihren Ursprung haben (es
ist die Erschöpfung auf dem Schlachtfelde). Ja, vielleicht giebt
es in unserm kämpfenden Innern manches verborgene Heroenthum , aber gewiss nichts
Göttliches, Ewig-in-sich-Ruhendes, wie Spinoza meinte. Das
bewusste Denken, und namentlich das
des Philosophen, ist die unkräftigste und desshalb auch die
verhältnissmässig mildeste und ruhigste Art des Denkens: und so
kann gerade der Philosoph am leichtesten über die Natur des
Erkennens irre geführt werden.
334.
Man muss lieben lernen. — So geht
es uns in der Musik: erst muss man eine Figur und Weise überhaupt
hören lernen , heraushören,
unterscheiden, als ein Leben für sich isoliren und abgrenzen; dann
braucht es Mühe und guten Willen, sie zu ertragen ,
trotz ihrer Fremdheit, Geduld gegen ihren Blick und Ausdruck,
Mildherzigkeit gegen das Wunderliche an ihr zu üben: — endlich
kommt ein Augenblick, wo wir ihrer gewohnt
sind, wo wir sie erwarten, wo wir ahnen, dass sie uns fehlen
würde, wenn sie fehlte; und nun wirkt sie ihren Zwang und Zauber
fort und fort und endet nicht eher, als bis wir ihre demüthigen
und entzückten Liebhaber geworden sind, die nichts Besseres von
der Welt mehr wollen, als sie und wieder sie. — So geht es uns
aber nicht nur mit der Musik: gerade so haben wir alle Dinge, die
wir jetzt lieben, lieben gelernt .
Wir werden schließlich immer für unseren guten Willen, unsere
Geduld, Billigkeit, Sanftmüthigkeit gegen das Fremde belohnt,
indem das Fremde langsam seinen Schleier abwirft und sich als neue
unsägliche Schönheit darstellt: — es ist sein Dank
für unsere Gastfreundschaft. Auch wer sich selber liebt, wird es
auf diesem Wege gelernt haben: es giebt keinen anderen Weg. Auch
die Liebe muss man lernen.
335.
Hoch die Physik! — Wie viel
Menschen verstehen denn zu beobachten! Und unter den wenigen, die
es verstehen, — wie viele beobachten sich selber! „Jeder ist sich
selber der Fernste“ — das wissen alle Nierenprüfer, zu ihrem
Unbehagen; und der Spruch „erkenne dich selbst!“ ist, im Munde
eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit.
Dass es aber so verzweifelt mit der
Selbstbeobachtung steht, dafür zeugt Nichts mehr, als die Art, wie
über das Wesen einer moralischen Handlung fast
von Jedermann gesprochen wird, diese schnelle,
bereitwillige, überzeugte, redselige Art, mit ihrem Blick, ihrem
Lächeln, ihrem gefälligen Eifer! Man scheint dir sagen zu wollen:
„Aber, mein Lieber, das gerade ist meine
Sache! Du wendest dich mit deiner Frage an Den, der antworten
darf : ich bin zufällig in Nichts so
weise, wie hierin. Also: wenn der Mensch urtheilt „ so
ist es recht “, wenn er darauf schliesst „ darum muss es geschehen !“ und nun
thut , was er dergestalt als recht
erkannt und als nothwendig bezeichnet hat, — so ist das Wesen
seiner Handlung moralisch !“
Aber, mein Freund, du sprichst mir da von drei Handlungen statt
von einer: auch dein Urtheilen zum Beispiel „so ist es recht“ ist
eine Handlung, — könnte nicht schon auf eine moralische und auf
eine unmoralische Weise geurtheilt werden? Warum
hältst du diess und gerade diess für recht? — „Weil mein Gewissen
es mir sagt; das Gewissen redet nie unmoralisch, es bestimmt ja
erst, was moralisch sein soll!“ — Aber warum hörst
du auf die Sprache deines Gewissens? Und inwiefern hast du ein
Recht, ein solches Urtheil als wahr und untrüglich anzusehen? Für
diesen Glauben — giebt
es da kein Gewissen mehr? Weisst du Nichts von einem
intellectuellen Gewissen? Einem Gewissen hinter deinem „Gewissen“?
Dein Urtheil „so ist es recht“ hat eine Vorgeschichte in deinen
Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und
Nicht-Erfahrungen; „ wie
ist es da entstanden?“ musst du fragen, und hinterher noch: „ was treibt mich eigentlich, ihm Gehör
zu schenken?“ Du kannst seinem Befehle Gehör schenken, wie ein
braver Soldat, der den Befehl seines Offiziers vernimmt. Oder wie
ein Weib, das Den liebt, der befiehlt. Oder wie ein Schmeichler
und Feigling, der sich vor dem Befehlenden fürchtet. Oder wie ein
Dummkopf, welcher folgt, weil er Nichts dagegen zu sagen hat.
Kurz, auf hundert Arten kannst du deinem Gewissen Gehör geben.
Dass du aber diess und jenes
Urtheil als Sprache des Gewissens hörst, also, dass
du Etwas als recht empfindest, kann seine Ursache darin haben,
dass du nie über dich nachgedacht hast und blindlings annahmst,
was dir als recht von
Kindheit an bezeichnet worden ist: oder darin, dass dir Brod und
Ehren bisher mit dem zu Theil wurde, was du deine Pflicht nennst,
— es gilt dir als „recht“, weil es dir deine
„Existenz-Bedingung“ scheint (dass du aber ein Recht
auf Existenz habest, dünkt dich unwiderleglich!). Die Festigkeit deines moralischen Urtheils
könnte immer noch ein Beweis gerade von persönlicher
Erbärmlichkeit, von Unpersönlichkeit sein, deine „moralische
Kraft“ könnte ihre Quelle in deinem Eigensinn haben — oder in
deiner Unfähigkeit, neue Ideale zu schauen! Und, kurz gesagt: wenn
du feiner gedacht, besser beobachtet und mehr gelernt hättest,
würdest du diese deine „Pflicht“ und diess dein „Gewissen“ unter
allen Umständen nicht mehr Pflicht und Gewissen benennen: die
Einsicht darüber, wie überhaupt
jemals moralische Urtheile entstanden sind , würde dir
diese pathetischen Worte verleiden, — so wie dir schon andere
pathetische Worte, zum Beispiel „Sünde“, „Seelenheil“, „Erlösung“
verleidet sind. — Und nun rede mir nicht vom kategorischen
Imperativ, mein Freund! — diess Wort kitzelt mein Ohr, und ich
muss lachen, trotz deiner so ernsthaften Gegenwart: ich gedenke
dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, dass er „das Ding an
sich“ — auch eine sehr lächerliche Sache! — sich erschlichen
hatte, vom „kategorischen Imperativ“ beschlichen wurde und mit ihm
im Herzen sich wieder zu „Gott“, „Seele“, „Freiheit“ und
„Unsterblichkeit“ zurückverirrte ,
einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt: — und
seine Kraft und Klugheit
war es gewesen, welche diesen Käfig erbrochen
hatte! — Wie? Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir?
Diese „Festigkeit“ deines sogenannten moralischen Urtheils? Diese
„Unbedingtheit“ des Gefühls „so wie ich, müssen hierin Alle
urtheilen“? Bewundere vielmehr deine Selbstsucht
darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit
deiner Selbstsucht! Selbstsucht nämlich ist es, sein
Urtheil als Allgemeingesetz zu empfinden; und eine blinde,
kleinliche und anspruchslose Selbstsucht hinwiederum, weil sie
verräth, dass du dich selber noch nicht entdeckt, dir selber noch
kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast: — diess nämlich
könnte niemals das eines Anderen sein, geschweige denn Aller,
Aller! — — Wer noch urtheilt „so müsste in diesem Falle Jeder
handeln“, ist noch nicht fünf Schritt weit in der
Selbsterkenntniss gegangen: sonst würde er wissen, dass es weder
gleiche Handlungen giebt, noch geben kann, — dass jede Handlung,
die gethan worden ist, auf eine ganz einzige und
unwiederbringliche Art gethan wurde, und dass es ebenso mit jeder
zukünftigen Handlung stehen wird, — dass alle Vorschriften des
Handelns sich nur auf die gröbliche Aussenseite beziehen (und
selbst die innerlichsten und feinsten Vorschriften aller
bisherigen Moralen), — dass mit ihnen wohl ein Schein der
Gleichheit, aber eben nur ein Schein
erreicht werden kann, — dass jede
Handlung, beim Hinblick oder Rückblick auf sie, eine
undurchdringliche Sache ist und bleibt, — dass unsere Meinungen
von „gut“, „edel“, „gross“ durch unsere Handlungen nie bewiesen werden können, weil jede
Handlung unerkennbar ist, — dass sicherlich unsere Meinungen,
Werthschätzungen und Gütertafeln zu den mächtigsten Hebeln im
Räderwerk unserer Handlungen gehören, dass aber für jeden
einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar ist.
Beschränken wir uns also auf die
Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die
Schöpfung neuer eigener Gütertafeln :
— über den „moralischen Werth unserer Handlungen“ aber wollen wir
nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht auf das ganze
moralische Geschwätz der Einen über die Andern ist der Ekel an der
Zeit! Moralisch zu Gericht sitzen soll uns wider den Geschmack
gehen! Ueberlassen wir diess Geschwätz und diesen üblen Geschmack
Denen, welche nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um
ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen und welche
selber niemals Gegenwart sind, — den Vielen also, den
Allermeisten! Wir aber wollen Die
werden, die wir sind , — die Neuen, die Einmaligen,
die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die
Sich-selber-Schaffenden! Und dazu müssen wir die besten Lerner und
Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden:
wir müssen Physiker
sein, um, in jenem Sinne, Schöpfer
sein zu können, — während bisher alle Werthschätzungen und Ideale
auf Unkenntniss der
Physik oder im Widerspruch
mit ihr aufgebaut waren. Und darum: Hoch die Physik! Und höher
noch das, was uns zu ihr zwingt ,
— unsre Redlichkeit!
336.
Geiz der Natur. — Warum ist die
Natur so kärglich gegen den Menschen gewesen, dass sie ihn nicht
leuchten liess, Diesen mehr, Jenen weniger, je nach seiner innern
Lichtfülle? Warum haben grosse Menschen nicht eine so schöne
Sichtbarkeit in ihrem Aufgange und Niedergange, wie die Sonne? Wie
viel unzweideutiger wäre alles Leben unter Menschen!
337.
Die zukünftige „Menschlichkeit“. —
Wenn ich mit den Augen eines fernen Zeitalters nach diesem
hinsehe, so weiss ich an dem gegenwärtigen Menschen nichts
Merkwürdigeres zu finden, als seine eigenthümliche Tugend und
Krankheit, genannt „der historische Sinn“. Es ist ein Ansatz zu
etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem
Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein
wundervolles Gewächs mit einem eben so wundervollen Geruche
werden, um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen
wäre, als bisher. Wir Gegenwärtigen fangen eben an, die Kette
eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden, Glied um
Glied, — wir wissen kaum, was wir thun. Fast scheint es uns, als
ob es sich nicht um ein neues Gefühl, sondern um die Abnahme aller
alten Gefühle handele: — der historische Sinn ist noch etwas so
Armes und Kaltes, und Viele werden von ihm wie von einem Froste
befallen und durch ihn noch ärmer und kälter gemacht. Anderen
erscheint er als das Anzeichen des heranschleichenden Alters, und
unser Planet gilt ihnen als ein schwermüthiger Kranker, der, um
seine Gegenwart zu vergessen, sich seine Jugendgeschichte
aufschreibt. In der That: diess ist Eine Farbe dieses neuen
Gefühls: wer die Geschichte der Menschen insgesammt als eigene Geschichte zu fühlen weiss, der
empfindet in einer ungeheuren Verallgemeinerung allen jenen Gram
des Kranken, der an die Gesundheit, des Greises, der an den
Jugendtraum denkt, des Liebenden, der der Geliebten beraubt wird,
des Märtyrers, dem sein Ideal zu Grunde geht, des Helden am Abend
der Schlacht, welche Nichts entschieden hat und doch ihm Wunden
und den Verlust des Freundes brachte —; aber diese ungeheure Summe
von Gram aller Art tragen, tragen können und nun doch noch der
Held sein, der beim Anbruch eines zweiten Schlachttages die
Morgenröthe und sein Glück begrüsst, als der Mensch eines
Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich, als der
Erbe aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes und der
verpflichtete Erbe, als der Adeligste aller alten Edlen und
zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch
keine Zeit sah und träumte: diess Alles auf seine Seele nehmen,
Aeltestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der
Menschheit: diess Alles endlich in Einer Seele haben und in Ein
Gefühl zusammendrängen: — diess müsste doch ein Glück ergeben, das
bisher der Mensch noch nicht kannte, — eines Gottes Glück voller
Macht und Liebe, voller Thränen und voll Lachens, ein Glück,
welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem
unerschöpflichen Reichthume wegschenkt und in’s Meer schüttet und,
wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste
Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dieses göttliche Gefühl
hiesse dann — Menschlichkeit!
338.
Der Wille zum Leiden und die Mitleidigen. —
Ist es euch selber zuträglich, vor Allem mitleidige Menschen zu
sein? Und ist es den Leidenden zuträglich, wenn ihr es seid? Doch
lassen wir die erste Frage für einen Augenblick ohne Antwort. —
Das, woran wir am tiefsten und persönlichsten leiden, ist fast
allen Anderen unverständlich und unzugänglich: darin sind wir dem
Nächsten verborgen, und wenn er mit uns aus Einem Topfe isst.
Ueberall aber, wo wir als Leidende bemerkt
werden, wird unser Leiden flach ausgelegt; es gehört zum Wesen der
mitleidigen Affection, dass sie das fremde Leid des eigentlich
Persönlichen entkleidet :
— unsre „Wohlthäter“ sind mehr als unsre Feinde die Verkleinerer
unsres Werthes und Willens. Bei den meisten Wohlthaten, die
Unglücklichen erwiesen werden, liegt etwas Empörendes in der
intellectuellen Leichtfertigkeit, mit der da der Mitleidige das
Schicksal spielt: er weiss Nichts von der ganzen inneren Folge und
Verflechtung, welche Unglück für mich
oder für dich heisst!
Die gesammte Oekonomie meiner Seele und deren Ausgleichung durch
das „Unglück“, das Aufbrechen neuer Quellen und Bedürfnisse, das
Zuwachsen alter Wunden, das Abstossen ganzer Vergangenheiten — das
Alles, was mit dem Unglück verbunden sein kann, kümmert den lieben
Mitleidigen nicht: er will helfen
und denkt nicht daran, dass es eine persönliche Nothwendigkeit des
Unglücks giebt, dass mir und dir Schrecken, Entbehrungen,
Verarmungen, Mitternächte, Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so
nöthig sind, wie ihr Gegentheil, ja dass, um mich mystisch
auszudrücken, der Pfad zum eigenen Himmel immer durch die Wollust
der eigenen Hölle geht. Nein, davon weiss er Nichts: die „Religion
des Mitleidens“ (oder „das Herz“) gebietet, zu helfen, und man
glaubt am besten geholfen zu haben, wenn man am schnellsten
geholfen hat! Wenn ihr Anhänger dieser Religion die selbe
Gesinnung, die ihr gegen die Mitmenschen habt, auch wirklich gegen
euch selber habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde
auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen
Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust
überhaupt als böse, hassenswerth, vernichtungswürdig, als Makel am
Dasein empfindet: nun, dann habt ihr, ausser eurer Religion des
Mitleidens, auch noch eine andere Religion im Herzen, und diese
ist vielleicht die Mutter von jener: — die Religion
der Behaglichkeit . Ach, wie wenig wisst ihr vom
Glücke des Menschen, ihr
Behaglichen und Gutmüthigen! — denn das Glück und das Unglück sind
zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander gross wachsen
oder, wie bei euch, mit einander — klein
bleiben ! Aber nun zur ersten Frage zurück. — Wie ist
es nur möglich, auf seinem
Wege zu bleiben! Fortwährend ruft uns irgend ein Geschrei
seitwärts; unser Auge sieht da selten Etwas, wobei es nicht nöthig
wird, augenblicklich unsre eigne Sache zu lassen und zuzuspringen.
Ich weiss es: es giebt hundert anständige und rühmliche Arten, um
mich von meinem Wege zu
verlieren, und wahrlich höchst „moralische“ Arten! Ja, die Ansicht
der jetzigen Mitleid-Moralprediger geht sogar dahin, dass eben
Diess und nur Diess allein moralisch sei: — sich dergestalt von
seinem Wege zu verlieren und dem
Nächsten beizuspringen. Ich weiss es ebenso gewiss: ich brauche
mich nur dem Anblicke einer wirklichen Noth auszuliefern, so
bin ich auch verloren! Und wenn ein
leidender Freund zu mir sagte: „Siehe, ich werde bald sterben;
versprich mir doch, mit mir zu sterben“ — ich verspräche es,
ebenso wie mich der Anblick jenes für seine Freiheit kämpfenden
Bergvölkchens dazu bringen würde, ihm meine Hand und mein Leben
anzubieten: — um einmal aus guten Gründen schlechte Beispiele zu
wählen. Ja, es giebt eine heimliche Verführung sogar in alle
diesem Mitleid-Erweckenden und Hülfe-Rufenden: eben unser „eigener
Weg“ ist eine zu harte und anspruchsvolle Sache und zu ferne von
der Liebe und Dankbarkeit der Anderen, — wir entlaufen ihm gar
nicht ungerne, ihm und unserm eigensten Gewissen, und flüchten uns
unter das Gewissen der Anderen und hinein in den lieblichen Tempel
der „Religion des Mitleidens“. Sobald jetzt irgend ein Krieg
ausbricht, so bricht damit immer auch gerade in den Edelsten eines
Volkes eine freilich geheim gehaltene Lust aus: sie werfen sich
mit Entzücken der neuen Gefahr des Todes
entgegen, weil sie in der Aufopferung für das Vaterland endlich
jene lange gesuchte Erlaubniss zu haben glauben — die Erlaubniss,
ihrem Ziele auszuweichen :
— der Krieg ist für sie ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg
mit gutem Gewissen. Und, um hier Einiges zu verschweigen: so will
ich doch meine Moral nicht verschweigen, welche zu mir sagt: Lebe
im Verborgenen, damit du dir leben kannst !
Lebe unwissend über
Das, was deinem Zeitalter das Wichtigste dünkt! Lege zwischen dich
und heute wenigstens die Haut von drei Jahrhunderten! Und das
Geschrei von heute, der Lärm der Kriege und Revolutionen, soll dir
ein Gemurmel sein! Du wirst auch helfen wollen: aber nur Denen,
deren Noth du ganz verstehst ,
weil sie mit dir Ein Leid und Eine Hoffnung haben — deinen
Freunden : und nur auf die Weise,
wie du dir selber hilfst: — ich will sie muthiger, aushaltender,
einfacher, fröhlicher machen! Ich will sie Das lehren, was jetzt
so Wenige verstehen und jene Prediger des Mitleidens am wenigsten:
— die Mitfreude !
339.
Vita femina. — Die letzten
Schönheiten eines Werkes zu sehen — dazu reicht alles Wissen und
aller guter Wille nicht aus; es bedarf der seltensten glücklichen
Zufälle, damit einmal der Wolkenschleier von diesen Gipfeln für
uns weiche und die Sonne auf ihnen glühe. Nicht nur müssen wir
gerade an der rechten Stelle stehen, diess zu sehen: es muss
gerade unsere Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen
haben und eines äusseren Ausdruckes und Gleichnisses bedürftig
sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer selber mächtig zu
bleiben. Diess Alles aber kommt so selten gleichzeitig zusammen,
dass ich glauben möchte, die höchsten Höhen alles Guten, sei es
Werk, That, Mensch, Natur, seien bisher für die Meisten und selbst
für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes gewesen: — was
sich aber uns enthüllt, das enthüllt
sich uns Ein Mal ! — Die Griechen beteten wohl: „Zwei
und drei Mal alles Schöne!“ Ach, sie hatten da einen guten Grund,
Götter anzurufen, denn die ungöttliche Wirklichkeit giebt uns das
Schöne gar nicht oder Ein Mal! Ich will sagen, dass die Welt
übervoll von schönen Dingen ist, aber trotzdem arm, sehr arm an
schönen Augenblicken und Enthüllungen dieser Dinge. Aber
vielleicht ist diess der stärkste Zauber des Lebens: es liegt ein
golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm,
verheissend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig,
verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib!
340.
Der sterbende Sokrates. — Ich
bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, was
er that, sagte — und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte
Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermüthigsten Jünglinge
zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste
Schwätzer, den es gegeben hat: er war ebenso gross im Schweigen.
Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens
schweigsam gewesen, — vielleicht gehörte er dann in eine noch
höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder
die Frömmigkeit oder die Bosheit — irgend Etwas löste ihm in jenem
Augenblick die Zunge und er sagte: „Oh Kriton, ich bin dem
Asklepios einen Hahn schuldig“. Dieses lächerliche und furchtbare
„letzte Wort“ heisst für Den, der Ohren hat: „Oh Kriton,
das Leben ist eine Krankheit !“ Ist
es möglich! Ein Mann, wie er, der heiter und vor Aller Augen wie
ein Soldat gelebt hat, — war Pessimist! Er hatte eben nur eine
gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urtheil,
sein innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten ! Und er hat noch
seine Rache dafür genommen — mit jenem verhüllten, schauerlichen,
frommen und blasphemischen Worte! Musste ein Sokrates sich auch
noch rächen? War ein Gran Grossmuth zu wenig in seiner überreichen
Tugend? — Ach Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden!
341.
Das grösste Schwergewicht. — Wie,
wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste
Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es
jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch
unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein,
sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer
und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir
wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge — und ebenso
diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso
dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins
wird immer wieder umgedreht — und du mit ihr, Stäubchen vom
Staube!“ — Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen
knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du
einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten
würdest: „du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!“ Wenn
jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist,
verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei Allem und Jedem
„willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als
das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie
müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts
mehr zu verlangen , als nach dieser
letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?
342.
gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner
Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber
verwandelte sich sein Herz, — und eines Morgens stand er mit der
Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: „Du
grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest,
welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle:
du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne
mich, meinen Adler und meine Schlange; aber wir warteten deiner an
jedem Morgen, nahmen dir deinen Ueberfluss ab und segneten dich dafür.
Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des
Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich
ausstrecken, ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen
unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder
einmal ihres Reichthums froh geworden sind. Dazu muss ich in die Tiefe
steigen: wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer gehst und
noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn! — ich muss,
gleich dir, untergehen , wie die
Menschen es nennen, zu denen ich hinab will. So segne mich denn, du
ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein allzugrosses Glück sehen kann!
Segne den Becher, welcher überfliessen will, dass das Wasser golden
aus ihm fliesse und überallhin den Abglanz deiner Wonne trage!
Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will
wieder Mensch werden.“ — Also begann Zarathustra’s Untergang.
- Dit aforisme verschijnt met een kleine wijziging als opener van
zijn levenswerk: Also sprach Zarathustra (1883). Voor de
aardigheid geef ik de twee rivaliserende vertalingen die van dat
werk in omloop zijn:
Vertaling: W. Oranje m.m. (uit “Aldus
Sprak Zarathoestra”, 2006/2025)
Toen Zarathoestra dertig jaar oud was, verliet
hij zijn vaderland en het meer Urmi en trok het gebergte
in. Hij proefde hier de vreugden van zijn geest en zijn eenzaamheid
en werd ze tien jaar lang niet moe. Eindelijk echter onderging hij
een verandering in zijn hart, — en op een ochtend stond hij met het
morgenrood op, trad de zon tegemoet en sprak haar aldus toe: ‘O
groot gesternte! Wat zou jouw geluk zijn als je hen niet had voor
wie jij straalt! Tien jaar lang kwam je hierboven naar mijn grot: je
licht en deze weg zou jij moe zijn geworden zonder mij, mijn adelaar
en mijn slang. Maar we wachtten jou elke ochtend op, namen van je
overvloed en zegenden jou hierom. Zie! Ik ben mijn wijsheid zat, als
de bij die te veel honing heeft vergaard, ik heb handen nodig die
zich uitstrekken. Ik zou graag weggeven en uitdelen, tot ooit de
wijzen onder de mensen in hun dwaasheid, en de armen in hun rijkdom
weer vreugde hebben gevonden. Daartoe moet ik in de diepte afdalen:
zoals jij ’s avonds doet als je heengaat achter de zee en nog aan de
onderwereld licht brengt, o overrijk gesternte! — Zoals jij moet ik
ondergaan , zoals de mensen het noemen tot wie ik omlaag wil.
Zegen mij dus, o kalm oog, dat zonder afgunst ook al te groot geluk
kan aanzien! Zegen de beker die wil overvloeien, opdat het water als
goud eraan ontvloeit en het de weerglans van jouw verrukking overal
heen zal dragen! Zie! Deze beker wil leeg worden, en Zarathoestra
wil weer mens worden.’ — Aldus begon Zarathoestra’s ondergang.
Vertaling Ria van Hengel m.m. (uit “Zo
sprak Zarathoestra”, 2016)
Toen Zarathoestra dertig jaar oud was, verliet
hij zijn vaderland en het meer Urmi en trok hij het
gebergte in. Daar genoot hij van zijn geest en van zijn eenzaamheid
en tien jaar lang werd hij dat niet moe. Maar ten slotte veranderde
zijn hart, – en op een morgen stond hij bij het ochtendgloren op,
hij ging voor de zon staan en sprak tot haar: ‘O grote ster! Waar
zou uw geluk zijn zonder hen die u beschijnt! Tien jaar lang kwam u
hier naar mijn grot. U zou het beu zijn geworden om te schijnen en
die weg af te leggen als ik, mijn adelaar en mijn slang er niet
waren geweest. Maar wij wachtten elke morgen op u, namen van uw
overvloed en prezen u daarom. Zie! Ik heb genoeg van mijn wijsheid,
zoals bijen die te veel honing hebben verzameld. Ik heb handen nodig
die zich uitstrekken. Ik wil weggeven en uitdelen totdat ooit de
wijzen onder de mensen zich weer verheugen in hun dwaasheid en de
armen in hun rijkdom. Daartoe moet ik afdalen naar de diepte, zoals
u ’s avonds doet wanneer u ondergaat achter de zee om ook nog licht
te brengen aan de onderwereld, o overvloedige ster! — Ik moet, net
zoals u, ondergaan, zoals de mensen het noemen naar wie ik wil
afdalen. Dus zegen mij, o rustig oog, dat zonder jaloezie zelfs een
te groot geluk kan aanzien! Zegen de beker die zal óverstromen,
opdat het water eruit vloeit als goud en overal de weerschijn van uw
gelukzaligheid verspreidt! Zie! Deze beker wil weer leeg worden, en
Zarathoestra wil weer mens worden.’ — Zo begon Zarathoestra’s
ondergang.
Explicit liber iste.
AD 1882
⁂
continuatio
huius operis.
AD 1887