Inhoudsopgave
Vorrede zum zweiten
Auflage
[Boek I-IV]
Fünftes Buch. Wir Furchtlosen
Carcasse, tu trembles? Tu
tremblerais bien davantage, si
tu savais, où je te mène.
Turenne .
343.
Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat.
— Das grösste neuere Ereigniss, — dass „Gott todt ist“, dass der
Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist —
beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für
die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn
in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint
eben irgend eine Sonne untergegangen, irgend ein altes tiefes
Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muss unsre alte Welt täglich
abendlicher, misstrauischer, fremder, „älter“ scheinen. In der
Hauptsache aber darf man sagen: das Ereigniss selbst ist viel zu
gross, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler, als dass
auch nur seine Kunde schon angelangt
heissen dürfte; geschweige denn, dass Viele bereits wüssten,
was eigentlich sich damit begeben
hat — und was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist,
nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in
ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsre ganze europäische
Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung,
Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriethe heute schon
genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren
Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer
Verdüsterung und Sonnenfinsterniss, deren Gleichen es
wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat? …Selbst wir
geborenen Räthselrather, die wir gleichsam auf den Bergen warten,
zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch
zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und
Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die
Schatten, welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu
Gesicht gekommen sein sollten :
woran liegt es doch, dass selbst wir ohne rechte Theilnahme für
diese Verdüsterung, vor Allem ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen entgegensehn?
Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den nächsten
Folgen dieses Ereignisses — und diese nächsten
Folgen, seine Folgen für uns
sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht
traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu
beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung,
Ermuthigung, Morgenröthe… In der That, wir Philosophen und „freien
Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der „alte Gott todt“
ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz
strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, —
endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst,
dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder
auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des
Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser
Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so
„offnes Meer“. —
344.
Inwiefern auch wir noch fromm sind .
— In der Wissenschaft haben die Ueberzeugungen kein Bürgerrecht,
so sagt man mit gutem Grunde: erst wenn sie sich entschliessen,
zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen
Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen,
darf ihnen der Zutritt und sogar ein gewisser Werth innerhalb des
Reichs der Erkenntniss zugestanden werden, — immerhin mit der
Beschränkung, unter polizeiliche Aufsicht gestellt zu bleiben,
unter die Polizei des Misstrauens. — Heisst das aber nicht,
genauer besehen: erst, wenn die Ueberzeugung aufhört ,
Ueberzeugung zu sein, darf sie Eintritt in die Wissenschaft
erlangen? Fienge nicht die Zucht des wissenschaftlichen Geistes
damit an, sich keine Ueberzeugungen mehr zu gestatten?… So steht
es wahrscheinlich: nur bleibt übrig zu fragen, ob nicht,
damit diese Zucht anfangen könne ,
schon eine Ueberzeugung da sein müsse, und zwar eine so
gebieterische und bedingungslose, dass sie alle andren
Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt. Man sieht, auch die
Wissenschaft ruht auf einem Glauben, es giebt gar keine
„voraussetzungslose“ Wissenschaft. Die Frage, ob Wahrheit
noth thue, muss nicht nur schon vorher bejaht, sondern in dem
Grade bejaht sein, dass der Satz, der Glaube, die Ueberzeugung
darin zum Ausdruck kommt „es thut nichts
mehr noth als Wahrheit, und im Verhältniss zu ihr hat
alles Uebrige nur einen Werth zweiten Rangs“. — Dieser unbedingte
Wille zur Wahrheit: was ist er? Ist es der Wille, sich nicht täuschen zu lassen ? Ist es
der Wille, nicht zu täuschen ?
Nämlich auch auf diese letzte Weise könnte der Wille zur Wahrheit
interpretirt werden: vorausgesetzt, dass man unter der
Verallgemeinerung „ich will nicht täuschen“ auch den einzelnen
Fall „ich will mich
nicht täuschen“ einbegreift. Aber warum nicht täuschen? Aber warum
nicht sich täuschen lassen? — Man bemerke, dass die Gründe für das
Erstere auf einem ganz andern Bereiche liegen als die für das
Zweite: man will sich nicht täuschen lassen, unter der Annahme,
dass es schädlich, gefährlich, verhängnissvoll ist, getäuscht zu
werden, — in diesem Sinne wäre Wissenschaft eine lange Klugheit,
eine Vorsicht, eine Nützlichkeit, gegen die man aber billigerweise
einwenden dürfte: wie? ist wirklich das
Sich-nicht-täuschen-lassen-wollen weniger schädlich, weniger
gefährlich, weniger verhängnissvoll: Was wisst ihr von vornherein
vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu können, ob der
grössere Vortheil auf Seiten des Unbedingt-Misstrauischen oder des
Unbedingt-Zutraulichen ist? Falls aber Beides nöthig sein sollte,
viel Zutrauen und viel
Misstrauen: woher dürfte dann die Wissenschaft ihren unbedingten
Glauben, ihre Ueberzeugung nehmen, auf dem sie ruht, dass Wahrheit
wichtiger sei als irgend ein andres Ding, auch als jede andre
Ueberzeugung? Eben diese Ueberzeugung könnte nicht entstanden
sein, wenn Wahrheit und
Unwahrheit sich beide fortwährend als nützlich bezeigten: wie es
der Fall ist. Also — kann der Glaube an die Wissenschaft, der nun
einmal unbestreitbar da ist, nicht aus einem solchen
Nützlichkeits-Calcul seinen Ursprung genommen haben, sondern
vielmehr trotzdem , dass
ihm die Unnützlichkeit und Gefährlichkeit des „Willens zur
Wahrheit“, der „Wahrheit um jeden Preis“ fortwährend bewiesen
wird. „Um jeden Preis“: oh wir verstehen das gut genug, wenn wir
erst einen Glauben nach dem andern auf diesem Altare dargebracht
und abgeschlachtet haben! — Folglich bedeutet „Wille zur Wahrheit“
nicht „ich will mich nicht
täuschen lassen“, sondern — es bleibt keine Wahl — „ich will nicht
täuschen, auch mich selbst nicht“: — und
hiermit sind wir auf dem Boden der Moral . Denn man
frage sich nur gründlich: „warum willst du nicht täuschen?“
namentlich wenn es den Anschein haben sollte, — und es hat den
Anschein! — als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf
Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt
wäre, und wenn andrerseits thatsächlich die grosse Form des Lebens
sich immer auf der Seite der unbedenklichsten πολύτροποι
gezeigt hat. Es könnte ein solcher Vorsatz vielleicht, mild
ausgelegt, eine Don-Quixoterie, ein kleiner schwärmerischer
Aberwitz sein; er könnte aber auch noch etwas Schlimmeres sein,
nämlich ein lebensfeindliches zerstörerisches Princip… „Wille zur
Wahrheit“ — das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein. —
Dergestalt führt die Frage: warum Wissenschaft? zurück auf das
moralische Problem: wozu überhaupt
Moral , wenn Leben, Natur, Geschichte „unmoralisch“
sind? Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen
und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft
voraussetzt, bejaht damit eine andre
Welt als die des Lebens, der Natur und der
Geschichte; und insofern er diese „andre Welt“ bejaht, wie? muss
er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre
Welt — verneinen?… Doch man wird es begriffen haben, worauf ich
hinaus will, nämlich dass es immer noch ein metaphysischer
Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft
ruht, — dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und
Antimetaphysiker, auch unser
Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter
Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube
Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit
göttlich ist… Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig
wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der
Irrthum, die Blindheit, die Lüge, — wenn Gott selbst sich als
unsre längste Lüge erweist? —
345.
Moral als Problem . — Der Mangel an
Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte,
sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu
keinem guten Dinge mehr, — sie taugt am wenigsten zur Philosophie.
Die „Selbstlosigkeit“ hat keinen Werth im Himmel und auf Erden;
die grossen Probleme verlangen alle die grosse
Liebe , und dieser sind nur die starken, runden,
sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen. Es macht
den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen
persönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Noth
und auch sein bestes Glück hat, oder aber „unpersönlich“: nämlich
sie nur mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens
anzutasten und zu fassen versteht. Im letzteren Falle kommt Nichts
dabei heraus, so viel lässt sich versprechen: denn die grossen
Probleme, gesetzt selbst, dass sie sich fassen lassen, lassen sich
von Fröschen und Schwächlingen nicht halten ,
das ist ihr Geschmack seit Ewigkeit, — ein Geschmack übrigens, den
sie mit allen wackern Weiblein theilen. — Wie kommt es nun, dass
ich noch Niemandem begegnet bin, auch in Büchern nicht, der zur
Moral in dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als
Problem und dies Problem als seine
persönliche Noth, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte? Ersichtlich
war bisher die Moral gar kein Problem; vielmehr Das gerade, worin
man, nach allem Misstrauen, Zwiespalt, Widerspruch, mit einander
überein kam, der geheiligte Ort des Friedens, wo die Denker auch
von sich selbst ausruhten, aufathmeten, auflebten. Ich sehe
Niemanden, der eine Kritik
der moralischen Werthurtheile gewagt hätte; ich vermisse hierfür
selbst die Versuche der wissenschaftlichen Neugierde, der
verwöhnten versucherischen Psychologen- und
Historiker-Einbildungskraft, welche leicht ein Problem vorwegnimmt
und im Fluge erhascht, ohne recht zu wissen, was da erhascht ist.
Kaum dass ich einige spärliche Ansätze ausfindig gemacht habe, es
zu einer Entstehungsgeschichte
dieser Gefühle und Werthschätzungen zu bringen (was etwas Anderes
ist als eine Kritik derselben und noch einmal etwas Anderes als
die Geschichte der ethischen Systeme): in einem einzelnen Falle
habe ich Alles gethan, um eine Neigung und Begabung für diese Art
Historie zu ermuthigen — umsonst, wie mir heute scheinen will. Mit
diesen Moral-Historikern (namentlich Engländern) hat es wenig auf
sich: sie stehen gewöhnlich selbst noch arglos unter dem Kommando
einer bestimmten Moral und geben, ohne es zu wissen, deren
Schildträger und Gefolge ab; etwa mit jenem noch immer so
treuherzig nachgeredeten Volks-Aberglauben des christlichen
Europa, dass das Charakteristicum der moralischen Handlung im
Selbstlosen, Selbstverleugnenden, Sich-Selbst-Opfernden, oder im
Mitgefühle, im Mitleiden belegen sei. Ihr gewöhnlicher Fehler in
der Voraussetzung ist, dass sie irgend einen consensus der Völker,
mindestens der zahmen Völker über gewisse Sätze der Moral
behaupten und daraus deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für
dich und mich, schliessen; oder dass sie umgekehrt, nachdem ihnen
die Wahrheit aufgegangen ist, dass bei verschiedenen Völkern die
moralischen Schätzungen nothwendig
verschieden sind, einen Schluss auf Unverbindlichkeit aller Moral machen: was Beides gleich
grosse Kindereien sind. Der Fehler der Feineren unter ihnen ist,
dass sie die vielleicht thörichten Meinungen eines Volkes über
seine Moral oder der Menschen über alle menschliche Moral
aufdecken und kritisiren, also über deren Herkunft, religiöse
Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und dergleichen, und
ebendamit vermeinen, diese Moral selbst kritisirt zu haben. Aber
der Werth einer Vorschrift „du sollst“ ist noch gründlich
verschieden und unabhängig von solcherlei Meinungen über dieselbe
und von dem Unkraut des Irrthums, mit dem sie vielleicht
überwachsen ist: so gewiss der Werth eines Medikaments für den
Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke
wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denkt. Eine
Moral könnte selbst aus
einem Irrthum gewachsen sein: auch mit dieser Einsicht wäre das
Problem ihres Werthes noch nicht einmal berührt. — Niemand also
hat bisher den Werth
jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: wozu
zuallererst gehört, dass man ihn einmal — in
Frage stellt . Wohlan! Dies eben ist unser Werk. —
346.
Unser Fragezeichen . — Aber ihr
versteht das nicht? In der That, man wird Mühe haben, uns zu
verstehn. Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht auch nach
Ohren. Wer sind wir doch? Wollten wir uns einfach mit einem
älteren Ausdruck Gottlose oder Ungläubige oder auch Immoralisten
nennen, wir würden uns damit noch lange nicht bezeichnet glauben:
wir sind alles Dreies in einem zu späten Stadium, als dass man
begriffe, als dass ihr
begreifen könntet, meine Herren Neugierigen, wie es Einem dabei zu
Muthe ist. Nein! nicht mehr mit der Bitterkeit und Leidenschaft
des Losgerissenen, der sich aus seinem Unglauben noch einen
Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurecht machen muss!
Wir sind abgesotten in der Einsicht und in ihr kalt und hart
geworden, dass es in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja
noch nicht einmal nach menschlichem Maasse vernünftig, barmherzig
oder gerecht: wir wissen es, die Welt, in der wir leben, ist
ungöttlich, unmoralisch, „unmenschlich“, — wir haben sie uns
allzulange falsch und lügnerisch, aber nach Wunsch und Willen
unsrer Verehrung, das heisst nach einem Bedürfnisse
ausgelegt. Denn der Mensch ist ein verehrendes Thier! Aber er ist
auch ein misstrauisches: und dass die Welt nicht
das werth ist, was wir geglaubt haben, das ist ungefähr das
Sicherste, dessen unser Misstrauen endlich habhaft geworden ist.
So viel Misstrauen, so viel Philosophie. Wir hüten uns wohl zu
sagen, dass sie weniger
werth ist: es erscheint uns heute selbst zum Lachen, wenn der
Mensch in Anspruch nehmen wollte, Werthe zu erfinden, welche den
Werth der wirklichen Welt überragen
sollten, — gerade davon sind wir zurückgekommen als von einer
ausschweifenden Verirrung der menschlichen Eitelkeit und
Unvernunft, die lange nicht als solche erkannt worden ist. Sie hat
ihren letzten Ausdruck im modernen Pessimismus gehabt, einen
älteren, stärkeren in der Lehre des Buddha; aber auch das
Christenthum enthält sie, zweifelhafter freilich und zweideutiger,
aber darum nicht weniger verführerisch. Die ganze Attitüde „Mensch
gegen Welt“, der Mensch
als „Welt-verneinendes“ Princip, der Mensch als Werthmaass der
Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine
Wagschalen legt und zu leicht befindet — die ungeheuerliche
Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum
Bewusstsein gekommen und verleidet, — wir lachen schon, wenn wir
„Mensch und Welt“
nebeneinander gestellt finden, getrennt durch die sublime
Anmaassung des Wörtchens „und“! Wie aber? Haben wir nicht eben
damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung
des Menschen gemacht? Und also auch im Pessimismus, in der
Verachtung des uns
erkennbaren Daseins? Sind wir nicht eben damit dem Argwohne eines
Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir
bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren — um deren willen wir
vielleicht zu leben aushielten
—, und einer andren Welt, die wir
selber sind : einem unerbittlichen, gründlichen,
untersten Argwohn über uns selbst, der uns Europäer immer mehr,
immer schlimmer in Gewalt bekommt und leicht die kommenden
Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder stellen könnte:
„entweder schafft eure Verehrungen ab oder — euch
selbst !“ Das Letztere wäre der Nihilismus; aber wäre
nicht auch das Erstere — der Nihilismus? — Dies ist unser Fragezeichen.
347.
Die Gläubigen und ihr Bedürfniss nach Glauben .
— Wie viel einer Glauben
nöthig hat, um zu gedeihen, wie viel „Festes“, an dem er nicht
gerüttelt haben will, weil er sich daran hält ,
— ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder, deutlicher geredet,
seiner Schwäche). Christenthum haben, wie mir scheint, im alten
Europa auch heute noch die Meisten nöthig: desshalb findet es auch
immer noch Glauben. Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz
könnte ihm tausendfach widerlegt sein, — gesetzt, er hätte ihn
nöthig, so würde er ihn auch immer wieder für „wahr“ halten, —
gemäss jenem berühmten „Beweise der Kraft“, von dem die Bibel
redet. Metaphysik haben Einige noch nöthig; aber auch jenes
ungestüme Verlangen nach Gewissheit ,
welches sich heute in breiten Massen
wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus
etwas fest haben zu wollen
(während man es wegen der Hitze dieses Verlangens mit der
Begründung der Sicherheit leichter und lässlicher nimmt): auch das
ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze, kurz, jener Instinkt der Schwäche , welcher
Religionen, Metaphysiken, Ueberzeugungen aller Art zwar nicht
schafft, aber — conservirt. In der That dampft um alle diese
positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen
Verdüsterung, Etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung,
Furcht vor neuer Enttäuschung — oder aber zur Schau getragener
Ingrimm, schlechte Laune, Entrüstungs-Anarchismus und was es alles
für Symptome oder Maskeraden des Schwächegefühls giebt. Selbst die
Heftigkeit, mit der sich unsre gescheidtesten Zeitgenossen in
ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel in die
Vaterländerei (so heisse ich das, was man in Frankreich
chauvinisme, in Deutschland „deutsch“ nennt) oder in ästhetische
Winkel-Bekenntnisse nach Art des Pariser naturalisme (der von der
Natur nur den Theil hervorzieht und entblösst, welcher Ekel
zugleich und Erstaunen macht — man heisst diesen Theil heute gern
la verité vraie —) oder in Nihilismus nach Petersburger Muster
(das heisst in den Glauben an den
Unglauben , bis zum Martyrium dafür) zeigt immer
vorerst das Bedürfniss
nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt… Der Glaube ist immer dort
am meisten begehrt, am dringlichsten nöthig, wo es an Willen
fehlt: denn der Wille ist, als Affekt des Befehls, das
entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das
heisst, je weniger Einer zu befehlen weiss, um so dringlicher
begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem
Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen.
Woraus vielleicht abzunehmen wäre, dass die beiden Weltreligionen,
der Buddhismus und das Christenthum ihren Entstehungsgrund, ihr
plötzliches Um-sich-greifen zumal, in einer ungeheuren Erkrankung des Willens gehabt haben
möchten. Und so ist es in Wahrheit gewesen: beide Religionen
fanden ein durch Willens-Erkrankung in’s Unsinnige aufgethürmtes,
bis zur Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem „du sollst“
vor, beide Religionen waren Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten
der Willens-Erschlaffung und boten damit Unzähligen einen Halt,
eine neue Möglichkeit zu wollen, einen Genuss am Wollen. Der
Fanatismus ist nämlich die einzige „Willensstärke“, zu der auch
die Schwachen und Unsicheren gebracht werden können, als eine Art
Hypnotisirung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems zu
Gunsten der überreichlichen Ernährung (Hypertrophie) eines
einzelnen Gesichts- und Gefühlspunktes, der nunmehr dominirt — der
Christ heisst ihn seinen Glauben .
Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass ihm befohlen
werden muss , wird er
„gläubig“; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der
Selbstbestimmung, eine Freiheit
des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch
nach Gewissheit den Abschied giebt, geübt, wie er ist, auf
leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst
an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der freie Geist par excellence.
348.
Von der Herkunft der Gelehrten . —
Der Gelehrte wächst in Europa aus aller Art Stand und
gesellschaftlicher Bedingung heraus, als eine Pflanze, die keines
spezifischen Erdreichs bedarf: darum gehört er, wesentlich und
unfreiwillig, zu den Trägern des demokratischen Gedankens. Aber
diese Herkunft verräth sich. Hat man seinen Blick etwas dafür
eingeschult, an einem gelehrten Buche, einer wissenschaftlichen
Abhandlung die intellektuelle Idiosynkrasie
des Gelehrten — jeder Gelehrte hat eine solche — herauszuerkennen
und auf der That zu ertappen, so wird man fast immer hinter ihr
die „Vorgeschichte“ des Gelehrten, seine Familie, in Sonderheit
deren Berufsarten und Handwerke zu Gesicht bekommen. Wo das Gefühl
zum Ausdruck kommt „das ist nunmehr bewiesen, hiermit bin ich
fertig“, da ist es gemeinhin der Vorfahr im Blute und Instinkte
des Gelehrten, welcher von seinem Gesichtswinkel aus die „gemachte
Arbeit“ gutheisst, — der Glaube an den Beweis ist nur ein Symptom
davon, was in einem arbeitsamen Geschlechte von Alters her als
„gute Arbeit“ angesehn worden ist. Ein Beispiel: die Söhne von
Registratoren und Büreauschreibern jeder Art, deren Hauptaufgabe
immer war, ein vielfältiges Material zu ordnen, in Schubfächer zu
vertheilen, überhaupt zu schematisiren, zeigen, falls sie Gelehrte
werden, eine Vorneigung dafür, ein Problem beinahe damit für
gelöst zu halten, dass sie es schematisirt haben. Es giebt
Philosophen, welche im Grunde nur schematische Köpfe sind — ihnen
ist das Formale des väterlichen Handwerks zum Inhalte geworden.
Das Talent zu Classificationen, zu Kategorientafeln verräth Etwas;
man ist nicht ungestraft das Kind seiner Eltern. Der Sohn eines
Advokaten wird auch als Forscher ein Advokat sein müssen: er will
mit seiner Sache in erster Rücksicht Recht behalten, in zweiter,
vielleicht, Recht haben. Die Söhne von protestantischen
Geistlichen und Schullehrern erkennt man an der naiven Sicherheit,
mit der sie als Gelehrte ihre Sache schon als bewiesen nehmen,
wenn sie von ihnen eben erst nur herzhaft und mit Wärme
vorgebracht worden ist: sie sind eben gründlich daran gewöhnt,
dass man ihnen glaubt ,
— das gehörte bei ihren Vätern zum „Handwerk“! Ein Jude umgekehrt
ist, gemäss dem Geschäftskreis und der Vergangenheit seines Volks,
gerade daran — dass man ihm glaubt — am wenigsten gewöhnt: man
sehe sich darauf die jüdischen Gelehrten an, — sie Alle halten
grosse Stücke auf die Logik, das heisst auf das Erzwingen
der Zustimmung durch Gründe; sie wissen, dass sie mit ihr siegen
müssen, selbst wo Rassen- und Classen-Widerwille gegen sie
vorhanden ist, wo man ihnen ungern glaubt. Nichts nämlich ist
demokratischer als die Logik: sie kennt kein Ansehn der Person und
nimmt auch die krummen Nasen für gerade. (Nebenbei bemerkt: Europa
ist gerade in Hinsicht auf Logisirung, auf reinlichere
Kopf-Gewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die
Deutschen, als eine beklagenswerth deraisonnable Rasse, der man
auch heute immer noch zuerst „den Kopf zu waschen“ hat. Ueberall,
wo Juden zu Einfluss gekommen sind, haben sie ferner zu scheiden,
schärfer zu folgern, heller und sauberer zu schreiben gelehrt:
ihre Aufgabe war es immer, ein Volk „zur Raison“ zu bringen.)
349.
Noch einmal die Herkunft der Gelehrten .
— Sich selbst erhalten wollen ist der Ausdruck einer Nothlage,
einer Einschränkung des eigentlichen Lebens-Grundtriebes, der auf
Machterweiterung
hinausgeht und in diesem Willen oft genug die Selbsterhaltung in
Frage stellt und opfert. Man nehme es als symptomatisch, wenn
einzelne Philosophen, wie zum Beispiel der schwindsüchtige
Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb das
Entscheidende sahen, sehen mussten: — es waren eben Menschen in
Nothlagen. Dass unsre modernen Naturwissenschaften sich dermaassen
mit dem Spinozistischen Dogma verwickelt haben (zuletzt noch und
am gröbsten im Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen
Lehre vom „Kampf um’s Dasein“ —), das liegt wahrscheinlich an der
Herkunft der meisten Naturforscher: sie gehören in dieser Hinsicht
zum „Volk“, ihre Vorfahren waren arme und geringe Leute, welche
die Schwierigkeit, sich durchzubringen, allzusehr aus der Nähe
kannten. Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht Etwas
wie englische Uebervölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch
von Noth und Enge. Aber man sollte, als Naturforscher, aus seinem
menschlichen Winkel herauskommen: und in der Natur herrscht nicht die Nothlage, sondern
der Ueberfluss, die Verschwendung, sogar bis in’s Unsinnige. Der
Kampf um’s Dasein ist nur eine Ausnahme ,
eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse und
kleine Kampf dreht sich allenthalben um’s Uebergewicht, um
Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht,
der eben der Wille des Lebens ist.
350.
Zu Ehren der homines religiosi . —
Der Kampf gegen die Kirche ist ganz gewiss unter Anderem — denn er
bedeutet Vielerlei — auch der Kampf der gemeineren vergnügteren
vertraulicheren oberflächlicheren Naturen gegen die Herrschaft der
schwereren tieferen beschaulicheren, das heisst böseren und
argwöhnischeren Menschen, welche mit einem langen Verdachte über
den Werth des Daseins, auch über den eignen Werth brüteten: — der
gemeine Instinkt des Volkes, seine Sinnen-Lustigkeit, sein „gutes
Herz“ empörte sich gegen sie. Die ganze römische Kirche ruht auf
einem südländischen Argwohne über die Natur des Menschen, der vom
Norden aus immer falsch verstanden wird: in welchem Argwohne der
europäische Süden die Erbschaft des tiefen Orients, des uralten
geheimnissreichen Asien und seiner Contemplation gemacht hat.
Schon der Protestantismus ist ein Volksaufstand zu Gunsten der
Biederen, Treuherzigen, Oberflächlichen (der Norden war immer
gutmüthiger und flacher als der Süden); aber erst die französische
Revolution hat dem „guten Menschen“ das Scepter vollends und
feierlich in die Hand gegeben (dem Schaf, dem Esel, der Gans und
Allem, was unheilbar flach und Schreihals und reif für das
Narrenhaus der „modernen Ideen“ ist).
351.
Zu Ehren der priesterlichen Naturen .
— Ich denke, von dem, was das Volk unter Weisheit versteht (und
wer ist heute nicht „Volk“? —), von jener klugen kuhmässigen
Gemüthsstille, Frömmigkeit und Landpfarrer-Sanftmuth, welche auf
der Wiese liegt und dem Leben ernst und wiederkäuend zuschaut , — davon haben gerade die
Philosophen sich immer am fernsten gefühlt, wahrscheinlich weil
sie dazu nicht „Volk“ genug, nicht Landpfarrer genug waren. Auch
werden wohl sie gerade am spätesten daran glauben lernen, dass das
Volk Etwas von dem verstehn dürfte ,
was ihm am fernsten liegt, von der grossen Leidenschaft
des Erkennenden, der beständig in der Gewitterwolke der höchsten
Probleme und der schwersten Verantwortlichkeiten lebt, leben muss
(also ganz und gar nicht zuschauend, ausserhalb, gleichgültig,
sicher, objektiv…). Das Volk verehrt eine ganz andere Art Mensch,
wenn es seinerseits sich ein Ideal des „Weisen“ macht, und hat
tausendfach Recht dazu, gerade dieser Art Mensch mit den besten
Worten und Ehren zu huldigen: das sind die milden,
ernst-einfältigen und keuschen Priester-Naturen und was ihnen
verwandt ist, — denen gilt das Lob in jener Volks-Ehrfurcht vor
der Weisheit. Und wem hätte das Volk auch Grund, dankbarer sich zu
erweisen als diesen Männern, die zu ihm gehören und aus ihm
kommen, aber wie Geweihte, Ausgelesene, seinem Wohl Geopferte — sie selber glauben sich
Gott geopfert —, vor denen es ungestraft sein Herz ausschütten, an
die es seine Heimlichkeiten, seine Sorgen und Schlimmeres
loswerden kann (— denn der Mensch,
der „sich mittheilt“, wird sich selber los; und wer „bekannt“ hat,
vergisst). Hier gebietet eine grosse Nothdurft: es bedarf nämlich
auch für den seelischen Unrath der Abzugsgräben und der reinlichen
reinigenden Gewässer drin, es bedarf rascher Ströme der Liebe und
starker demüthiger reiner Herzen, die zu einem solchen Dienste der
nicht-öffentlichen Gesundheitspflege sich bereit machen und opfern
— denn es ist eine
Opferung, ein Priester ist und bleibt ein Menschenopfer… Das Volk
empfindet solche geopferte stillgewordne ernste Menschen des
„Glaubens“ als weise ,
das heisst als Wissend-Gewordene, als „Sichere“ im Verhältniss zur
eigenen Unsicherheit: wer würde ihm das Wort und diese Ehrfurcht
nehmen mögen? — Aber, wie es umgekehrt billig ist, unter
Philosophen gilt auch ein Priester immer noch als „Volk“ und
nicht als Wissender, vor Allem,
weil sie selbst nicht an „Wissende“ glauben und eben in diesem
Glauben und Aberglauben schon „Volk“ riechen. Die Bescheidenheit war es, welche in
Griechenland das Wort „Philosoph“ erfunden hat und den
prachtvollen Uebermuth, sich weise zu nennen, den Schauspielern
des Geistes überliess, — die Bescheidenheit solcher Ungethüme von
Stolz und Selbstherrlichkeit, wie Pythagoras, wie Plato —.
352.
Inwiefern Moral kaum entbehrlich ist .
— Der nackte Mensch ist im Allgemeinen ein schändlicher Anblick —
ich rede von uns Europäern (und nicht einmal von den
Europäerinnen!) Angenommen, die froheste Tischgesellschaft sähe
sich plötzlich durch die Tücke eines Zauberers enthüllt und
ausgekleidet, ich glaube, dass nicht nur der Frohsinn dahin und
der stärkste Appetit entmuthigt wäre, — es scheint, wir Europäer
können jener Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung
heisst. Sollte aber die Verkleidung der „moralischen Menschen“,
ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe, das
ganze wohlwollende Verstecken unserer Handlungen unter die
Begriffe Pflicht, Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit,
Selbstverleugnung nicht seine ebenso guten Gründe haben? Nicht
dass ich vermeinte, hierbei sollte etwa die menschliche Bosheit
und Niederträchtigkeit, kurz das schlimme wilde Thier in uns
vermummt werden; mein Gedanke ist umgekehrt, dass wir gerade als
zahme Thiere ein schändlicher
Anblick sind und die Moral-Verkleidung brauchen, — dass der
„inwendige Mensch“ in Europa eben lange nicht schlimm genug ist,
um sich damit „sehen lassen“ zu können (um damit schön
zu sein —). Der Europäer verkleidet sich in
die Moral , weil er ein krankes, kränkliches,
krüppelhaftes Thier geworden ist, das gute Gründe hat, „zahm“ zu
sein, weil er beinahe eine Missgeburt, etwas Halbes, Schwaches,
Linkisches ist… Nicht die Furchtbarkeit des Raubthiers findet eine
moralische Verkleidung nöthig, sondern das Heerdenthier mit seiner
tiefen Mittelmässigkeit, Angst und Langenweile an sich selbst.
Moral putzt den Europäer auf —
gestehen wir es ein! — in’s Vornehmere, Bedeutendere,
Ansehnlichere, in’s „Göttliche“ —
353.
Vom Ursprung der Religionen . — Die
eigentliche Erfindung der Religionsstifter ist einmal: eine
bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte anzusetzen, welche als
disciplina voluntatis wirkt und zugleich die Langeweile
wegschafft; sodann: gerade diesem Leben eine Interpretation
zu geben, vermöge deren es vom höchsten Werthe umleuchtet scheint,
so dass es nunmehr zu einem Gute wird, für das man kämpft und,
unter Umständen, sein Leben lässt. In Wahrheit ist von diesen zwei
Erfindungen die zweite die wesentlichere: die erste, die
Lebensart, war gewöhnlich schon da, aber neben andren Lebensarten
und ohne Bewusstsein davon, was für ein Werth ihr innewohne. Die
Bedeutung, die Originalität des Religionsstifters kommt gewöhnlich
darin zu Tage, dass er sie sieht ,
dass er sie auswählt ,
dass er zum ersten Male erräth ,
wozu sie gebraucht, wie sie interpretirt werden kann. Jesus (oder
Paulus) zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der
römischen Provinz vor, ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes
Leben: er legte es aus, er legte den höchsten Sinn und Werth
hinein — und damit den Muth, jede andre Art Leben zu verachten,
den stillen Herrenhuter-Fanatismus, das heimliche unterirdische
Selbstvertrauen, welches wächst und wächst und endlich bereit ist,
„die Welt zu überwinden“ (das heisst Rom und die höheren Stände im
ganzen Reiche). Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor, und
zwar zerstreut unter alle Stände und gesellschaftliche Stufen
seines Volks, welche aus Trägheit gut und gütig (vor Allem
inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe
bedürfnisslos leben: er verstand, wie eine solche Art Menschen mit
Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben
hineinrollen müsse, der die Wiederkehr der irdischen Mühsal (das
heisst der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu verhüten
verspricht, — dies „Verstehen“ war sein Genie. Zum
Religionsstifter gehört psychologische Unfehlbarkeit im Wissen um
eine bestimmte Durchschnitts-Art von Seelen, die sich noch nicht
als zusammengehörig erkannt
haben. Er ist es, der sie zusammenbringt; die Gründung einer
Religion wird insofern immer zu einem langen Erkennungs-Feste. —
354.
Vom „Genius der Gattung“ . — Das
Problem des Bewusstseins (richtiger: des Sich-Bewusst-Werdens)
tritt erst dann vor uns hin, wenn wir zu begreifen anfangen,
inwiefern wir seiner entrathen könnten: und an diesen Anfang des
Begreifens stellt uns jetzt Physiologie und Thiergeschichte
(welche also zwei Jahrhunderte nöthig gehabt haben, um den
vorausfliegenden Argwohn Leibnitzens
einzuholen). Wir könnten nämlich denken, fühlen, wollen, uns
erinnern, wir könnten ebenfalls „handeln“ in jedem Sinne des
Wortes: und trotzdem brauchte das Alles nicht uns „in’s
Bewusstsein zu treten“ (wie man im Bilde sagt). Das ganze Leben
wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe: wie ja
thatsächlich auch jetzt noch bei uns der bei weitem überwiegende
Theil dieses Lebens sich ohne diese Spiegelung abspielt —, und
zwar auch unsres denkenden, fühlenden, wollenden Lebens, so
beleidigend dies einem älteren Philosophen klingen mag. Wozu überhaupt Bewusstsein, wenn es in
der Hauptsache überflüssig
ist? — Nun scheint mir, wenn man meiner Antwort auf diese Frage
und ihrer vielleicht ausschweifenden Vermuthung Gehör geben will,
die Feinheit und Stärke des Bewusstseins immer im Verhältniss zur
Mittheilungs-Fähigkeit
eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mittheilungs-Fähigkeit
wiederum im Verhältniss zur Mittheilungs-Bedürftigkeit :
letzteres nicht so verstanden, als ob gerade der einzelne Mensch
selbst, welcher gerade Meister in der Mittheilung und
Verständlichmachung seiner Bedürfnisse ist, zugleich auch mit
seinen Bedürfnissen am meisten auf die Andern angewiesen sein
müsste. Wohl aber scheint es mir so in Bezug auf ganze Rassen und
Geschlechter-Ketten zu stehn: wo das Bedürfniss, die Noth die
Menschen lange gezwungen hat, sich mitzutheilen, sich gegenseitig
rasch und fein zu verstehen, da ist endlich ein Ueberschuss dieser
Kraft und Kunst der Mittheilung da, gleichsam ein Vermögen, das
sich allmählich aufgehäuft hat und nun eines Erben wartet, der es
verschwenderisch ausgiebt (— die sogenannten Künstler sind diese
Erben, insgleichen die Redner, Prediger, Schriftsteller, Alles
Menschen, welche immer am Ende einer langen Kette kommen,
„Spätgeborne“ jedes Mal, im besten Verstande des Wortes, und, wie
gesagt, ihrem Wesen nach Verschwender ).
Gesetzt, diese Beobachtung ist richtig, so darf ich zu der
Vermuthung weitergehn, dass Bewusstsein
überhaupt sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses
entwickelt hat , — dass es von vornherein nur zwischen
Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und Gehorchenden in
Sonderheit) nöthig war, nützlich war, und auch nur im Verhältniss
zum Grade dieser Nützlichkeit sich entwickelt hat. Bewusstsein ist
eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch, —
nur als solches hat es sich entwickeln müssen: der einsiedlerische
und raubthierhafte Mensch hätte seiner nicht bedurft. Dass uns
unsre Handlungen, Gedanken, Gefühle, Bewegungen selbst in’s
Bewusstsein kommen — wenigstens ein Theil derselben —, das ist die
Folge eines furchtbaren langen über dem Menschen waltenden „Muss“:
er brauchte , als das
gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines-Gleichen, er
musste seine Noth auszudrücken, sich verständlich zu machen wissen
— und zu dem Allen hatte er zuerst „Bewusstsein“ nöthig, also
selbst zu „wissen“ was ihm fehlt, zu „wissen“, wie es ihm zu Muthe
ist, zu „wissen“, was er denkt. Denn nochmals gesagt: der Mensch,
wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht;
das bewusst werdende
Denken ist nur der kleinste Theil davon, sagen wir: der
oberflächlichste, der schlechteste Theil: — denn allein dieses
bewusste Denken geschieht in Worten,
das heisst in Mittheilungszeichen , womit sich die
Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die
Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins ( nicht der Vernunft, sondern allein des
Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. Man nehme
hinzu, dass nicht nur die Sprache zur Brücke zwischen Mensch und
Mensch dient, sondern auch der Blick, der Druck, die Gebärde; das
Bewusstwerden unserer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft,
sie fixiren zu können und gleichsam ausser uns zu stellen, hat in
dem Maasse zugenommen, als die Nöthigung wuchs, sie Andern durch Zeichen zu übermitteln.
Der Zeichen-erfindende Mensch ist zugleich der immer schärfer
seiner selbst bewusste Mensch; erst als sociales Thier lernte der
Mensch seiner selbst bewusst werden, — er thut es noch, er thut es
immer mehr. — Mein Gedanke ist, wie man sieht: dass das
Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen
gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und
Heerden-Natur ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug
auf Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt ist,
und dass folglich Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst
so individuell wie möglich zu verstehen ,
„sich selbst zu kennen“, doch immer nur gerade das
Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein
„Durchschnittliches“, — dass unser Gedanke selbst fortwährend
durch den Charakter des Bewusstseins — durch den in ihm
gebietenden „Genius der Gattung“ — gleichsam majorisirt
und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird. Unsre
Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine unvergleichliche
Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein
Zweifel; aber sobald wir sie in’s Bewusstsein übersetzen,
scheinen sie es nicht mehr … Diess
ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie
ich ihn verstehe: die Natur des
thierischen Bewusstseins bringt es
mit sich, das die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine
Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine
vergemeinerte Welt, — dass Alles, was bewusst wird, ebendamit
flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen
wird , dass mit allem
Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung,
Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist
das wachsende Bewusstsein eine Gefahr; und wer unter den
bewusstesten Europäern lebt, weiss sogar, dass es eine Krankheit
ist. Es ist, wie man erräth, nicht der Gegensatz von Subjekt und
Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich
den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik
(der Volks-Metaphysik) hängen geblieben sind. Es ist erst recht
nicht der Gegensatz von „Ding an sich“ und Erscheinung: denn wir
„erkennen“ bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar
kein Organ für das Erkennen ,
für die „Wahrheit“: wir „wissen“ (oder glauben oder bilden uns
ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Heerde, der
Gattung, nützlich sein
mag: und selbst, was hier „Nützlichkeit“ genannt wird, ist zuletzt
auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene
verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn.
355.
Der Ursprung unsres Begriffs „Erkenntniss“ .
— Ich nehme diese Erklärung von der Gasse; ich hörte Jemanden aus
dem Volke sagen „er hat mich erkannt“ —: dabei fragte ich mich:
was versteht eigentlich das Volk unter Erkenntniss? was will es,
wenn es „Erkenntniss“ will? Nichts weiter als dies: etwas Fremdes
soll auf etwas Bekanntes
zurückgeführt werden. Und wir Philosophen — haben wir unter
Erkenntniss eigentlich mehr
verstanden? Das Bekannte, das heisst: das woran wir gewöhnt sind,
so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend
eine Regel, in der wir stecken, Alles und Jedes, in dem wir uns zu
Hause wissen: — wie? ist unser Bedürfniss nach Erkennen nicht eben
dies Bedürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden,
Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr
beunruhigt? Sollte es nicht der Instinkt
der Furcht sein, der uns erkennen heisst? Sollte das
Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder
erlangten Sicherheitsgefühls sein?… Dieser Philosoph wähnte die
Welt „erkannt“, als er sie auf die „Idee“ zurückgeführt hatte:
ach, war es nicht deshalb, weil ihm die „Idee“ so bekannt, so
gewohnt war? weil er sich so wenig mehr vor der „Idee“ fürchtete?
— Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden! man sehe sich doch
ihre Principien und Welträthsel-Lösungen darauf an! Wenn sie Etwas
an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfinden,
das uns leider sehr bekannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins
oder unsre Logik oder unser Wollen und Begehren, wie glücklich
sind sie sofort! Denn „was bekannt ist, ist erkannt“: darin
stimmen sie überein. Auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen,
zum Mindesten sei das Bekannte leichter
erkennbar als das Fremde; es sei zum Beispiel
methodisch geboten, von der „inneren Welt“, von den „Thatsachen
des Bewusstseins“ auszugehen, weil sie die uns
bekanntere Welt sei! Irrthum der Irrthümer! Das
Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu
„erkennen“, das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd,
als fern, als „ausser uns“ zu sehn… Die grosse Sicherheit der
natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und
Kritik der Bewusstseins-Elemente — unnatürlichen
Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte — ruht gerade darauf,
dass sie das Fremde als
Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchsvolles und
Widersinniges ist, das Nicht-Fremde überhaupt als Objekt nehmen zu
wollen …
356.
Inwiefern es in Europa immer „künstlerischer“
zugehn wird . — Die Lebens-Fürsorge zwingt auch heute
noch — in unsrer Uebergangszeit, wo so Vieles aufhört zu zwingen —
fast allen männlichen Europäern eine bestimmte Rolle
auf, ihren sogenannten Beruf; Einigen bleibt dabei die Freiheit,
eine anscheinende Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den
Meisten wird sie gewählt. Das Ergebniss ist seltsam genug: fast
alle Europäer verwechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit
ihrer Rolle, sie selbst sind die Opfer ihres „guten Spiels“, sie
selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür damals
über sie verfügt haben, als sich ihr „Beruf“ entschied — und wie
viele andre Rollen sie vielleicht hätten spielen können :
denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer angesehn, ist aus der Rolle
wirklich Charakter geworden ,
aus der Kunst Natur. Es gab Zeitalter, in denen man mit steifer
Zuversichtlichkeit, ja mit Frömmigkeit an seine Vorherbestimmung
für gerade dies Geschäft, gerade diesen Broderwerb glaubte und den
Zufall darin, die Rolle, das Willkürliche schlechterdings nicht
anerkennen wollte: Stände, Zünfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte
haben mit Hülfe dieses Glaubens es zu Stande gebracht, jene
Ungeheuer von breiten Gesellschafts-Thürmen aufzurichten, welche
das Mittelalter auszeichnen und denen jedenfalls Eins nachzurühmen
bleibt: Dauerfähigkeit (— und Dauer ist auf Erden ein Werth ersten
Ranges!). Aber es giebt umgekehrte Zeitalter, die eigentlich
demokratischen, wo man diesen Glauben mehr und mehr verlernt und
ein gewisser kecker Glaube und Gesichtspunkt des Gegentheils in
den Vordergrund tritt, jener Athener-Glaube, der in der Epoche des
Perikles zuerst bemerkt wird, jener Amerikaner-Glaube von heute,
der immer mehr auch Europäer-Glaube werden will: wo der Einzelne
überzeugt ist, ungefähr Alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo Jeder
mit sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit Lust versucht,
wo alle Natur aufhört und Kunst wird… Die Griechen, erst in diesen
Rollen-Glauben — einen
Artisten-Glauben, wenn man will — eingetreten, machten, wie
bekannt, Schritt für Schritt eine wunderliche und nicht in jedem
Betracht nachahmenswerthe Verwandlung durch: sie
wurden wirklich Schauspieler ; als solche bezauberten
sie, überwanden sie alle Welt und zuletzt selbst die
„Weltüberwinderin“ (denn der Graeculus histrio hat Rom besiegt,
und nicht , wie die
Unschuldigen zu sagen pflegen, die griechische Cultur…). Aber was
ich fürchte, was man heute schon mit Händen greift, falls man Lust
hätte, darnach zu greifen, wir modernen Menschen sind ganz schon
auf dem gleichen Wege; und jedes Mal, wenn der Mensch anfängt zu
entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er
Schauspieler sein kann, wird
er Schauspieler… Damit kommt dann eine neue Flora und Fauna von
Menschen herauf, die in festeren, beschränkteren Zeitaltern nicht
wachsen können — oder „unten“ gelassen werden, unter dem Banne und
Verdachte der Ehrlosigkeit —, es kommen damit jedes Mal die
interessantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte herauf, in
denen die „Schauspieler“, alle
Arten Schauspieler, die eigentlichen Herren sind. Eben dadurch
wird eine andre Gattung Mensch immer tiefer benachtheiligt,
endlich unmöglich gemacht, vor Allem die grossen „Baumeister“;
jetzt erlahmt die bauende Kraft; der Muth, auf lange Fernen hin
Pläne zu machen, wird entmuthigt; die organisatorischen Genies
fangen an zu fehlen: — wer wagt es nunmehr noch, Werke zu
unternehmen, zu deren Vollendung man auf Jahrtausende rechnen müsste? Es stirbt eben jener
Grundglaube aus, auf welchen hin Einer dergestalt rechnen,
versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen, seinem Plane zum
Opfer bringen kann, dass nämlich der Mensch nur insofern Werth
hat, Sinn hat, als er ein Stein in
einem grossen Baue ist: wozu er zuallererst
fest sein muss, „Stein“ sein muss…
Vor Allem nicht — Schauspieler! Kurz gesagt — ach, es wird lang
genug noch verschwiegen werden! — was von nun an nicht mehr gebaut
wird, nicht mehr gebaut werden kann ,
das ist — eine Gesellschaft im alten Verstande des Wortes; um
diesen Bau zu bauen, fehlt Alles, voran das Material. Wir Alle sind kein Material mehr für eine
Gesellschaft : das ist eine Wahrheit, die an der Zeit
ist! Es dünkt mich gleichgültig, dass einstweilen noch die
kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art
Mensch, die es heute giebt, unsre Herrn Socialisten, ungefähr das
Gegentheil glaubt, hofft, träumt, vor Allem schreit und schreibt;
man liest ja ihr Zukunftswort „freie Gesellschaft“ bereits auf
allen Tischen und Wänden. Freie Gesellschaft? Ja! Ja! Aber ihr
wisst doch, ihr Herren, woraus man die baut? Aus hölzernem Eisen!
Aus dem berühmten hölzernen Eisen! Und noch nicht einmal aus
hölzernem…
357.
Zum alten Probleme: „was ist deutsch?“
— Man rechne bei sich die eigentlichen Errungenschaften des
philosophischen Gedankens nach, welche deutschen Köpfen verdankt
werden: sind sie in irgend einem erlaubten Sinne auch noch der
ganzen Rasse zu Gute zu rechnen? Dürfen wir sagen: sie sind
zugleich das Werk der „deutschen Seele“, mindestens deren Symptom,
in dem Sinne, in welchem wir etwa Plato’s Ideomanie, seinen fast
religiösen Formen-Wahnsinn zugleich als ein Ereigniss und Zeugniss
der „griechischen Seele“ zu nehmen gewohnt sind? Oder wäre das
Umgekehrte wahr? wären sie gerade so individuell, so sehr
Ausnahme vom Geiste der Rasse, wie
es zum Beispiel Goethe’s Heidenthum mit gutem Gewissen war? Oder
wie es Bismarck’s Macchiavellismus mit gutem Gewissen, seine
sogenannte „Realpolitik“, unter Deutschen ist? Widersprächen unsre
Philosophen vielleicht sogar dem Bedürfnisse
der „deutschen Seele“? Kurz, waren die deutschen Philosophen
wirklich — philosophische Deutsche ?
— Ich erinnere an drei Fälle. Zuerst an Leibnitzens
unvergleichliche Einsicht, mit der er nicht nur gegen Descartes,
sondern gegen Alles, was bis zu ihm philosophirt hatte, Recht
bekam, — dass die Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung
ist, nicht deren
nothwendiges und wesentliches Attribut, dass also das, was wir
Bewusstsein nennen, nur einen Zustand unsrer geistigen und
seelischen Welt ausmacht (vielleicht einen krankhaften Zustand)
und bei weitem nicht sie selbst :
— ist an diesem Gedanken, dessen Tiefe auch heute noch nicht
ausgeschöpft ist, etwas Deutsches? Giebt es einen Grund zu
muthmaassen, dass nicht leicht ein Lateiner auf diese Umdrehung
des Augenscheins verfallen sein würde? — denn es ist eine
Umdrehung. Erinnern wir uns zweitens an Kant’s
ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff „Causalität“
schrieb, — nicht dass er wie Hume dessen Recht überhaupt
bezweifelt hätte: er begann vielmehr vorsichtig das Reich
abzugrenzen, innerhalb dessen dieser Begriff überhaupt Sinn hat
(man ist auch jetzt noch nicht mit dieser Grenzabsteckung fertig
geworden). Nehmen wir drittens den erstaunlichen Griff Hegel’s , der damit durch alle logischen
Gewohnheiten und Verwöhnungen durchgriff, als er zu lehren wagte,
dass die Artbegriffe sich aus
einander entwickeln: mit welchem Satze die Geister in
Europa zur letzten grossen wissenschaftlichen Bewegung präformirt
wurden, zum Darwinismus — denn ohne Hegel kein Darwin. Ist an
dieser Hegelschen Neuerung, die erst den entscheidenden Begriff
„Entwicklung“ in die Wissenschaft gebracht hat, etwas Deutsches? —
Ja, ohne allen Zweifel: in allen drei Fällen fühlen wir Etwas von
uns selbst „aufgedeckt“ und errathen und sind dankbar dafür und
überrascht zugleich, jeder dieser drei Sätze ist ein
nachdenkliches Stück deutscher Selbsterkenntniss, Selbsterfahrung,
Selbsterfassung. „Unsre innre Welt ist viel reicher, umfänglicher,
verborgener“, so empfinden wir mit Leibnitz; als Deutsche zweifeln
wir mit Kant an der Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse und überhaupt an Allem, was sich causaliter erkennen
lässt : das Erkenn bare scheint uns als solches schon
geringeren Werthes. Wir Deutsche
sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte,
insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der
Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Werth
zumessen als dem, was „ist“ — wir glauben kaum an die Berechtigung
des Begriffs „Sein“ —; ebenfalls insofern wir unsrer menschlichen
Logik nicht geneigt sind einzuräumen, dass sie die Logik an sich,
die einzige Art Logik sei (wir möchten vielmehr uns überreden,
dass sie nur ein Spezialfall sei, und vielleicht einer der
wunderlichsten und dümmsten —). Eine vierte Frage wäre, ob auch
Schopenhauer mit seinem
Pessimismus, das heisst dem Problem vom Werth
des Daseins , gerade ein Deutscher gewesen sein
müsste. Ich glaube nicht. Das Ereigniss, nach
welchem dies Problem mit Sicherheit zu erwarten stand, so dass ein
Astronom der Seele Tag und Stunde dafür hätte ausrechnen können,
der Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott, der Sieg des
wissenschaftlichen Atheismus, ist ein gesammt-europäisches
Ereigniss, an dem alle Rassen ihren Antheil von Verdienst und Ehre
haben sollen. Umgekehrt wäre gerade den Deutschen zuzurechnen —
jenen Deutschen, mit welchen Schopenhauer gleichzeitig lebte —,
diesen Sieg des Atheismus am längsten und gefährlichsten
verzögert zu haben; Hegel
namentlich war sein Verzögerer par excellence, gemäss dem
grandiosen Versuche, den er machte, uns zur Göttlichkeit des
Daseins zu allerletzt noch mit Hülfe unsres sechsten Sinnes, des
„historischen Sinnes“ zu überreden. Schopenhauer war als Philosoph
der erste
eingeständliche und unbeugsame Atheist, den wir Deutschen gehabt
haben: seine Feindschaft gegen Hegel hatte hier ihren Hintergrund.
Die Ungöttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes,
Greifliches, Undiskutirbares; er verlor jedes Mal seine
Philosophen-Besonnenheit und gerieth in Entrüstung, wenn er
Jemanden hier zögern und Umschweife machen sah. An dieser Stelle
liegt seine ganze Rechtschaffenheit: der unbedingte redliche
Atheismus ist eben die Voraussetzung
seiner Problemstellung, als ein endlich und schwer errungener Sieg
des europäischen Gewissens, als der folgenreichste Akt einer
zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich
die Lüge im Glauben an
Gott verbietet… Man sieht, was
eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche
Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der
Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen
Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen
Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur
ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes
sei; die Geschichte interpretiren zu Ehren einer göttlichen
Vernunft, als beständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung
und sittlicher Schlussabsichten; die eigenen Erlebnisse auslegen,
wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob
Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe
ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei ,
das hat das Gewissen gegen
sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich,
als Lügnerei, Femininismus, Schwachheit, Feigheit, — mit dieser
Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben gute
Europäer und Erben von Europa’s längster und tapferster
Selbstüberwindung. Indem wir die christliche Interpretation
dergestalt von uns stossen und ihren „Sinn“ wie eine
Falschmünzerei verurtheilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare
Weise die Schopenhauerische
Frage zu uns: hat denn das Dasein
überhaupt einen Sinn? — jene Frage, die ein paar
Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und in alle
ihre Tiefe hinein gehört zu werden. Was Schopenhauer selbst auf
diese Frage geantwortet hat, war — man vergebe es mir — etwas
Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und
Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen
Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, der Glaube gekündigt war … Aber er hat
die Frage gestellt —
als ein guter Europäer, wie gesagt, und nicht
als Deutscher. — Oder hätten etwa die Deutschen, wenigstens mit
der Art, in welcher sie sich der Schopenhauerischen Frage
bemächtigten, ihre innere Zugehörigkeit und Verwandtschaft, ihre
Vorbereitung, ihr Bedürfniss
nach seinem Problem bewiesen? Dass nach Schopenhauer auch in
Deutschland — übrigens spät genug! — über das von ihm aufgestellte
Problem gedacht und gedruckt worden ist, reicht gewiss nicht aus,
zu Gunsten dieser engeren Zugehörigkeit zu entscheiden; man könnte
selbst die eigenthümliche Ungeschicktheit
dieses Nach-Schopenhauerischen Pessimismus dagegen geltend machen,
— die Deutschen benahmen sich ersichtlich nicht dabei wie in ihrem
Elemente. Hiermit spiele ich ganz und gar nicht auf Eduard von
Hartmann an; im Gegentheil, mein alter Verdacht ist auch heute
noch nicht gehoben, dass er für uns zu
geschickt ist, ich will sagen, dass er als arger
Schalk von Anbeginn sich vielleicht nicht nur über den deutschen
Pessimismus lustig gemacht hat, — dass er am Ende etwa gar es den
Deutschen testamentarisch „vermachen“ könnte, wie weit man sie
selbst, im Zeitalter der Gründungen, hat zum Narren haben können.
Aber ich frage: soll man vielleicht den alten Brummkreisel Bahnsen
den Deutschen zu Ehren rechnen, der sich mit Wollust sein Leben
lang um sein realdialektisches Elend und „persönliches Pech“
gedreht hat, — wäre etwa das gerade deutsch? (ich empfehle anbei
seine Schriften, wozu ich sie selbst gebraucht habe, als
antipessimistische Kost, namentlich um seiner elegantiae
psychologicae willen, mit denen, wie mich dünkt, auch dem
verstopftesten Leibe und Gemüthe beizukommen ist). Oder dürfte man
solche Dilettanten und alte Jungfern, wie den süsslichen
Virginitäts-Apostel Mainländer unter die rechten Deutschen zählen?
Zuletzt wird es ein Jude gewesen sein (— alle Juden werden
süsslich, wenn sie moralisiren). Weder Bahnsen, noch Mainländer,
noch gar Eduard von Hartmann geben eine sichere Handhabe für die
Frage ab, ob der Pessimismus Schopenhauer’s, sein entsetzter Blick
in eine entgöttlichte, dumm, blind, verrückt und fragwürdig
gewordene Welt, sein ehrliches
Entsetzen… nicht nur ein Ausnahme-Fall unter Deutschen, sondern
ein deutsches Ereigniss
gewesen ist: während Alles, was sonst im Vordergrunde steht, unsre
tapfre Politik, unsre fröhliche Vaterländerei, welche entschlossen
genug alle Dinge auf ein wenig philosophisches Princip hin
(„Deutschland, Deutschland über Alles“) betrachtet, also sub
specie speciei, nämlich der deutschen species, mit grosser
Deutlichkeit das Gegentheil bezeugt. Nein! die Deutschen von heute
sind keine Pessimisten!
Und Schopenhauer war Pessimist, nochmals gesagt, als guter
Europäer und nicht als
Deutscher. —
358.
Der Bauernaufstand des Geistes . —
Wir Europäer befinden uns im Anblick einer ungeheuren Trümmerwelt,
wo Einiges noch hoch ragt, wo Vieles morsch und unheimlich
dasteht, das Meiste aber schon am Boden liegt, malerisch genug —
wo gab es je schönere Ruinen? — und überwachsen mit grossem und
kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir
sehen die religiöse Gesellschaft des Christenthums bis in die
untersten Fundamente erschüttert, — der Glaube an Gott ist
umgestürzt, der Glaube an das christlich-aketische Ideal kämpft
eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches lang und gründlich
gebautes Werk wie das Christenthum — es war der letzte Römerbau! —
konnte freilich nicht mit Einem Male zerstört werden; alle Art
Erdbeben hat da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, nagt,
feuchtet, hat da helfen müssen. Aber was das Wunderlichste ist:
Die, welche sich am meisten darum bemüht haben, das Christenthum
zu halten, zu erhalten, sind gerade seine besten Zerstörer
geworden, — die Deutschen. Es scheint, die Deutschen verstehen das
Wesen einer Kirche nicht. Sind sie dazu nicht geistig genug? nicht
misstrauisch genug? Der Bau der Kirche ruht jedenfalls auf einer
südländischen Freiheit und
Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen
Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist, — er ruht auf einer ganz
andren Kenntniss des Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der
Norden gehabt hat. Die Lutherische Reformation war in ihrer ganzen
Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas „Vielfältiges“, um
vorsichtig zu reden, ein grobes biederes Missverständniss, an dem
Viel zu verzeihen ist, — man begriff den Ausdruck einer siegreichen Kirche nicht und sah nur
Corruption, man missverstand die vornehme Skepsis, jenen
Luxus von Skepsis und Toleranz,
welchen sich jede siegreiche selbstgewisse Macht gestattet… Man
übersieht heute gut genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen
der Macht verhängnissvoll kurz, oberflächlich, unvorsichtig
angelegt war, vor Allem als Mann aus dem Volke, dem alle Erbschaft
einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abgieng: so
dass sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes
Römer-Werks, ohne dass er es wollte und wusste, nur der Anfang
eines Zerstörungswerks wurde. Er dröselte auf, er riss zusammen,
mit ehrlichem Ingrimme, wo die alte Spinne am sorgsamsten und
längsten gewoben hatte. Er lieferte die heiligen Bücher an
Jedermann aus, — damit geriethen sie endlich in die Hände der
Philologen, das heisst der Vernichter jeden Glaubens, der auf
Büchern ruht. Er zerstörte den Begriff „Kirche“, indem er den
Glauben an die Inspiration der Concilien wegwarf: denn nur unter
der Voraussetzung, dass der inspirirende Geist, der die Kirche
gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue, noch fortfahre, sein
Haus zu bauen, behält der Begriff „Kirche“ Kraft. Er gab dem
Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe zurück: aber drei
Viertel der Ehrfurcht, deren das Volk, vor Allem das Weib aus dem
Volke fähig ist, ruht auf dem Glauben, dass ein Ausnahme-Mensch in
diesem Punkte auch in andren Punkten eine Ausnahme sein wird, —
hier gerade hat der Volksglaube an etwas Uebermenschliches im
Menschen, an das Wunder, an den erlösenden Gott im Menschen,
seinen feinsten und verfänglichsten Anwalt. Luther musste dem
Priester, nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte
nehmen , das war
psychologisch richtig: aber damit war im Grunde der christliche
Priester selbst abgeschafft, dessen tiefste Nützlichkeit immer die
gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein
Grab für Geheimnisse zu sein. „Jedermann sein eigner Priester“ —
hinter solchen Formeln und ihrer bäurischen Verschlagenheit
versteckte sich bei Luther der abgründliche Hass auf den „höheren
Menschen“ und die Herrschaft des „höheren Menschen“, wie ihn die
Kirche concipirt hatte: — er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu
erreichen wusste, während er die Entartung dieses Ideals zu
bekämpfen und zu verabscheuen schien. Thatsächlich stiess er, der
unmögliche Mönch, die Herrschaft
der homines religiosi von sich; er machte also gerade Das selber
innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er in
Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte, —
einen „Bauernaufstand“. — Was hinterdrein Alles aus seiner
Reformation gewachsen ist, Gutes und Schlimmes, und heute ungefähr
überrechnet werden kann, — wer wäre wohl naiv genug, Luthern um
dieser Folgen willen einfach zu loben oder zu tadeln? Er ist an
Allem unschuldig, er wusste nicht was er that. Die Verflachung des
europäischen Geistes, namentlich im Norden, seine Vergutmüthigung , wenn man’s lieber mit
einem moralischen Worte bezeichnet hört, that mit der Lutherischen
Reformation einen tüchtigen Schritt vorwärts, es ist kein Zweifel;
und ebenso wuchs durch sie die Beweglichkeit und Unruhe des
Geistes, sein Durst nach Unabhängigkeit, sein Glaube an ein Recht
auf Freiheit, seine „Natürlichkeit“. Will man ihr in letzterer
Hinsicht den Werth zugestehn, Das vorbereitet und begünstigt zu
haben, was wir heute als „moderne Wissenschaft“ verehren, so muss
man freilich hinzufügen, dass sie auch an der Entartung des
modernen Gelehrten mitschuldig ist, an seinem Mangel an Ehrfurcht,
Scham und Tiefe, an der ganzen naiven Treuherzigkeit und
Biedermännerei in Dingen der Erkenntniss, kurz an jenem Plebejismus des Geistes , der den
letzten beiden Jahrhunderten eigenthümlich ist und von dem uns
auch der bisherige Pessimismus noch keineswegs erlöst hat, — auch
die „modernen Ideen“ gehören noch zu diesem Bauernaufstand des
Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, misstrauischeren Geist
des Südens, der sich in der christlichen Kirche sein grösstes
Denkmal gebaut hat. Vergessen wir es zuletzt nicht, was eine
Kirche ist, und zwar im Gegensatz zu jedem „Staate“: eine Kirche
ist vor Allem ein Herrschafts-Gebilde, das den geistigeren
Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der
Geistigkeit soweit glaubt ,
um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten, — damit allein
ist die Kirche unter allen Umständen eine vornehmere
Institution als der Staat. —
359.
Die Rache am Geist und andere Hintergründe der
Moral . — Die Moral — wo glaubt ihr wohl, dass sie
ihre gefährlichsten und tückischsten Anwälte hat?… Da ist ein
missrathener Mensch, der nicht genug Geist besitzt, um sich dessen
freuen zu können, und gerade Bildung genug, um das zu wissen;
gelangweilt, überdrüssig, ein Selbstverächter; durch etwas
ererbtes Vermögen leider noch um den letzten Trost betrogen, den
„Segen der Arbeit“, die Selbstvergessenheit im „Tagewerk“; ein
Solcher, der sich seines Daseins im Grunde schämt — vielleicht
herbergt er dazu ein paar kleine Laster — und andrerseits nicht
umhin kann, durch Bücher, auf die er kein Recht hat, oder
geistigere Gesellschaft als er verdauen kann, sich immer schlimmer
zu verwöhnen und eitel-reizbar zu machen: ein solcher durch und
durch vergifteter Mensch — denn Geist wird Gift, Bildung wird
Gift, Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift bei dergestalt
Missrathenen — geräth schliesslich in einen habituellen Zustand
der Rache, des Willens zur Rache… was
glaubt ihr wohl, dass er nöthig, unbedingt nöthig hat, um sich bei
sich selbst den Anschein von Ueberlegenheit über geistigere
Menschen, um sich die Lust der vollzogenen
Rache , wenigstens für seine Einbildung, zu schaffen?
Immer die Moralität ,
darauf darf man wetten, immer die grossen Moral-Worte, immer das
Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer den
Stoicismus der Gebärde (— wie gut versteckt der Stoicismus was
Einer nicht hat!…),
immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der
Milde, und wie alle die Idealisten-Mäntel heissen, unter denen die
unheilbaren Selbstverächter, auch die unheilbar Eiteln, herum
gehn. Man verstehe mich nicht falsch: aus solchen geborenen
Feinden des Geistes entsteht
mitunter jenes seltene Stück Menschthum, das vom Volke unter dem
Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird; aus solchen Menschen
kommen jene Unthiere der Moral her, welche Lärm machen, Geschichte
machen, — der heilige Augustin gehört zu ihnen. Die Furcht vor dem
Geist, die Rache am Geist — oh wie oft wurden diese triebkräftigen
Laster schon zur Wurzel von Tugenden! Ja zur
Tugend! — Und, unter uns gefragt, selbst jener
Philosophen-Anspruch auf Weisheit ,
der hier und da einmal auf Erden gemacht worden ist, der tollste
und unbescheidenste aller Ansprüche, — war er nicht immer bisher,
in Indien, wie in Griechenland, vor
Allem ein Versteck ? Mitunter vielleicht im
Gesichtspunkte der Erziehung, der so viele Lügen heiligt, als
zarte Rücksicht auf Werdende, Wachsende, auf Jünger, welche oft
durch den Glauben an die Person (durch einen Irrthum) gegen sich
selbst vertheidigt werden müssen… In den häufigeren Fällen aber
ein Versteck des Philosophen, hinter welches er sich aus Ermüdung,
Alter, Erkaltung, Verhärtung rettet, als Gefühl vom nahen Ende,
als Klugheit jenes Instinkts, den die Thiere vor dem Tode haben, —
sie gehen bei Seite, werden still, wählen die Einsamkeit,
verkriechen sich in Höhlen, werden weise …
Wie? Weisheit ein Versteck des Philosophen vor — dem Geiste? —
360.
Zwei Arten Ursache, die man verwechselt .
— Das erscheint mir als einer meiner wesentlichsten Schritte und
Fortschritte: ich lernte die Ursache des Handelns unterscheiden
von der Ursache des So- und So-Handelns, des In-dieser Richtung-,
Auf-dieses Ziel hin-Handelns. Die erste Art Ursache ist ein
Quantum von aufgestauter Kraft, welches darauf wartet, irgend wie,
irgend wozu verbraucht zu werden; die zweite Art ist dagegen etwas
an dieser Kraft gemessen ganz Unbedeutendes, ein kleiner Zufall
zumeist, gemäss dem jenes Quantum sich nunmehr auf Eine und
bestimmte Weise „auslöst“: das Streichholz im Verhältniss zur
Pulvertonne. Unter diese kleinen Zufälle und Streichhölzer rechne
ich alle sogenannten „Zwecke“, ebenso die noch viel sogenannteren
„Lebensberufe“: sie sind relativ beliebig, willkürlich, fast
gleichgültig im Verhältniss zu dem ungeheuren Quantum Kraft,
welches darnach drängt, wie gesagt, irgendwie aufgebraucht zu
werden. Man sieht es gemeinhin anders an: man ist gewohnt, gerade
in dem Ziele (Zwecke, Berufe u.s.w.) die treibende
Kraft zu sehn, gemäss einem uralten Irrthume, — aber er ist nur
die dirigirende Kraft,
man hat dabei den Steuermann und den Dampf verwechselt. Und noch
nicht einmal immer den Steuermann, die dirigirende Kraft… Ist das
„Ziel“, der „Zweck“ nicht oft genug nur ein beschönigender
Vorwand, eine nachträgliche Selbstverblendung der Eitelkeit, die
es nicht Wort haben will, dass das Schiff der Strömung folgt , in die es zufällig gerathen ist?
Dass es dorthin „will“, weil
es dorthin — muss ? Dass
es wohl eine Richtung hat, aber ganz und gar — keinen Steuermann?
— Man bedarf noch einer Kritik des Begriffs „Zweck“.
361.
Vom Probleme des Schauspielers . —
Das Problem des Schauspielers hat mich am längsten beunruhigt; ich
war im Ungewissen darüber (und bin es mitunter jetzt noch), ob man
nicht erst von da aus dem gefährlichen Begriff „Künstler“ — einem
mit unverzeihlicher Gutmüthigkeit bisher behandelten Begriff —
beikommen wird. Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der
Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten „Charakter“
bei Seite schiebend, überfluthend, mitunter auslöschend; das
innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen Schein hinein; ein Ueberschuss von
Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im
Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen wissen: Alles
das ist vielleicht nicht nur
der Schauspieler an sich?… Ein solcher Instinkt wird sich am
leichtesten bei Familien des niederen Volkes ausgebildet haben,
die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr
Leben durchsetzen mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer
Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer
wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich,
den Mantel nach jedem
Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister
jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen
Verstecken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt: bis zum
Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht aufgespeicherte
Vermögen herrisch, unvernünftig, unbändig wird, als Instinkt andre
Instinkte kommandiren lernt und den Schauspieler, den „Künstler“
erzeugt (den Possenreisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren,
Clown zunächst, auch den classischen Bedienten, den Gil Blas: denn
in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers und oft
genug sogar des „Genies“). Auch in höheren gesellschaftlichen
Bedingungen erwächst unter ähnlichem Drucke eine ähnliche Art
Mensch: nur wird dann meistens der schauspielerische Instinkt
durch einen andren Instinkt gerade noch im Zaume gehalten, zum
Beispiel bei dem „Diplomaten“, — ich würde übrigens glauben, dass
es einem guten Diplomaten jeder Zeit noch freistünde, auch einen
guten Bühnen-Schauspieler abzugeben, gesetzt, dass es ihm eben
„freistünde“. Was aber die Juden
betrifft, jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte
man in ihnen, diesem Gedankengange nach, von vornherein gleichsam
eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern
sehn, eine eigentliche Schauspieler-Brutstätte; und in der That
ist die Frage reichlich an der Zeit: welcher gute Schauspieler ist
heute nicht — Jude?
Auch der Jude als geborener Litterat, als der thatsächliche
Beherrscher der europäischen Presse übt diese seine Macht auf
Grund seiner schauspielerischen Fähigkeit aus: denn der Litterat
ist wesentlich Schauspieler, — er spielt nämlich den
„Sachkundigen“, den „Fachmann“. — Endlich die Frauen :
man denke über die ganze Geschichte der Frauen nach, — müssen sie nicht zu allererst und
-oberst Schauspielerinnen sein? Man höre die Aerzte, welche
Frauenzimmer hypnotisirt haben; zuletzt, man liebe sie, — man
lasse sich von ihnen „hypnotisiren“! Was kommt immer dabei heraus?
Dass sie „sich geben“, selbst noch, wenn sie — sich geben. … Das
Weib ist so artistisch…
362.
Unser Glaube an eine Vermännlichung Europa’s .
— Napoleon verdankt man’s (und ganz und gar nicht der
französischen Revolution, welche auf „Brüderlichkeit“ von Volk zu
Volk und allgemeinen blumichten Herzens-Austausch ausgewesen ist),
dass sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte auf einander
folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihres Gleichen haben,
kurz dass wir in’s klassische
Zeitalter des Kriegs getreten sind, des gelehrten und
zugleich volksthümlichen Kriegs im grössten Maassstabe (der
Mittel, der Begabungen, der Disciplin), auf den alle kommenden
Jahrtausende als auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und
Ehrfurcht zurückblicken werden: — denn die nationale Bewegung, aus
der diese Kriegs-Glorie herauswächst, ist nur der Gegen-choc gegen
Napoleon und wäre ohne Napoleon nicht vorhanden. Ihm also wird man
einmal es zurechnen dürfen, dass der Mann
in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister geworden
ist; vielleicht sogar über „das Weib“, das durch das Christenthum
und den schwärmerischen Geist des achtzehnten Jahrhunderts, noch
mehr durch die „modernen Ideen“, verhätschelt worden ist.
Napoleon, der in den modernen Ideen und geradewegs in der
Civilisation Etwas wie eine persönliche Feindin sah, hat mit
dieser Feindschaft sich als einer der grössten Fortsetzer der
Renaissance bewährt: er hat ein ganzes Stück antiken Wesens, das
entscheidende vielleicht, das Stück Granit, wieder heraufgebracht.
Und wer weiss, ob nicht dies Stück antiken Wesens auch endlich
wieder über die nationale Bewegung Herr werden wird und sich im
bejahenden Sinne zum Erben und
Fortsetzer Napoleon’s machen muss: — der das Eine Europa wollte,
wie man weiss, und dies als Herrin
der Erde . —
363.
Wie jedes Geschlecht über die Liebe sein
Vorurtheil hat . — Bei allem Zugeständnisse, welches
ich dem monogamischen Vorurtheile zu machen Willens bin, werde ich
doch niemals zulassen, dass man bei Mann und Weib von gleichen Rechten in der Liebe rede:
diese giebt es nicht. Das macht, Mann und Weib verstehen unter
Liebe Jeder etwas Anderes, — und es gehört mit unter die
Bedingungen der Liebe bei beiden Geschlechtern, dass das eine
Geschlecht beim andren Geschlechte nicht
das gleiche Gefühl, den gleichen Begriff „Liebe“ voraussetzt. Was
das Weib unter Liebe versteht, ist klar genug: vollkommene Hingabe
(nicht nur Hingebung) mit Seele und Leib, ohne jede Rücksicht,
jeden Vorbehalt, mit Scham und Schrecken vielmehr vor dem Gedanken
einer verklausulirten, an Bedingungen geknüpften Hingabe. In
dieser Abwesenheit von Bedingungen ist eben seine Liebe ein
Glaube : das Weib hat keinen
anderen. — Der Mann, wenn er ein Weib liebt, will
von ihm eben diese Liebe, ist folglich für seine Person selbst am
entferntesten von der Voraussetzung der weiblichen Liebe; gesetzt
aber, dass es auch Männer geben sollte, denen ihrerseits das
Verlangen nach vollkommener Hingebung nicht fremd ist, nun, so
sind das eben — keine Männer. Ein Mann, der liebt wie ein Weib,
wird damit Sklave; ein Weib aber, das liebt wie ein Weib, wird
damit ein vollkommeneres
Weib… Die Leidenschaft des Weibes, in ihrem unbedingten
Verzichtleisten auf eigne Rechte, hat gerade zur Voraussetzung,
dass auf der andren Seite nicht
ein gleiches Pathos, ein gleiches Verzichtleisten-Wollen besteht:
denn wenn Beide aus Liebe auf sich selbst verzichteten, so
entstünde daraus — nun, ich weiss nicht was, vielleicht ein leerer
Raum? — Das Weib will genommen, angenommen werden als Besitz, will
aufgehn in den Begriff „Besitz“, „besessen“; folglich will es
Einen, der nimmt , der
sich nicht selbst giebt und weggiebt, der umgekehrt vielmehr
gerade reicher an „sich“ gemacht werden soll — durch den Zuwachs
an Kraft, Glück, Glaube, als welchen ihm das Weib sich selbst
giebt. Das Weib giebt sich weg, der Mann nimmt hinzu — ich denke,
über diesen Natur-Gegensatz wird man durch keine socialen
Verträge, auch nicht durch den allerbesten Willen zur
Gerechtigkeit hinwegkommen: so wünschenswerth es sein mag, dass
man das Harte, Schreckliche, Räthselhafte, Unmoralische dieses
Antagonismus sich nicht beständig vor Augen stellt. Denn die
Liebe, ganz, gross, voll gedacht, ist Natur und als Natur in alle
Ewigkeit etwas „Unmoralisches“. — Die Treue
ist demgemäss in die Liebe des Weibes eingeschlossen, sie folgt
aus deren Definition; bei dem Manne kann
sie leicht im Gefolge seiner Liebe entstehn, etwa als Dankbarkeit
oder als Idiosynkrasie des Geschmacks und sogenannte
Wahlverwandtschaft, aber sie gehört nicht in’s Wesen
seiner Liebe, — und zwar so wenig, dass man beinahe mit einigem
Recht von einem natürlichen Widerspiel zwischen Liebe und Treue
beim Mann reden dürfte: welche Liebe eben ein Haben-Wollen ist und
nicht ein Verzichtleisten
und Weggeben; das Haben-Wollen geht aber jedes Mal mit dem
Haben zu Ende… Thatsächlich ist es
der feinere und argwöhnerischere Besitzdurst des Mannes, der dies
„Haben“ sich selten und spät eingesteht, was seine Liebe
fortbestehn macht; insofern ist es selbst möglich, dass sie noch
nach der Hingebung wächst, — er giebt nicht leicht zu, dass ein
Weib für ihn Nichts mehr „hinzugeben“ hätte. —
364.
Der Einsiedler redet . — Die Kunst,
mit Menschen umzugehn, beruht wesentlich auf der Geschicklichkeit
(die eine lange Uebung voraussetzt), eine Mahlzeit anzunehmen,
einzunehmen, zu deren Küche man kein Vertrauen hat. Gesetzt, dass
man mit einem Wolfshunger zu Tisch kommt, geht Alles leicht („die
schlechteste Gesellschaft lässt dich fühlen
—“, wie Mephistopheles sagt); aber man hat ihn nicht, diesen
Wolfshunger, wenn man ihn braucht! Ah, wie schwer sind die
Mitmenschen zu verdauen! Erstes Princip: wie bei einem Unglücke
seinen Muth einsetzen, tapfer zugreifen, sich selbst dabei
bewundern, seinen Widerwillen zwischen die Zähne nehmen, seinen
Ekel hinunter stopfen. Zweites Princip: seinen Mitmenschen
„verbessern“, zum Beispiel durch ein Lob, so dass er sein Glück
über sich selbst auszuschwitzen beginnt; oder einen Zipfel von
seinen guten oder „interessanten“ Eigenschaften fassen und daran
ziehn, bis man die ganze Tugend heraus hat und den Mitmenschen in
deren Falten unterstecken kann. Drittes Princip:
Selbsthypnotisirung. Sein Verkehrs-Objekt wie einen gläsernen
Knopf fixiren, bis man aufhört, Lust und Unlust dabei zu
empfinden, und unbemerkt einschläft, starr wird, Haltung bekommt:
ein Hausmittel aus der Ehe und Freundschaft, reichlich erprobt,
als unentbehrlich gepriesen, aber wissenschaftlich noch nicht
formulirt. Sein populärer Name ist — Geduld. —
365.
Der Einsiedler spricht noch einmal .
— Auch wir gehn mit „Menschen“ um, auch wir ziehn bescheiden das
Kleid an, in dem ( als das)
man uns kennt, achtet, sucht, und begeben uns damit in
Gesellschaft, das heisst unter Verkleidete, die es nicht heissen
wollen; auch wir machen es wie alle klugen Masken und setzen jeder
Neugierde, die nicht unser „Kleid“ betrifft, auf eine höfliche
Weise den Stuhl vor die Thüre. Es giebt aber auch andre Arten und
Kunststücke, um unter Menschen, mit Menschen „umzugehn“: zum
Beispiel als Gespenst, — was sehr rathsam ist, wenn man sie bald
los sein und fürchten machen will. Probe: man greift nach uns und
bekommt uns nicht zu fassen. Das erschreckt. Oder: wir kommen
durch eine geschlossne Thür. Oder: wenn alle Lichter ausgelöscht
sind. Oder: nachdem wir bereits gestorben sind. Letzteres ist das
Kunststück der posthumen
Menschen par excellence. („Was denkt ihr auch?“ sagte ein Solcher
einmal ungeduldig, „würden wir diese Fremde, Kälte, Grabesstille
um uns auszuhalten Lust haben, diese ganze unterirdische verborgne
stumme unentdeckte Einsamkeit, die bei uns Leben heisst und
ebensogut Tod heissen könnte, wenn wir nicht wüssten, was aus uns
wird , — und dass wir nach
dem Tode erst zu unserm
Leben kommen und lebendig werden, ah! sehr lebendig! wir posthumen
Menschen!“ —)
366.
Angesichts eines gelehrten Buches .
— Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den
Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen — unsre Gewohnheit ist, im
Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am
liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die
Wege nachdenklich werden. Unsre ersten Werthfragen, in Bezug auf
Buch, Mensch und Musik, lauten: „kann er gehen? mehr noch, kann er
tanzen?“… Wir lesen selten, wir lesen darum nicht schlechter — oh
wie rasch errathen wir’s, wie Einer auf seine Gedanken gekommen
ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem
Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt: oh wie rasch sind wir
auch mit seinem Buche fertig! Das geklemmte Eingeweide verräth
sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft,
Stubendecke, Stubenenge verräth. — Das waren meine Gefühle, als
ich eben ein rechtschaffnes gelehrtes Buch zuschlug, dankbar, sehr
dankbar, aber auch erleichtert… An dem Buche eines Gelehrten ist
fast immer auch etwas Drückendes, Gedrücktes: der „Specialist“
kommt irgendwo zum Vorschein, sein Eifer, sein Ernst, sein
Ingrimm, seine Ueberschätzung des Winkels, in dem er sitzt und
spinnt, sein Buckel, — jeder Specialist hat seinen Buckel. Ein
Gelehrten-Buch spiegelt immer auch eine krummgezogene Seele: jedes
Handwerk zieht krumm. Man sehe seine Freunde wieder, mit denen man
jung war, nachdem sie Besitz von ihrer Wissenschaft ergriffen
haben: ach, wie auch immer das Umgekehrte geschehn ist! Ach, wie
sie selbst auf immer nunmehr von ihr besetzt und besessen sind! In
ihre Ecke eingewachsen, verdrückt bis zur Unkenntlichkeit, unfrei,
um ihr Gleichgewicht gebracht, abgemagert und eckig überall, nur
an Einer Stelle ausbündig rund, — man ist bewegt und schweigt,
wenn man sie so wiederfindet. Jedes Handwerk, gesetzt selbst, dass
es einen goldenen Boden hat, hat über sich auch eine bleierne
Decke, die auf die Seele drückt und drückt, bis sie wunderlich und
krumm gedrückt ist. Daran ist Nichts zu ändern. Man glaube ja
nicht, dass es möglich sei, um diese Verunstaltung durch irgend
welche Künste der Erziehung herumzukommen. Jede Art Meisterschaft zahlt sich theuer auf
Erden, wo vielleicht Alles sich zu theuer zahlt, man ist Mann
seines Fachs um den Preis, auch das Opfer seines Fachs zu sein.
Aber ihr wollt es anders haben — „billiger“, vor Allem bequemer —
nicht wahr, meine Herren Zeitgenossen? Nun wohlan! Aber da bekommt
ihr sofort auch etwas Anderes, nämlich statt des Handwerkers und
Meisters den Litteraten, den gewandten „vielgewendeten“
Litteraten, dem freilich der Buckel fehlt — jenen abgerechnet, den
er vor euch macht, als der Ladendiener des Geistes und „Träger“
der Bildung —, den Litteraten, der eigentlich Nichts ist , aber fast Alles „repräsentirt“,
der den Sachkenner spielt und „vertritt“, der es auch in aller
Bescheidenheit auf sich nimmt, sich an dessen Stelle bezahlt,
geehrt, gefeiert zu machen .
— Nein, meine gelehrten Freunde! Ich segne euch auch noch um eures
Buckels willen! Und dafür, dass ihr gleich mir die Litteraten und
Bildungs-Schmarotzer verachtet! Und dass ihr nicht mit dem Geiste
Handel zu treiben wisst! Und lauter Meinungen habt, die nicht in
Geldeswerth auszudrücken sind! Und dass ihr Nichts vertretet, was
ihr nicht seid ! Dass
euer einziger Wille ist, Meister eures Handwerks zu werden, in
Ehrfurcht vor jeder Art Meisterschaft und Tüchtigkeit und mit
rücksichtslosester Ablehnung alles Scheinbaren, Halbächten,
Aufgeputzten, Virtuosenhaften, Demagogischen, Schauspielerischen
in litteris et artibus — alles Dessen, was in Hinsicht auf
unbedingte Probität von
Zucht und Vorschulung sich nicht vor euch ausweisen kann! (Selbst
Genie hilft über einen solchen Mangel nicht hinweg, so sehr es
auch über ihn hinwegzutäuschen versteht: das begreift man, wenn
man einmal unsern begabtesten Malern und Musikern aus der Nähe
zugesehn hat, — als welche Alle, fast ausnahmslos, sich durch eine
listige Erfindsamkeit von Manieren, von Nothbehelfen, selbst von
Principien künstlich und nachträglich den Anschein
jener Probität, jener Solidität von Schulung und Cultur anzueignen
wissen, freilich ohne damit sich selbst zu betrügen, ohne damit
ihr eignes schlechtes Gewissen dauernd mundtodt zu machen. Denn,
ihr wisst es doch? alle grossen modernen Künstler leiden am
schlechten Gewissen…)
367.
Wie man zuerst bei Kunstwerken zu unterscheiden
hat . — Alles, was gedacht, gedichtet, gemalt,
componirt, selbst gebaut und gebildet wird, gehört entweder zur
monologischen Kunst oder zur Kunst vor Zeugen. Unter letztere ist
auch noch jene scheinbare Monolog-Kunst einzurechnen, welche den
Glauben an Gott in sich schliesst, die ganze Lyrik des Gebets:
denn für einen Frommen giebt es noch keine Einsamkeit, — diese
Erfindung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. Ich kenne keinen
tieferen Unterschied der gesammten Optik eines Künstlers als
diesen: ob er vom Auge des Zeugen aus nach seinem werdenden
Kunstwerke (nach „sich“ — ) hinblickt oder aber „die Welt
vergessen hat“: wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst
ist, — sie ruht auf dem Vergessen ,
sie ist die Musik des Vergessens.
368.
Der Cyniker redet . — Meine
Einwände gegen die Musik Wagner’s sind physiologische Einwände:
wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden?
Meine „Thatsache“ ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn
diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuss gegen sie böse wird und revoltirt
— er hat das Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch, er verlangt von
der Musik vorerst die Entzückungen, welche in gutem
Gehen, Schreiten, Springen, Tanzen liegen. — Protestirt aber nicht
auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? mein Eingeweide? Werde
ich nicht unvermerkt heiser dabei? — Und so frage ich mich: was
will eigentlich mein ganzer Leib
von der Musik überhaupt? Ich glaube, seine Erleichterung :
wie als ob alle animalischen Funktionen durch leichte kühne
ausgelassne selbstgewisse Rhythmen beschleunigt werden sollten;
wie als ob das eherne, das bleierne Leben durch goldene gute
zärtliche Harmonien vergoldet werden sollte. Meine Schwermuth will
in den Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit
ausruhn: dazu brauche ich Musik. Was geht mich das Drama an! Was
die Krämpfe seiner sittlichen Ekstasen, an denen das „Volk“ seine
Genugthuung hat! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus des
Schauspielers!… Man erräth, ich bin wesentlich antitheatralisch
geartet, — aber Wagner war umgekehrt wesentlich Theatermensch und
Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch
noch als Musiker!… Und, beiläufig gesagt: wenn es Wagner’s Theorie
gewesen ist „das Drama ist der Zweck, die Musik ist immer nur
dessen Mittel“, — seine Praxis
dagegen war, von Anfang bis zu Ende, „die Attitüde ist der Zweck,
das Drama, auch die Musik ist immer nur ihr
Mittel“. Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung,
Verinnerlichung der dramatischen Gebärde und
Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das Wagnerische Drama nur eine
Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitüden! Er hatte, neben
allen anderen Instinkten, die commandirenden Instinkte eines
grossen Schauspielers, in Allem und Jedem: und, wie gesagt, auch
als Musiker. — Dies machte ich einstmals einem rechtschaffenen
Wagnerianer klar, mit einiger Mühe; und ich hatte Gründe, noch
hinzuzufügen „seien Sie doch ein wenig ehrlicher gegen sich
selbst: wir sind ja nicht im Theater! Im Theater ist man nur als
Masse ehrlich; als Einzelner lügt man, belügt man sich. Man lässt
sich selbst zu Hause, wenn man in’s Theater geht, man verzichtet
auf das Recht der eignen Zunge und Wahl, auf seinen Geschmack,
selbst auf seine Tapferkeit, wie man sie zwischen den eignen vier
Wänden gegen Gott und Mensch hat und übt. In das Theater bringt
Niemand die feinsten Sinne seiner Kunst mit, auch der Künstler
nicht, der für das Theater arbeitet: da ist man Volk, Publikum,
Heerde, Weib, Pharisäer, Stimmvieh, Demokrat, Nächster, Mitmensch,
da unterliegt noch das persönlichste Gewissen dem nivellirenden
Zauber der „grössten Zahl“, da wirkt die Dummheit als Lüsternheit
und Contagion, da regiert der „Nachbar“, da wird
man Nachbar…“ (Ich vergass zu erzählen, was mir mein aufgeklärter
Wagnerianer auf die physiologischen Einwände entgegnete: „Sie sind
also eigentlich nur nicht gesund genug für unsere Musik?“ —)
369.
Unser Nebeneinander . — Müssen wir
es uns nicht eingestehn, wir Künstler, dass es eine unheimliche
Verschiedenheit in uns giebt, dass unser Geschmack und andrerseits
unsre schöpferische Kraft auf eine wunderliche Weise für sich
stehn, für sich stehn bleiben und ein Wachsthum für sich haben, —
ich will sagen ganz verschiedne Grade und tempi von Alt, Jung,
Reif, Mürbe, Faul? So dass zum Beispiel ein Musiker zeitlebens
Dinge schaffen könnte, die dem, was sein verwöhntes Zuhörer-Ohr,
Zuhörer-Herz schätzt, schmeckt, vorzieht, widersprechen :
— er brauchte noch nicht einmal um diesen Widerspruch zu wissen!
Man kann, wie eine fast peinlich-regelmässige Erfahrung zeigt,
leicht mit seinem Geschmack über den Geschmack seiner Kraft
hinauswachsen, selbst ohne dass letztere dadurch gelähmt und am
Hervorbringen gehindert würde; es kann aber auch etwas Umgekehrtes
geschehn, — und dies gerade ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit
der Künstler lenken möchte. Ein Beständig-Schaffender, eine
„Mutter“ von Mensch, im grossen Sinne des Wortes, ein Solcher, der
von Nichts als von Schwangerschaften und Kindsbetten seines
Geistes mehr weiss und hört, der gar keine Zeit hat, sich und sein
Werk zu bedenken, zu vergleichen, der auch nicht mehr Willens ist,
seinen Geschmack noch zu üben, und ihn einfach vergisst, nämlich
stehn, liegen oder fallen lässt, — vielleicht bringt ein Solcher
endlich Werke hervor, denen er mit
seinem Urtheile längst nicht mehr gewachsen ist : so
dass er über sie und sich Dummheiten sagt, — sagt und denkt. Dies
scheint mir bei fruchtbaren Künstlern beinahe das normale
Verhältniss, — Niemand kennt ein Kind schlechter als seine Eltern
— und es gilt sogar, um ein ungeheueres Beispiel zu nehmen, in
Bezug auf die ganze griechische Dichter- und Künstler-Welt: sie
hat niemals „gewusst“, was sie gethan hat…
370.
Was ist Romantik? — Man erinnert
sich vielleicht, zum Mindesten unter meinen Freunden, dass ich
Anfangs mit einigen dicken Irrthümern und Ueberschätzungen und
jedenfalls als Hoffender
auf diese moderne Welt losgegangen bin. Ich verstand — wer weiss,
auf welche persönlichen Erfahrungen hin? — den philosophischen
Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts, wie als ob er das
Symptom von höherer Kraft des Gedankens, von verwegenerer
Tapferkeit, von siegreicherer Fülle
des Lebens sei, als diese dem achtzehnten Jahrhundert, dem
Zeitalter Hume’s, Kant’s, Condillac’s und der Sensualisten, zu
eigen gewesen sind: so dass mir die tragische Erkenntniss wie der
eigentliche Luxus
unsrer Cultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste,
gefährlichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres
Ueberreichthums, als ihr erlaubter
Luxus. Insgleichen deutete ich mir die deutsche Musik zurecht zum
Ausdruck einer dionysischen Mächtigkeit der deutschen Seele: in
ihr glaubte ich das Erdbeben zu hören, mit dem eine von Alters her
aufgestaute Urkraft sich endlich Luft macht — gleichgültig
dagegen, ob Alles, was sonst Cultur heisst, dabei in’s Zittern
geräth. Man sieht, ich verkannte damals, sowohl am philosophischen
Pessimismus, wie an der deutschen Musik, das was ihren
eigentlichen Charakter ausmacht — ihre Romantik .
Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und
Hülfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehn
werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es giebt
zweierlei Leidende, einmal die an der Ueberfülle
des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst
wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das
Leben, — und sodann die an der Verarmung
des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer,
Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen, oder
aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem
Doppel-Bedürfnisse der Letzteren
entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen, ihnen
entsprach (und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard Wagner,
um jene berühmtesten und ausdrücklichsten Romantiker zu nennen,
welche damals von mir missverstanden
wurden — übrigens nicht
zu ihrem Nachtheile, wie man mir in aller Billigkeit zugestehn
darf. Der Reichste an Lebensfülle, der dionysische Gott und
Mensch, kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und
Fragwürdigen gönnen, sondern selbst die fürchterliche That und
jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung; bei ihm
erscheint das Böse, Unsinnige und Hässliche gleichsam erlaubt, in
Folge eines Ueberschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften,
welcher aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen im
Stande ist. Umgekehrt würde der Leidendste, Lebensärmste am
meisten die Milde, Friedlichkeit, Güte nöthig haben, im Denken und
im Handeln, womöglich einen Gott, der ganz eigentlich ein Gott für
Kranke, ein „Heiland“ wäre; ebenso auch die Logik, die
begriffliche Verständlichkeit des Daseins — denn die Logik
beruhigt, giebt Vertrauen —, kurz eine gewisse warme
furchtabwehrende Enge und Einschliessung in optimistische
Horizonte. Dergestalt lernte ich allmählich Epikur begreifen, den
Gegensatz eines dionysischen Pessimisten, ebenfalls den
„Christen“, der in der That nur eine Art Epikureer und, gleich
jenem, wesentlich Romantiker ist, — und mein Blick schärfte sich
immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste Form des
Rückschlusses , in der die meisten
Fehler gemacht werden — des Rückschlusses vom Werk auf den
Urheber, von der That auf den Thäter, vom Ideal auf Den, der es
nöthig hat , von jeder Denk- und
Werthungsweise auf das dahinter kommandirende Bedürfniss .
— In Hinsicht auf alle ästhetischen Werthe bediene ich mich jetzt
dieser Hauptunterscheidung: ich frage, in jedem einzelnen Falle,
„ist hier der Hunger oder der Ueberfluss schöpferisch geworden?“
Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu
empfehlen scheinen — sie ist bei weitem augenscheinlicher —
nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen nach Starrmachen,
Verewigen, nach Sein
die Ursache des Schaffens ist, oder aber das Verlangen nach
Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach
Werden . Aber beide Arten des
Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig,
und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht,
wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung , Wechsel, Werden kann der
Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein
terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort „dionysisch“), aber es
kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden,
Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss , weil ihn das Bestehende, ja alles
Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt — man sehe sich, um
diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der
Wille zum Verewigen
bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann einmal
aus Dankbarkeit und Liebe kommen: — eine Kunst dieses Ursprungs
wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit
Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und
einen homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge
breitend. Er kann aber auch jener tyrannische Wille eines
Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten sein, welcher das
Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie
seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln
möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch,
dass er ihnen sein
Bild, das Bild seiner
Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der
romantische Pessimismus in seiner
ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauer’sche
Willens-Philosophie, sei es als Wagner’sche Musik: — der
romantische Pessimismus, das letzte grosse
Ereigniss im Schicksal unsrer Cultur. (Dass es noch einen ganz
anderen Pessimismus geben könne ,
einen klassischen — diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als
unablöslich von mir, als mein proprium und ipsissimum: nur dass
meinen Ohren das Wort „klassisch“ widersteht, es ist bei weitem zu
abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen
Pessimismus der Zukunft — denn er kommt! ich sehe ihn kommen! —
den dionysischen
Pessimismus.)
371.
Wir Unverständlichen . — Haben wir
uns je darüber beklagt, missverstanden, verkannt, verwechselt,
verleumdet, verhört und überhört zu werden? Eben das ist unser
Loos — oh für lange noch! sagen wir, um bescheiden zu sein, bis
1901 —, es ist auch unsre Auszeichnung; wir würden uns selbst
nicht genug in Ehren halten, wenn wir’s anders wünschten. Man
verwechselt uns — das macht, wir selbst wachsen, wir wechseln
fortwährend, wir stossen alte Rinden ab, wir häuten uns mit jedem
Frühjahre noch, wir werden immer jünger, zukünftiger, höher,
stärker, wir treiben unsre Wurzeln immer mächtiger in die Tiefe —
in’s Böse —, während wir zugleich den Himmel immer liebevoller,
immer breiter umarmen und sein Licht immer durstiger mit allen
unsren Zweigen und Blättern in uns hineinsaugen. Wir wachsen wie
Bäume — das ist schwer zu verstehn, wie alles Leben! — nicht an
Einer Stelle, sondern überall, nicht in Einer Richtung, sondern
ebenso hinauf, hinaus wie hinein und hinunter, — unsre Kraft
treibt zugleich in Stamm, Aesten und Wurzeln, es steht uns gar
nicht mehr frei, irgend Etwas einzeln zu thun, irgend etwas
Einzelnes noch zu sein …
So ist es unser Loos, wie gesagt: wir wachsen in die Höhe ; und gesetzt, es wäre selbst unser
Verhängniss — denn wir wohnen den Blitzen immer näher! — wohlan,
wir halten es darum nicht weniger in Ehren, es bleibt Das, was wir
nicht theilen, nicht mittheilen wollen, das Verhängniss der Höhe,
unser Verhängniss…
372.
Warum wir keine Idealisten sind . —
Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen: haben wir —
diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind heute
allesammt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der
Philosophie, nicht der
Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik… Jene hingegen meinten,
durch die Sinne aus ihrer
Welt, dem kalten Reiche der „Ideen“, auf ein gefährliches
südlicheres Eiland weggelockt zu werden: woselbst, wie sie
fürchteten, ihre Philosophen-Tugenden wie Schnee in der Sonne
wegschmelzen würden. „Wachs in den Ohren“ war damals beinahe
Bedingung des Philosophirens; ein ächter Philosoph hörte das Leben
nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er leugnete
die Musik des Lebens, — es ist ein alter Philosophen-Aberglaube,
dass alle Musik Sirenen-Musik ist. — Nun möchten wir heute geneigt
sein, gerade umgekehrt zu urtheilen (was an sich noch eben so
falsch sein könnte): nämlich dass die Ideen
schlimmere Verführerinnen seien als die Sinne, mit allem ihrem
kalten anämischen Anscheine und nicht einmal trotz diesem
Anscheine, — sie lebten immer vom „Blute“ des Philosophen, sie
zehrten immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will, auch
sein „Herz“. Diese alten Philosophen waren herzlos: Philosophiren
war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen
Gestalten, wie noch der Spinoza’s, etwas tief Änigmatisches und
Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier
abspielt, das beständige Blässer-werden
—, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht
im Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin,
welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und
Geklapper übrig behält, übrig lässt? — ich meine Kategorien,
Formeln, Worte (denn,
man vergebe mir, das was von Spinoza übrig
blieb , amor intellectualis dei, ist ein Geklapper,
nichts mehr! was ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut
fehlt?…) In summa: aller philosophische Idealismus war bisher
Etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Plato’s, die
Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die Furcht
vor übermächtigen
Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. — Vielleicht
sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Plato’s Idealismus
nöthig zu haben ? Und wir fürchten
die Sinne nicht, weil — —
373.
„Wissenschaft“ als Vorurtheil . —
Es folgt aus den Gesetzen der Rangordnung, dass Gelehrte, insofern
sie dem geistigen Mittelstande zugehören, die eigentlichen
grossen Probleme und Fragezeichen
gar nicht in Sicht bekommen dürfen: zudem reicht ihr Muth und
ebenso ihr Blick nicht bis dahin, — vor Allem, ihr Bedürfniss, das
sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und Wünschen, es
möchte so und so
beschaffen sein, ihr Fürchten und Hoffen kommt zu bald schon zur
Ruhe, zur Befriedigung. Was zum Beispiel den pedantischen
Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen macht und
einen Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wünschbarkeit
ziehen heisst, jene endliche Versöhnung von „Egoismus und
Altruismus“, von der er fabelt, das macht Unsereinem beinahe Ekel:
— eine Menschheit mit solchen Spencer’schen Perspektiven als
letzten Perspektiven schiene uns der Verachtung, der Vernichtung
werth! Aber schon dass
Etwas als höchste Hoffnung von ihm empfunden werden muss, was
Anderen bloss als widerliche Möglichkeit gilt und gelten darf, ist
ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn vermocht
hätte… Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt so
viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben
an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen
Werthbegriffen ihr Äquivalent und Maass haben soll, an eine „Welt
der Wahrheit“, der man mit Hülfe unsrer viereckigen kleinen
Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte — wie? wollen
wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer
Rechenknechts-Uebung und Stubenhockerei für Mathematiker
herabwürdigen lassen? Man soll es vor Allem nicht seines
vieldeutigen Charakters entkleiden
wollen: das fordert der gute
Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor Allem,
was über euren Horizont geht! Dass allein eine Welt-Interpretation
im Rechte sei, bei der ihr
zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich in eurem
Sinne (— ihr meint eigentlich mechanistisch ?)
geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen,
Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das
ist eine Plumpheit und Naivetät, gesetzt, dass es keine
Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. Wäre es umgekehrt nicht
recht wahrscheinlich, dass sich gerade das Oberflächlichste und
Aeusserlichste vom Dasein — sein Scheinbarstes, seine Haut und
Versinnlichung — am Ersten fassen liesse? vielleicht sogar allein
fassen liesse? Eine „wissenschaftliche“ Welt-Interpretation, wie
ihr sie versteht, könnte folglich immer noch eine der dümmsten , das heisst sinnärmsten aller
möglichen Welt-Interpretationen sein: dies den Herrn Mechanikern
in’s Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen
laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den
ersten und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke
alles Dasein aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell
mechanische Welt wäre eine essentiell sinnlose
Welt! Gesetzt, man schätzte den Werth
einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in
Formeln gebracht werden könne — wie absurd wäre eine solche
„wissenschaftliche“ Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr
begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem,
was eigentlich an ihr „Musik“ ist!…
374.
Unser neues „Unendliches“ . — Wie
weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob
es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein
ohne Auslegung, ohne „Sinn“ eben zum „Unsinn“ wird, ob,
andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes
Dasein ist — das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und
peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des
Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt
bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen
perspektivischen Formen zu sehn und nur
in ihnen zu sehn. Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine
hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre
Arten Intellekt und Perspektive geben könnte :
zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder
abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine
andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und
Wirkung gegeben wäre). Aber ich denke, wir sind heute zum
Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer
Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus
Perspektiven haben dürfe .
Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „unendlich“ geworden:
insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie
unendliche Interpretationen in sich schliesst .
Noch einmal fasst uns der grosse Schauder — aber wer hätte wohl
Lust, dieses Ungeheure
von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu
vergöttlichen? Und etwa das
Unbekannte fürderhin als „ den
Unbekannten“ anzubeten? Ach, es sind zu viele ungöttliche
Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte
eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der
Interpretation, — unsre eigne menschliche, allzumenschliche
selbst, die wir kennen…
375.
Warum wir Epikureer scheinen . —
Wir sind vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen letzte
Ueberzeugungen; unser Misstrauen liegt auf der Lauer gegen die
Bezauberungen und Gewissens-Ueberlistungen, welche in jedem
starken Glauben, jedem unbedingten Ja und Nein liegen: wie erklärt
sich das? Vielleicht, dass man darin zu einem guten Theil die
Behutsamkeit des „gebrannten Kindes“, des enttäuschten Idealisten
sehn darf, zu einem andern und bessern Theile aber auch die
frohlockende Neugierde eines ehemaligen Eckenstehers, der durch
seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist und nunmehr im
Gegensatz der Ecke schwelgt und schwärmt, im Unbegrenzten, im
„Freien an sich“. Damit bildet sich ein nahezu epikurischer
Erkenntniss-Hang aus, welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge
nicht leichten Kaufs fahren lassen will; insgleichen ein
Widerwille gegen die grossen Moral-Worte und -Gebärden, ein
Geschmack, der alle plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt und
sich seiner Uebung in Vorbehalten mit Stolz bewusst ist. Denn
Das macht unsern Stolz aus, dieses
leichte Zügel-Straffziehn bei unsrem vorwärts stürmenden Drange
nach Gewissheit, diese Selbstbeherrschung des Reiters auf seinen
wildesten Ritten: nach wie vor nämlich haben wir tolle feurige
Thiere unter uns, und wenn wir zögern, so ist es am wenigsten wohl
die Gefahr, die uns zögern macht…
376.
Unsre langsamen Zeiten . — So
empfinden alle Künstler und Menschen der „Werke“, die mütterliche
Art Mensch: immer glauben sie, bei jedem Abschnitte ihres Lebens —
den ein Werk jedes Mal abschneidet —, schon am Ziele selbst zu
sein, immer würden sie den Tod geduldig entgegen nehmen, mit dem
Gefühl: „dazu sind wir reif“. Dies ist nicht der Ausdruck der
Ermüdung, — vielmehr der einer gewissen herbstlichen Sonnigkeit
und Milde, welche jedes Mal das Werk selbst, das Reifgewordensein
eines Werks, bei seinem Urheber hinterlässt. Da verlangsamt sich
das tempo des Lebens und wird dick und honigflüssig — bis zu
langen Fermaten, bis zum Glauben an die
lange Fermate…
377.
Wir Heimatlosen . — Es fehlt unter
den Europäern von Heute nicht an solchen, die ein Recht haben,
sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen,
ihnen gerade sei meine geheime Weisheit und gaya scienza
ausdrücklich an’s Herz gelegt! Denn ihr Loos ist hart, ihre
Hoffnung ungewiss, es ist ein Kunststück, ihnen einen Trost zu
erfinden — aber was hilft es! Wir Kinder der Zukunft, wie
vermöchten wir in diesem Heute zu
Hause zu sein! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin
Einer sich sogar in dieser zerbrechlichen zerbrochnen
Uebergangszeit noch heimisch fühlen könnte; was aber deren
„Realitäten“ betrifft, so glauben wir nicht daran, dass sie
Dauer haben. Das Eis, das heute
noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Thauwind weht, wir
selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudünne
„Realitäten“ aufbricht… Wir „conserviren“ Nichts, wir wollen auch
in keine Vergangenheit zurück, wir sind durchaus nicht „liberal“,
wir arbeiten nicht für den „Fortschritt“, wir brauchen unser Ohr
nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen des Marktes zu verstopfen —
das, was sie singen, „gleiche Rechte“, „freie Gesellschaft“,
„keine Herrn mehr und keine Knechte“, das lockt uns nicht! — wir
halten es schlechterdings nicht für wünschenswerth, dass das Reich
der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden gegründet werde (weil es
unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmässigung
und Chineserei sein würde), wir freuen uns an Allen, die gleich
uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht
abfinden, einfangen, versöhnen und verschneiden lassen, wir
rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken über die
Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei —
denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus „Mensch“ gehört
auch eine neue Art Versklavung hinzu — nicht wahr? mit Alle dem
müssen wir schlecht in einem Zeitalter zu Hause sein, welches die
Ehre in Anspruch zu nehmen liebt, das menschlichste, mildeste,
rechtlichste Zeitalter zu heissen, das die Sonne bisher gesehen
hat? Schlimm genug, dass wir gerade bei diesen schönen Worten um
so hässlichere Hintergedanken haben! Dass wir darin nur den
Ausdruck — auch die Maskerade — der tiefen Schwächung, der
Ermüdung, des Alters, der absinkenden Kraft sehen! Was kann uns
daran gelegen sein, mit was für Flittern ein Kranker seine
Schwäche aufputzt! Mag er sie als seine Tugend
zur Schau tragen — es unterliegt ja keinem Zweifel, dass die
Schwäche mild, ach so mild, so rechtlich, so unoffensiv, so
„menschlich“ macht! — Die „Religion des Mitleidens“, zu der man
uns überreden möchte — oh wir kennen die hysterischen Männlein und
Weiblein genug, welche heute gerade diese Religion zum Schleier
und Aufputz nöthig haben! Wir sind keine Humanitarier; wir würden
uns nie zu erlauben wagen, von unsrer „Liebe zur Menschheit“ zu
reden — dazu ist Unsereins nicht Schauspieler genug! Oder nicht
Saint-Simonist genug, nicht Franzose genug. Man muss schon mit
einem gallischen
Uebermaass erotischer Reizbarkeit und verliebter Ungeduld behaftet
sein, um sich in ehrlicher Weise sogar noch der Menschheit mit
seiner Brunst zu nähern… Der Menschheit! Gab es je noch ein
scheusslicheres altes Weib unter allen alten Weibern? (— es müsste
denn etwa „die Wahrheit“ sein: eine Frage für Philosophen). Nein,
wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind wir aber auch
lange nicht „deutsch“ genug, wie heute das Wort „deutsch“ gang und
gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu
reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung
Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk
gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir
zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet,
zu „gereist“: wir ziehen es bei Weitem vor, auf Bergen zu leben,
abseits, „unzeitgemäss“, in vergangnen oder kommenden
Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wuth ersparen, zu der
wir uns verurtheilt wüssten als Augenzeugen einer Politik, die den
deutschen Geist öde macht, indem sie ihn eitel macht, und
kleine Politik ausserdem ist: — hat
sie nicht nöthig, damit ihre eigne Schöpfung nicht sofort wieder
auseinanderfällt, sie zwischen zwei Todhasse zu pflanzen?
muss sie nicht die Verewigung der
Kleinstaaterei Europa’s wollen?… Wir Heimatlosen, wir sind der
Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als „moderne
Menschen“, und folglich wenig versucht, an jener verlognen
Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht theilzunehmen, welche sich
heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau
trägt und die bei dem Volke des „historischen Sinns“ zwiefach
falsch und unanständig anmuthet. Wir sind, mit Einem Worte — und
es soll unser Ehrenwort sein! — gute
Europäer , die Erben Europa’s, die reichen,
überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von
Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem
Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir
aus ihm gewachsen sind, weil unsre
Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des
Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand
und Vaterland zum Opfer gebracht haben. Wir — thun desgleichen.
Wofür doch? Für unsern Unglauben? Für jede Art Unglauben? Nein,
das wisst ihr besser, meine Freunde! Das verborgne Ja in euch ist stärker als alle Neins
und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn
ihr auf’s Meer müsst, ihr Auswanderer, so zwingt dazu auch euch —
ein Glaube !…
378.
„Und werden wieder hell“ . — Wir
Freigebigen und Reichen des Geistes, die wir gleich offnen Brunnen
an der Strasse stehn und es Niemandem wehren mögen, dass er aus
uns schöpft: wir wissen uns leider nicht zu wehren, wo wir es
möchten, wir können durch Nichts verhindern, dass man uns
trübt , finster macht, — dass die
Zeit, in der wir leben, ihr „Zeitlichstes“, dass deren schmutzige
Vögel ihren Unrath, die Knaben ihren Krimskrams und erschöpfte, an
uns ausruhende Wandrer ihr kleines und grosses Elend in uns
werfen. Aber wir werden es machen, wie wir es immer gemacht haben:
wir nehmen, was man auch in uns wirft, hinab in unsre Tiefe — denn
wir sind tief, wir vergessen nicht — und
werden wieder hell …
379.
Zwischenrede des Narren . — Das ist
kein Misanthrop, der dies Buch geschrieben hat: der Menschenhass
bezahlt sich heute zu theuer. Um zu hassen, wie man ehemals
den Menschen gehasst hat,
timonisch, im Ganzen, ohne Abzug, aus vollem Herzen, aus der
ganzen Liebe des Hasses
— dazu müsste man auf’s Verachten Verzicht leisten: — und wie viel
feine Freude, wie viel Geduld, wie viel Gütigkeit selbst verdanken
wir gerade unsrem Verachten! Zudem sind wir damit die
„Auserwählten Gottes“: das feine Verachten ist unser Geschmack und
Vorrecht, unsre Kunst, unsre Tugend vielleicht, wir Modernsten
unter den Modernen!… Der Hass dagegen stellt gleich, stellt
gegenüber, im Hass ist Ehre, endlich: im Hass ist Furcht , ein grosser guter Theil Furcht.
Wir Furchtlosen aber, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters,
wir kennen unsern Vortheil gut genug, um gerade als die
Geistigeren in Hinsicht auf diese Zeit ohne Furcht zu leben. Man
wird uns schwerlich köpfen, einsperren, verbannen; man wird nicht
einmal unsre Bücher verbieten und verbrennen. Das Zeitalter liebt
den Geist, es liebt uns und hat uns nöthig, selbst wenn wir es ihm
zu verstehn geben müssten, dass wir in der Verachtung Künstler
sind; dass uns jeder Umgang mit Menschen einen leichten Schauder
macht; dass wir mit aller unsrer Milde, Geduld,
Menschenfreundlichkeit, Höflichkeit unsre Nase nicht überreden
können, von ihrem Vorurtheile abzustehn, welches sie gegen die
Nähe eines Menschen hat; dass wir die Natur lieben, je weniger
menschlich es in ihr zugeht, und die Kunst, wenn
sie die Flucht des Künstlers vor dem Menschen oder der Spott des
Künstlers über den Menschen oder der Spott des Künstlers über sich
selber ist…
380.
„Der Wanderer“ redet . — Um unsrer
europäischen Moralität einmal aus der Ferne ansichtig zu werden,
um sie an anderen, früheren oder kommenden, Moralitäten zu messen,
dazu muss man es machen, wie es ein Wanderer macht, der wissen
will, wie hoch die Thürme einer Stadt sind: dazu verlässt
er die Stadt. „Gedanken über moralische Vorurtheile“, falls sie
nicht Vorurtheile über Vorurtheile sein sollen, setzen eine
Stellung ausserhalb der
Moral voraus, irgend ein Jenseits von Gut und Böse zu dem man
steigen, klettern, fliegen muss, — und, im gegebenen Falle,
jedenfalls ein Jenseits von unsrem
Gut und Böse, eine Freiheit von allem „Europa“, letzteres als eine
Summe von kommandirenden Werthurtheilen verstanden, welche uns in
Fleisch und Blut übergegangen sind. Dass man gerade dorthinaus,
dorthinauf will , ist
vielleicht eine kleine Tollheit, ein absonderliches unvernünftiges
„du musst“ — denn auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien
des „unfreien Willens“ —: die Frage ist, ob man wirklich
dorthinauf kann . Dies
mag an vielfachen Bedingungen hängen, in der Hauptsache ist es die
Frage darnach, wie leicht oder wie schwer wir sind, das Problem
unsrer „spezifischen Schwere“. Man muss sehr
leicht sein, um seinen Willen zur Erkenntniss bis in
eine solche Ferne und gleichsam über seine Zeit hinaus zu treiben,
um sich zum Ueberblick über Jahrtausende Augen zu schaffen und
noch dazu reinen Himmel in diesen Augen! Man muss sich von Vielem
losgebunden haben, was gerade uns Europäer von Heute drückt,
hemmt, niederhält, schwer macht. Der Mensch eines solchen
Jenseits, der die obersten Werthmaasse seiner Zeit selbst in Sicht
bekommen will, hat dazu vorerst nöthig, diese Zeit in sich selbst
zu „überwinden“ — es ist die Probe seiner Kraft — und folglich
nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen bisherigen Widerwillen
und Widerspruch gegen
diese Zeit, sein Leiden an dieser Zeit, seine Zeit-Ungemässheit,
seine Romantik …
381.
Zur Frage der Verständlichkeit . —
Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern
ebenso gewiss auch nicht
verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein
Buch, wenn irgend Jemand es unverständlich findet: vielleicht
gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers, — er wollte nicht von „irgend Jemand“
verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt
sich, wenn er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er
sie wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen“ seine Schranken.
Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie
halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten „den
Eingang“, das Verständniss, wie gesagt, — während sie Denen die
Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind. Und dass ich
es unter uns sage und in meinem Falle, — ich will mich weder durch
meine Unwissenheit, noch durch die Munterkeit meines Temperaments
verhindern lassen, euch
verständlich zu sein, meine Freunde: durch die Munterkeit nicht,
wie sehr sie auch mich zwingt, einer Sache geschwind beizukommen,
um ihr überhaupt beizukommen. Denn ich halte es mit tiefen
Problemen, wie mit einem kalten Bade — schnell hinein, schnell
hinaus. Dass man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug
hinunter komme, ist der Aberglaube
der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie reden ohne
Erfahrung. Oh! die grosse Kälte macht geschwind! — Und nebenbei
gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon
unverstanden und unerkannt, dass sie nur im Fluge berührt,
angeblickt, angeblitzt wird? Muss man durchaus erst auf ihr fest
sitzen? auf ihr wie auf einem Ei gebrütet haben? Diu noctuque
incubando, wie Newton von sich selbst sagte? Zum Mindesten giebt
es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren
man nicht anders habhaft wird, als plötzlich, — die man überraschen oder lassen muss… Endlich
hat meine Kürze noch einen andern Werth: innerhalb solcher Fragen,
wie sie mich beschäftigen, muss ich Vieles kurz sagen, damit es
noch kürzer gehört wird. Man hat nämlich als Immoralist zu
verhüten, dass man die Unschuld verdirbt, ich meine die Esel und
die alten Jungfern beiderlei Geschlechts, die Nichts vom Leben
haben als ihre Unschuld; mehr noch, meine Schriften sollen sie
begeistern, erheben, zur Tugend ermuthigen. Ich wüsste Nichts auf
Erden, was lustiger wäre als begeisterte alte Esel zu sehn und
Jungfern, welche durch die süssen Gefühle der Tugend erregt
werden: und „das habe ich gesehn“ — also sprach Zarathustra. So
viel in Absicht der Kürze; schlimmer steht es mit meiner
Unwissenheit, deren ich selbst vor mir selber kein Hehl habe. Es
giebt Stunden, wo ich mich ihrer schäme; freilich ebenfalls
Stunden, wo ich mich dieser Scham schäme. Vielleicht sind wir
Philosophen allesammt heute zum Wissen schlimm gestellt: die
Wissenschaft wächst, die Gelehrtesten von uns sind nahe daran zu
entdecken, dass sie zu wenig wissen. Aber schlimmer wäre es immer
noch, wenn es anders stünde, — wenn wir zu
viel wüssten; unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst,
uns nicht selber zu verwechseln. Wir sind
etwas Anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehn ist, dass
wir auch, unter Anderem, gelehrt sind. Wir haben andre
Bedürfnisse, ein andres Wachsthum, eine andre Verdauung: wir
brauchen mehr, wir brauchen auch weniger. Wie viel ein Geist zu
seiner Ernährung nöthig hat, dafür giebt es keine Formel; ist aber
sein Geschmack auf Unabhängigkeit gerichtet, auf schnelles Kommen
und Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die
Geschwindesten gewachsen sind, so lebt er lieber frei mit schmaler
Kost, als unfrei und gestopft. Nicht Fett, sondern die grösste
Geschmeidigkeit und Kraft ist das, was ein guter Tänzer von seiner
Nahrung will, — und ich wüsste nicht, was der Geist eines
Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz
nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine
einzige Frömmigkeit, sein „Gottesdienst“…
382.
Die grosse Gesundheit . — Wir
Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer
noch unbewiesenen Zukunft — wir bedürfen zu einem neuen Zwecke
auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer
stärkeren gewitzteren zäheren verwegneren lustigeren, als alle
Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach dürstet, den
ganzen Umfang der bisherigen Werthe und Wünschbarkeiten erlebt und
alle Küsten dieses idealischen „Mittelmeers“ umschifft zu haben,
wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrung wissen will, wie es
einem Eroberer und Entdecker des Ideals zu Muthe ist, insgleichen
einem Künstler, einem Heiligen, einem Gesetzgeber, einem Weisen,
einem Gelehrten, einem Frommen, einem Wahrsager, einem
Göttlich-Abseitigen alten Stils: der hat dazu zuallererst Eins
nöthig, die grosse Gesundheit
— eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig
noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder
preisgiebt, preisgeben muss!… Und nun, nachdem wir lange
dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, muthiger
vielleicht, als klug ist, und oft genug schiffbrüchig und zu
Schaden gekommen, aber, wie gesagt, gesünder als man es uns
erlauben möchte, gefährlich-gesund, immer wieder gesund, — will es
uns scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes
Land vor uns haben, dessen Grenzen noch Niemand abgesehn hat, ein
Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt
so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und
Göttlichem, dass unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst
ausser sich gerathen sind — ach, dass wir nunmehr durch Nichts
mehr zu ersättigen sind! Wie könnten wir uns, nach solchen
Ausblicken und mit einem solchen Heisshunger in Gewissen und
Wissen, noch am gegenwärtigen
Menschen genügen lassen? Schlimm genug: aber es ist
unvermeidlich, dass wir seinen würdigsten Zielen und Hoffnungen
nur mit einem übel aufrecht erhaltenen Ernste zusehn und
vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein andres Ideal läuft vor
uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal,
zu dem wir Niemanden überreden möchten, weil wir Niemandem so
leicht das Recht darauf
zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt
und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was
bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das
Höchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits
so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie
Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde;
das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und
Wohlwollens, das oft genug unmenschlich
erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen
bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde,
Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste
unfreiwillige Parodie hinstellt — und mit dem, trotzalledem,
vielleicht der grosse Ernst
erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das
Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie
beginnt …
383.
Epilog . — Aber indem ich zum
Schluss dieses düstere Fragezeichen langsam, langsam hinmale und
eben noch Willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten
Lesens — oh was für vergessene und unbekannte Tugenden! — in’s
Gedächtniss zu rufen, begegnet mir’s, dass um mich das
boshafteste, munterste, koboldigste Lachen laut wird: die Geister
meines Buches selber fallen über mich her, ziehn mich an den Ohren
und rufen mich zur Ordnung. „Wir halten es nicht mehr aus — rufen
sie mir zu —; fort, fort mit dieser rabenschwarzen Musik. Ist es
nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner weicher Grund und
Rasen, das Königreich des Tanzes? Gab es je eine bessere Stunde,
um fröhlich zu sein? Wer singt uns ein Lied, ein Vormittagslied,
so sonnig, so leicht, so flügge, dass es die Grillen nicht verscheucht, — dass es die
Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen? Und lieber
noch einen einfältigen bäurischen Dudelsack als solche
geheimnissvolle Laute, solche Unkenrufe, Grabesstimmen und
Murmelthierpfiffe, mit denen Sie uns in Ihrer Wildniss bisher
regalirt haben, mein Herr Einsiedler und Zukunftsmusikant! Nein!
Nicht solche Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und
freudenvollere!“ — Gefällt es euch so ,
meine ungeduldigen Freunde? Wohlan! Wer wäre euch nicht gern zu
Willen? Mein Dudelsack wartet schon, meine Kehle auch — sie mag
ein wenig rauh klingen, nehmt fürlieb! dafür sind wir im Gebirge.
Aber was ihr zu hören bekommt, ist wenigstens neu; und wenn ihr’s
nicht versteht, wenn ihr den Sänger
missversteht, was liegt daran! Das ist nun einmal „des Sängers
Fluch“. Um so deutlicher könnt ihr seine Musik und Weise hören, um
so besser auch nach seiner Pfeife — tanzen. Wollt
ihr das?…
Lieder des Prinzen Vogelfrei.
[...]
Voorwoord bij de tweede druk
1.
Diesem Buche thut vielleicht nicht nur Eine Vorrede noth; und
zuletzt bliebe immer noch der Zweifel bestehn, ob Jemand, ohne
etwas Aehnliches erlebt zu haben, dem Erlebnisse
dieses Buchs durch Vorreden näher gebracht werden kann. Es scheint
in der Sprache des Thauwinds geschrieben: es ist Uebermuth,
Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig
ebenso an die Nähe des Winters als an den Sieg
über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht
schon gekommen ist… Die Dankbarkeit strömt fortwährend aus, als ob
eben das Unerwartetste geschehn sei, die Dankbarkeit eines
Genesenden, — denn die Genesung
war dieses Unerwartetste. „Fröhliche Wissenschaft“: das bedeutet
die Saturnalien eines Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke
geduldig widerstanden hat — geduldig, streng, kalt, ohne sich zu
unterwerfen, aber ohne Hoffnung —, und der jetzt mit Einem Male
von der Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf Gesundheit,
von der Trunkenheit der
Genesung. Was Wunders, dass dabei viel Unvernünftiges und
Närrisches an’s Licht kommt, viel muthwillige Zärtlichkeit, selbst
auf Probleme verschwendet, die ein stachlichtes Fell haben und
nicht darnach angethan sind, geliebkost und gelockt zu werden.
Dies ganze Buch ist eben Nichts als eine Lustbarkeit nach langer
Entbehrung und Ohnmacht, das Frohlocken der wiederkehrenden Kraft,
des neu erwachten Glaubens an ein Morgen und Uebermorgen, des
plötzlichen Gefühls und Vorgefühls von Zukunft, von nahen
Abenteuern, von wieder offenen Meeren, von wieder erlaubten,
wieder geglaubten Zielen. Und was lag nunmehr Alles hinter mir!
Dieses Stück Wüste, Erschöpfung, Unglaube, Vereisung mitten in der
Jugend, dieses eingeschaltete Greisenthum an unrechter Stelle,
diese Tyrannei des Schmerzes überboten noch durch die Tyrannei des
Stolzes, der die Folgerungen
des Schmerzes ablehnte — und Folgerungen sind Tröstungen —, diese
radikale Vereinsamung als Nothwehr gegen eine krankhaft
hellseherisch gewordene Menschenverachtung, diese grundsätzliche
Einschränkung auf das Bittere, Herbe, Wehethuende der Erkenntniss,
wie sie der Ekel
verordnete, der aus einer unvorsichtigen geistigen Diät und
Verwöhnung — man heisst sie Romantik — allmählich gewachsen war —,
oh wer mir das Alles nachfühlen könnte! Wer es aber könnte, würde
mir sicher noch mehr zu Gute halten als etwas Thorheit,
Ausgelassenheit, „fröhliche Wissenschaft“, — zum Beispiel die
Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal beigegeben sind —
Lieder, in denen sich ein Dichter auf eine schwer verzeihliche
Weise über alle Dichter lustig macht. — Ach, es sind nicht nur die
Dichter und ihre schönen „lyrischen Gefühle“, an denen dieser
Wieder-Erstandene seine Bosheit auslassen muss: wer weiss, was für
ein Opfer er sich sucht, was für ein Unthier von parodischem Stoff
ihn in Kürze reizen wird? „Incipit tragoedia “
— heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs:
man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und
Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia ,
es ist kein Zweifel…
1 Dit boek is wellicht gebaat bij meer dan één
voorwoord ; en dan nog blijft de twijfel bestaan of iemand, die niet
iets soortgelijks heeft beleefd, door een voorwoord werkelijk
dichter bij de ervaring van dit boek kan worden gebracht. Het lijkt
geschreven in de taal van de dooiwind: er zit overmoed in, onrust,
tegenspraak, aprilweer — zodat men voortdurend herinnerd wordt aan
de nabijheid van de winter, maar ook aan de overwinning op de
winter, die komt, komen móét, misschien al gekomen is… Er stroomt
een voortdurende dankbaarheid doorheen, alsof juist het
onverwachtste is gebeurd — de dankbaarheid van een herstellende,
want dat herstel was het onverwachtste. “Vrolijke wetenschap” — dat
betekent: de saturnaliën van een geest die lange tijd onder een
verschrikkelijke druk heeft gestaan, die geduldig heeft volgehouden
— geduldig, streng, koel, zonder zich te onderwerpen, maar ook
zonder hoop —, en die nu plotseling wordt overvallen door hoop: de
hoop op gezondheid, de dronkenschap van het herstel. Geen wonder dat
daarbij veel onredelijks en dwaasheden aan het licht komen, veel
speelse tederheid, zelfs verspild aan problemen met een stekelig
vel, die er niet bepaald om vragen om gestreeld of verleid te
worden. Dit hele boek is niets anders dan een feestviering na lange
ontbering en machteloosheid — het juichen van teruggekeerde kracht,
van een herboren geloof in morgen en overmorgen, van een plotseling
gevoel en voorgevoel van toekomst, van nabije avonturen, van opnieuw
geopende zeeën, van opnieuw toegestane, opnieuw geloofde doelen. En
wat lag er nu allemaal achter mij! Dat stuk woestijn, die
uitputting, dat ongeloof, die verijzing midden in de jeugd; die
ingelaste ouderdom op de verkeerde plaats; die tirannie van de pijn,
nog overtroffen door de tirannie van de trots die de conclusies van
de pijn afwees — en conclusies zijn troost; die radicale eenzaamheid
als zelfverdediging tegen een ziekelijk helderziende
mensenverachting; die principiële beperking tot het bittere, harde,
pijnlijke van het kennen, zoals die werd opgelegd door de walging
die gegroeid was uit een onvoorzichtige geestelijke voeding en
verwenning — men noemt dat romantiek. O, wie zou dit alles kunnen
navoelen! Wie het echter zou kunnen, zou mij vast meer vergeven dan
wat dwaasheid en uitgelatenheid, meer dan wat “vrolijke wetenschap”
— bijvoorbeeld dat handjevol liederen die ditmaal aan het boek zijn
toegevoegd: liederen waarin een dichter zich op onvergeeflijke wijze
vrolijk maakt over alle dichters. Ach, het zijn niet alleen de
dichters en hun fraaie “lyrische gevoelens” op wie deze herrezen
geest zijn boosaardigheid moet botvieren: wie weet welk offer hij
nog zoekt, welk monsterlijk parodisch onderwerp hem binnenkort zal
prikkelen? “Incipit tragoedia” — zo luidt het slot van
dit bedenkelijk-onbedenkelijke boek: wees op uw hoede! Er kondigt
zich iets onverbiddelijk slechts en boosaardigs aan — incipit
parodia — daar bestaat geen twijfel over…
2.
— Aber lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns an, dass
Herr Nietzsche wieder gesund wurde?… Ein Psychologe kennt wenig so
anziehende Fragen, wie die nach dem Verhältniss von Gesundheit und
Philosophie, und für den Fall, dass er selber krank wird, bringt
er seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in seine Krankheit.
Man hat nämlich, vorausgesetzt, dass man eine Person ist,
nothwendig auch die Philosophie seiner Person: doch giebt es da
einen erheblichen Unterschied. Bei dem Einen sind es seine Mängel,
welche philosophiren, bei dem Andern seine Reichthümer und Kräfte.
Ersterer hat seine Philosophie nöthig ,
sei es als Halt, Beruhigung, Arznei, Erlösung, Erhebung,
Selbstentfremdung; bei Letzterem ist sie nur ein schöner Luxus, im
besten Falle die Wollust einer triumphirenden Dankbarkeit, welche
sich zuletzt noch in kosmischen Majuskeln an den Himmel der
Begriffe schreiben muss. Im andren, gewöhnlicheren Falle aber,
wenn die Nothstände Philosophie treiben, wie bei allen kranken
Denkern — und vielleicht überwiegen die kranken Denker in der
Geschichte der Philosophie —: was wird aus dem Gedanken selbst
werden, der unter den Druck
der Krankheit gebracht wird? Dies ist die Frage, die den
Psychologen angeht: und hier ist das Experiment möglich. Nicht
anders als es ein Reisender macht, der sich vorsetzt, zu einer
bestimmten Stunde aufzuwachen und sich dann ruhig dem Schlafe
überlässt: so ergeben wir Philosophen, gesetzt, dass wir krank
werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit — wir
machen gleichsam vor uns die Augen zu. Und wie Jener weiss, dass
irgend Etwas nicht
schläft, irgend Etwas die Stunden abzählt und ihn aufwecken wird,
so wissen auch wir, dass der entscheidende Augenblick uns wach
finden wird, — dass dann Etwas hervorspringt und den Geist
auf der That ertappt, ich meine auf
der Schwäche oder Umkehr oder Ergebung oder Verhärtung oder
Verdüsterung und wie alle die krankhaften Zustände des Geistes
heissen, welche in gesunden Tagen den Stolz
des Geistes wider sich haben (denn es bleibt bei dem alten Reime
„der stolze Geist, der Pfau, das Pferd sind die drei stölzesten
Thier’ auf der Erd“ —). Man lernt nach einer derartigen
Selbst-Befragung, Selbst-Versuchung, mit einem feineren Auge nach
Allem, was überhaupt bisher philosophirt worden ist, hinsehn; man
erräth besser als vorher die unwillkürlichen Abwege, Seitengassen,
Ruhestellen, Sonnen stellen
des Gedankens, auf die leidende Denker gerade als Leidende geführt
und verführt werden, man weiss nunmehr, wohin unbewusst der kranke
Leib und sein Bedürfniss
den Geist drängt, stösst, lockt — nach Sonne, Stille, Milde,
Geduld, Arznei, Labsal in irgend einem Sinne. Jede Philosophie,
welche den Frieden höher stellt als den Krieg, jede Ethik mit
einer negativen Fassung des Begriffs Glück, jede Metaphysik und
Physik, welche ein Finale kennt, einen Endzustand irgend welcher
Art, jedes vorwiegend aesthetische oder religiöse Verlangen nach
einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb erlaubt zu fragen,
ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen
inspirirt hat. Die unbewusste Verkleidung physiologischer
Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen,
Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit, — und oft genug habe
ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie
bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Missverständniss des Leibes gewesen
ist. Hinter den höchsten Werthurtheilen, von denen bisher die
Geschichte des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse
der leiblichen Beschaffenheit verborgen, sei es von Einzelnen, sei
es von Ständen oder ganzen Rassen. Man darf alle jene kühnen
Tollheiten der Metaphysik, sonderlich deren Antworten auf die
Frage nach dem Werth
des Daseins, zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehn;
und wenn derartigen Welt-Bejahungen oder Welt-Verneinungen in
Bausch und Bogen, wissenschaftlich gemessen, nicht ein Korn von
Bedeutung innewohnt, so geben sie doch dem Historiker und
Psychologen um so werthvollere Winke, als Symptome, wie gesagt,
des Leibes, seines Gerathens und Missrathens, seiner Fülle,
Mächtigkeit, Selbstherrlichkeit in der Geschichte, oder aber
seiner Hemmungen, Ermüdungen, Verarmungen, seines Vorgefühls vom
Ende, seines Willens zum Ende. Ich erwarte immer noch, dass ein
philosophischer Arzt im
ausnahmsweisen Sinne des Wortes — ein Solcher, der dem Problem der
Gesammt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse, Menschheit nachzugehn
hat — einmal den Muth haben wird, meinen Verdacht auf die Spitze
zu bringen und den Satz zu wagen: bei allem Philosophiren handelte
es sich bisher gar nicht um „Wahrheit“, sondern um etwas Anderes,
sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben…
2 –Maar laten we meneer Nietzsche er even
buiten houden : wat gaat het ons aan dat hij weer gezond is
geworden? Voor een psycholoog is er nauwelijks een vraag zo
intrigerend als die naar de verhouding tussen gezondheid en
filosofie. En als hij zelf ziek wordt, neemt hij zijn hele
wetenschappelijke nieuwsgierigheid met zich mee in die ziekte. Want
wie een persoon is, heeft noodzakelijk ook de filosofie van die
persoon. Alleen ligt daar een belangrijk verschil: bij de één zijn
het zijn tekorten die filosoferen, bij de ander zijn het zijn
rijkdommen en krachten. De eerste hééft zijn filosofie nodig — als
steun, als rustmiddel, als medicijn, verlossing, verheffing, of
zelfs als middel tot zelfvervreemding. Voor de tweede daarentegen is
zij slechts een prachtige luxe — in het beste geval het genot van
een triomferende dankbaarheid, die zich ten slotte nog in kosmische
hoofdletters aan de hemel der begrippen moet schrijven. Maar in het
andere, gewonere geval — wanneer het de noodtoestand is die aanzet
tot filosoferen, zoals bij alle zieke denkers (en misschien hebben
de zieke denkers wel de overhand in de geschiedenis van de
filosofie) — wat gebeurt er dan met het denken zelf, dat onder de
druk van ziekte komt te staan? Dat is de vraag die de psycholoog
aangaat. En hier is een experiment mogelijk. Zoals een reiziger die
zich voorneemt op een bepaald uur wakker te worden en zich dan
rustig overgeeft aan de slaap, zo geven ook wij filosofen ons,
wanneer we ziek worden, tijdelijk met lichaam en ziel over aan de
ziekte — we doen als het ware de ogen voor onszelf dicht. En zoals
die reiziger weet dat er iets in hem niet slaapt, iets dat de uren
telt en hem zal wekken, zo weten ook wij dat het beslissende
ogenblik ons wakker zal vinden — dat er dan iets tevoorschijn zal
springen en de geest op heterdaad zal betrappen: op zwakte, of
ommekeer, of overgave, of verharding, of vertroebeling, of hoe men
al die ziekelijke toestanden van de geest ook noemen wil, die in
gezonde dagen de trots van de geest tegen zich hebben. (Want het
blijft bij het oude rijmpje: “de trotse geest, de pauw, het paard —
de drie trotsen van de aard.”) Na zo’n zelfondervraging, zo’n
zelfbeproeving, leert men met een fijner oog kijken naar al het
denken dat ooit gefilosofeerd is. Men raadt beter dan voorheen de
onwillekeurige dwaalwegen, zijpaden, rustplaatsen, zonnige plekjes
van het denken, waarheen lijdende denkers, juist als lijdenden,
werden geleid en verleid. Men weet voortaan waarheen het zieke
lichaam en zijn behoeften de geest onbewust dringen, stoten, lokken
— naar zon, stilte, zachtheid, geduld, genezing, balsem, in welke
vorm dan ook. Elke filosofie die de vrede hoger stelt dan de strijd,
elke ethiek die geluk negatief opvat, elke metafysica of fysica die
een finale, een eindtoestand van welke aard dan ook kent, elk
overwegend esthetisch of religieus verlangen naar een “afzijdig”,
“aan gene zijde”, “buiten”, of “boven” — bij al die systemen mag men
zich afvragen of het niet de ziekte is geweest die de filosoof
geïnspireerd heeft. De onbewuste vermomming van fysiologische
behoeften in de gewaden van het objectieve, het ideale, het
zuiver-geestelijke gaat tot het huiveringwekkende toe. En vaak
genoeg heb ik mij afgevraagd of, in grote lijnen bezien, de
filosofie tot nu toe überhaupt niet slechts een uitleg van het
lichaam is geweest — en een misverstand van het lichaam. Achter de
hoogste waardenoordelen die de geschiedenis van het denken tot nu
toe hebben geleid, schuilen misverstanden over de lichamelijke
gesteldheid — hetzij van individuen, hetzij van standen of hele
rassen. Men mag al die stoutmoedige waanzinnigheden van de
metafysica — vooral haar antwoorden op de vraag naar de waarde van
het bestaan — allereerst beschouwen als symptomen van bepaalde
lichamen. En ook al heeft zulke alomvattende wereldbevestiging of
wereldverwerping, wetenschappelijk bezien, niet het minste gewicht,
toch geven zij de historicus en psycholoog des te waardevollere
aanwijzingen: als symptomen — van het lichaam, van zijn welslagen of
mislukken, van zijn overvloed, kracht en heerschappij in de
geschiedenis, of juist van zijn remmingen, vermoeidheden, verarming,
zijn voorgevoel van het einde, zijn wil tot het einde. Ik wacht nog
altijd op de komst van een filosofische arts in uitzonderlijke zin —
iemand die het probleem van de algehele gezondheid van volk, tijd,
ras, mensheid durft aan te pakken —, iemand die de moed zal hebben
mijn vermoeden op de spits te drijven en te stellen: bij al het
filosoferen ging het tot nu toe helemaal niet om de “waarheid”, maar
om iets anders — laten we zeggen: om gezondheid, toekomst, groei,
macht, leven. ..
3.
— Man erräth, dass ich nicht mit Undankbarkeit von jener Zeit
schweren Siechthums Abschied nehmen möchte, deren Gewinn auch heute
noch nicht für mich ausgeschöpft ist: so wie ich mir gut genug
bewusst bin, was ich überhaupt in meiner wechselreichen Gesundheit
vor allen Vierschrötigen des Geistes voraus habe. Ein Philosoph, der
den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder
macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er
kann eben nicht anders als seinen
Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, —
diese Kunst der Transfiguration ist
eben Philosophie. Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen
Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch
weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. Wir sind keine
denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit
kalt gestellten Eingeweiden, — wir müssen beständig unsre Gedanken
aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben,
was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen,
Schicksal, Verhängniss in uns haben. Leben — das heisst für uns
Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln,
auch Alles, was uns trifft, wir können
gar nicht anders. Und was die Krankheit angeht: würden wir nicht
fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich
ist? Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes,
als der Lehrmeister des grossen
Verdachtes , der aus jedem U ein X macht, ein ächtes
rechtes X, das heisst den vorletzten Buchstaben vor dem letzten…
Erst der grosse Schmerz, jener lange langsame Schmerz, der sich
Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt
werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen
und alles Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde,
Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit
gesetzt haben, von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher
Schmerz „verbessert“ —; aber ich weiss, dass er uns vertieft . Sei es nun, dass wir ihm
unsern Stolz, unsern Hohn, unsre Willenskraft entgegenstellen
lernen und es dem Indianer gleichthun, der, wie schlimm auch
gepeinigt, sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge
schadlos hält; sei es, dass wir uns vor dem Schmerz in jenes
orientalische Nichts zurückziehn — man heisst es Nirvana —, in das
stumme, starre, taube Sich-Ergeben, Sich-Vergessen,
Sich-Auslöschen: man kommt aus solchen langen gefährlichen
Uebungen der Herrschaft über sich als ein andrer Mensch heraus,
mit einigen Fragezeichen mehr, vor Allem mit dem Willen ,
fürderhin mehr, tiefer, strenger, härter, böser, stiller zu fragen
als man bis dahin gefragt hatte. Das Vertrauen zum Leben ist
dahin: das Leben selbst wurde zum Problem .
— Möge man ja nicht glauben, dass Einer damit nothwendig zum
Düsterling geworden sei! Selbst die Liebe zum Leben ist noch
möglich, — nur liebt man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe,
das uns Zweifel macht… Der Reiz alles Problematischen, die Freude
am X ist aber bei solchen geistigeren, vergeistigteren Menschen zu
gross, als dass diese Freude nicht immer wieder wie eine helle
Gluth über alle Noth des Problematischen, über alle Gefahr der
Unsicherheit, selbst über die Eifersucht des Liebenden
zusammenschlüge. Wir kennen ein neues Glück…
3 – Je raadt al, dat ik niet ondankbaar
afscheid wil nemen van die tijd van zwaar ziek-zijn, waarvan de
winst ook nu nog niet uitgeput is; net zo goed als ik me maar al te
goed bewust ben wat ik, met mijn wisselende gezondheid, vóór heb op
al die logge geesten. Een filosoof die door vele toestanden van
gezondheid is heengegaan – en er telkens opnieuw doorheen gaat – is
ook door evenzovele filosofieën gegaan. Hij kan eenvoudig niet
anders dan telkens zijn toestand omzetten in een geestelijke
gestalte, in een vorm en een verte - deze kunst van de
transfiguratie is de filosofie . Wij filosofen kunnen het
ons niet veroorloven om, zoals het volk, ziel en lichaam te scheiden
– en nog minder om ziel en geest te scheiden. Wij zijn geen denkende
kikkers, geen objectiverende en registrerende apparaten met
afgekoelde ingewanden; wij moeten onophoudelijk onze gedachten baren
uit onze pijn, en hun moederlijk alles meegeven wat wij aan bloed,
hart, vuur, lust, hartstocht, kwelling, geweten, lot en noodlot in
ons dragen. Leven – dat betekent voor ons: al wat wij zijn
onophoudelijk omzetten in licht en vlam, ook al wat ons overkomt –
wij kunnen eenvoudig niet anders. En wat de ziekte betreft: zouden
we niet bijna in de verleiding komen te vragen of zij ons überhaupt
wel kan worden ontzegd? Pas de grote pijn is de laatste bevrijder
van de geest – de leermeester van het grote wantrouwen, die van
iedere U een X maakt, een echte, volwaardige X: dat wil zeggen, de
voorlaatste letter vóór de laatste... Pas de grote pijn, die lange,
trage pijn die de tijd neemt, waarin wij als het ware met nat hout
worden verbrand, dwingt ons filosofen om af te dalen in onze laatste
diepte, en alles van ons af te werpen wat aan vertrouwen,
goedmoedigheid, versluiering, mildheid, middelmaat – kortom,
menselijkheid – in ons huisde. Ik betwijfel of zo’n pijn ons
“verbeterd” – maar ik weet dat hij ons verdiept. Of we nu leren onze
trots, onze spot, onze wilskracht ertegen in te zetten en het doen
als de Indiaan die, hoe hevig ook gepijnigd, zich op zijn beul
wreekt met de kwaadaardigheid van zijn tong; of we ons terugtrekken
voor de pijn in dat oosterse niets – men noemt het Nirwana – in een
stom, star, doof zich-overgeven, zich-vergeten, zich-uitblussen: uit
zulke lange en gevaarlijke oefeningen in zelfbeheersing komt men als
een ander mens tevoorschijn, met enkele vraagtekens meer, en vooral
met de wil voortaan meer, dieper, strenger, harder, kwaadaardiger,
stiller te vragen dan men tot dan toe had gedaan. Het vertrouwen in
het leven is weg: het leven zelf is tot een probleem geworden. Maar
men moet vooral niet denken dat iemand daardoor noodzakelijk somber
wordt! Zelfs liefde voor het leven blijft mogelijk – alleen bemint
men anders. Het is de liefde voor een vrouw die ons doet twijfelen…
De bekoring van al het problematische, de vreugde aan het X, is bij
zulke meer geestelijke, vergeestelijkte mensen te groot om niet
telkens weer als een heldere gloed op te laaien over alle nood van
het problematische heen, over alle gevaren van onzekerheid, zelfs
over de jaloezie van de liefhebbende heen. Wij kennen een nieuw
soort geluk…
4.
Zuletzt, dass das Wesentlichste nicht ungesagt bleibe: man
kommt aus solchen Abgründen, aus solchem schweren Siechthum, auch
aus dem Siechthum des schweren Verdachts, neugeboren
zurück, gehäutet, kitzlicher, boshafter, mit einem feineren
Geschmacke für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten
Dinge, mit lustigeren Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren
Unschuld in der Freude, kindlicher zugleich und hundert Mal
raffinirter als man jemals vorher gewesen war. Oh wie Einem
nunmehr der Genuss zuwider ist, der grobe dumpfe braune Genuss,
wie ihn sonst die Geniessenden, unsre „Gebildeten“, unsre Reichen
und Regierenden verstehn! Wie boshaft wir nunmehr dem grossen
Jahrmarkts-Bumbum zuhören, mit dem sich der „gebildete Mensch“ und
Grossstädter heute durch Kunst, Buch und Musik zu „geistigen
Genüssen“, unter Mithülfe geistiger Getränke, nothzüchtigen lässt!
Wie uns jetzt der Theater-Schrei der Leidenschaft in den Ohren weh
thut, wie unsrem Geschmacke der ganze romantische Aufruhr und
Sinnen-Wirrwarr, den der gebildete Pöbel liebt, sammt seinen
Aspirationen nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen fremd
geworden ist! Nein, wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch
brauchen, so ist es eine andre
Kunst — eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich
unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle
Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor Allem: eine
Kunst für Künstler, nur für Künstler! Wir verstehn uns hinterdrein
besser auf Das, was dazu
zuerst noth thut, die Heiterkeit, jede
Heiterkeit , meine Freunde! auch als Künstler —: ich
möchte es beweisen. Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir
Wissenden: oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut
nicht -zu-wissen, als Künstler! Und
was unsere Zukunft betrifft: man wird uns schwerlich wieder auf
den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge finden, welche Nachts
Tempel unsicher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was
mit guten Gründen verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken,
in helles Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte Geschmack,
dieser Wille zur Wahrheit, zur „Wahrheit um jeden Preis“, dieser
Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit — ist uns verleidet:
dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu
tief… Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit
bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt,
um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der
Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem
dabei sein, nicht Alles verstehn und „wissen“ wolle. „Ist es wahr,
dass der liebe Gott überall zugegen ist?“ fragte ein kleines
Mädchen seine Mutter: „aber ich finde das unanständig“ — ein Wink
für Philosophen! Man sollte die Scham
besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und
bunte Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit
ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen?
Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?… Oh diese
Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben :
dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut
stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an
Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen
waren oberflächlich — aus Tiefe ! Und kommen wir nicht eben darauf
zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und
gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und
uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus hinabgesehn haben? Sind wir nicht eben
darin — Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte? Eben
darum — Künstler?
Ruta bei Genua, im Herbst
1886.
4 Tot slot, opdat het wezenlijkste niet
onuitgesproken blijft: uit zulke afgronden komt men terug als
herboren — ontdaan van zijn huid, gevoeliger, venijniger, met een
verfijndere smaak voor vreugde, met een subtieler tong voor alles
wat goed is, met speelsere zinnen, met een tweede, gevaarlijker
onschuld in het genieten — kindelijker en tegelijk honderdmaal
geraffineerder dan men ooit tevoren was. O, hoe ons nu die grove,
doffe, bruine genieting tegenstaat — dat plompe genot dat de
genieters zelf, onze “ontwikkelden”, onze rijken en heersenden, als
verheven beschouwen! Hoe boosaardig luisteren wij nu naar het grote
kermisgebonk waarmee de “beschaafde mens”, de stedeling van vandaag,
zich onder hulp van geestverheffende drankjes door kunst, boeken en
muziek laat opzwepen tot “geestelijk genot”! Hoe zeer doet ons nu de
theatrale schreeuw van de hartstocht pijn in de oren; hoe vreemd is
ons geworden de hele romantische opschudding en zinnelijke
verwarring die het ontwikkelde gepeupel aanbidt — met zijn hang naar
het verhevene, het gezwollene, het zonderlinge! Nee, als wij
genezenden überhaupt nog een kunst nodig hebben, dan is het een
andere kunst: een spottende, lichte, vluchtige, goddelijk
onbezwaarde, goddelijk kunstmatige kunst, die als een heldere vlam
omhoogschiet in een wolkenloze hemel! Bovenal: een kunst voor
kunstenaars — alleen voor kunstenaars! Wij weten intussen beter wat
daartoe allereerst nodig is: de vrolijkheid, alle vrolijkheid, mijn
vrienden! Ook als kunstenaars — laat mij het bewijzen. Wij weten nu
te veel, wij wetenden — o, hoe hebben wij leren vergeten, leren
niet-weten, goed niet-weten, als kunstenaars! En wat onze toekomst
betreft: men zal ons moeilijk nog terugvinden op de wegen van die
Egyptische jongelingen die ’s nachts tempels binnenslopen, beelden
omhelsden en koste wat kost alles wilden ontbloten, onthullen, in
het volle licht stellen wat met goede reden bedekt wordt gehouden.
Nee — die slechte smaak, die wil tot waarheid, die “waarheid om elke
prijs”, die jeugdige waanzin van de waarheidshonger — die zijn we
moe. We zijn daar te ervaren, te ernstig, te vrolijk, te geschroeid,
te diep voor geworden. Wij geloven niet langer dat de waarheid nog
waarheid blijft wanneer men haar de sluier aftrekt; we hebben te
lang geleefd om dat nog te geloven. Vandaag geldt voor ons: het
hoort tot de welvoeglijkheid dat men niet alles naakt wil zien, niet
overal bij wil zijn, niet alles wil begrijpen of “weten”. “Is het
waar dat de lieve God overal aanwezig is?” vroeg een klein meisje
aan haar moeder — “maar dat vind ik onbehoorlijk!” Een wenk voor
filosofen! Men zou beter de schaamte eren waarmee de natuur zich
achter raadselen en bont gekleurde onzekerheden verbergt. Misschien
is de waarheid een vrouw — en heeft zij haar redenen om haar redenen
niet te tonen? Misschien heet zij, om het Grieks te zeggen, Baubo?…
O, die Grieken! Zij verstonden de kunst te leven — dat vereist:
moedig bij de oppervlakte, de plooi, de huid blijven staan; de
schijn aanbidden, geloven in vormen, in klanken, in woorden, in de
hele Olympus van de schijn! Deze Grieken waren oppervlakkig — uit diepte
(diepzinnigheid) ! En keren wij, waaghalzen van de geest,
die de hoogste en gevaarlijkste spits van het hedendaagse denken
hebben beklommen en vandaar om ons heen en (op hen) neergekeken
hebben — keren wij niet juist dáárheen terug? Zijn wij niet
precies daarin weer Grieken geworden — aanbidders van vorm, van
toon, van woord — en juist daarom: kunstenaars?
Ruta bij Genua, herfst 1886